Die 9. GWB-Novelle
Andreas Mundt, Präsident des Bundeskartellamtes
Am 09. 06. 2017 ist die 9. GWB-Novelle in Kraft getreten, die den kartellrechtlichen Rahmen modernisiert und in das digitale Zeitalter transferiert.
Ursprung der Novelle war die Umsetzung der europäischen Kartellschadensersatz-Richtlinie (RL 2014/104/EU) in deutsches Recht. In so gut wie allen Kartellfällen des Bundeskartellamtes wird heute mit Follow-on-Klagen Schadensersatz vor den Zivilgerichten angestrebt. Die Neuregelungen sind entlang der Richtlinie darum bemüht, insbesondere die Informationsbeschaffung des Geschädigten hinsichtlich des zugrundeliegenden Sachverhalts und der Ermittlung und Bezifferung des erlittenen Schadens zu verbessern, ohne das allgemeine öffentliche Interesse an einer funktionierenden Kartellverfolgung zu beschädigen. Eine funktionierende behördliche Kartellverfolgung ist nämlich zwingende Voraussetzung für die Geltendmachung privater Schäden. Insofern gilt es, das wichtigste Entdeckungsinstrument, die Kronzeugenregelung, angemessen zu schützen. Informationen, die der Kronzeuge der Behörde offenbart, werden daher nur sehr eingeschränkt im Schadensersatzprozess zugänglich gemacht, der Kronzeuge wird bei der gesamtschuldnerischen Haftung privilegiert.
Ein weiterer Schwerpunkt der Novelle ist die Anpassung des Kartellrechts an die Entwicklungen der Internetökonomie. Der Gesetzgeber hat hier weitgehend auf Vorschläge des Bundeskartellamtes zurückgegriffen. Nicht-monetären Austauschbeziehungen wurde bislang vielfach die Markteigenschaft abgesprochen mit der Folge, dass das Kartellrecht nicht anwendbar war. Es ist aber geradezu ein Charakteristikum von Internetplattformen als zweiseitigen Märkten, dass eine Marktseite – meist der private Nutzer bzw. Verbraucher – „kostenlos“ die Dienste eines Unternehmens in Anspruch nehmen kann, zugleich über die Verwertung von Nutzerdaten, die Vermittlungsleistung oder andere Wege auf einer anderen Marktseite aber sehr wohl eine monetäre Austauschbeziehung besteht. Die Novelle schafft nunmehr Klarheit, dass das Fehlen eines monetären Austausches die Annahme eines – kartellrechtlichen – Marktes nicht ausschließt. Dies bestätigt die ökonomisch gesicherte Praxis des Bundeskartellamtes sowie der Europäischen Kommission und schafft Rechtssicherheit.
In der Internetwirtschaft treten zu den klassischen Parametern zur Messung von Marktmacht neue spezifisch digitale Kriterien hinzu. Diese neuen Kriterien wie direkte und indirekte Netzwerkeffekte, Datenzugang, Multi-/Singlehoming und Tipping sind im Gesetz jetzt ausdrücklich verankert. Auch diese Neuregelung entspricht der geübten Praxis des Bundeskartellamtes und schafft Rechtssicherheit.
Auch die Ergänzung der Aufgreifschwellen für die Fusionskontrolle um ein kaufpreisbezogenes Kriterium spiegelt die Charakteristika der Internetwirtschaft wider. Klassischerweise knüpft die Fusionskontrolle an die Höhe der Umsätze der Unternehmen an. In der Internetwirtschaft werden aber mitunter sehr umsatzschwache Unternehmen mit hohem Wettbewerbspotenzial von einem großen Wettbewerber zu extrem hohen Summen vom Markt genommen. Als Beispiel wird immer wieder die Übernahme von WhatsApp durch Facebook genannt. Ab einem Kaufpreis von 400 Mio. Euro werden solche Vorhaben künftig der Fusionskontrolle unterliegen, auch wenn die sonstigen umsatzbezogenen Schwellen nicht vollumfänglich erreicht werden.
Zentraler Bestandteil des Gesetzes ist die Erweiterung der Bußgeldverantwortlichkeit in Unternehmen nach dem Vorbild des EU-Wettbewerbsrechts. Künftig ist der Kreis der Bußgeldverantwortlichen auf beherrschende Konzerngesellschaften sowie rechtliche und wirtschaftliche Nachfolger erweitert. Mit dieser Änderung werden gesetzliche Lücken geschlossen, die in der Vergangenheit in mehreren Fällen dazu führten, dass kartellbeteiligte Unternehmen durch Umstrukturierungen Bußgeldern entgehen konnten, die sog. „Wurstlücke“. Die neuen Regelungen gewährleisten eine gerechte und effektive Kartellverfolgung.
Aus wettbewerblicher Sicht unerfreulich sind die durch die 9. GWB-Novelle eingeführten Ausnahmen vom Kartellrecht, etwa bei klar wettbewerbsbeschränkenden Kooperationen von Presseunternehmen. Wettbewerbsrecht ist ein ökonomisch „atmendes“ Recht, das vielfältige Zusammenschluss- und Kooperationsmöglichkeiten zulässt, gleichzeitig aber dafür sorgt, dass die Märkte offen bleiben. Eine Notwendigkeit für die Ausnahmen ist daher kaum erkennbar.
Schließlich ist die 9. GWB-Novelle möglicherweise ein wichtiger Schritt, das Bundeskartellamt zu einer Verbraucherschutzbehörde zu erweitern. Im Rahmen der parlamentarischen Beratungen gab es konkrete Überlegungen, die behördliche Durchsetzung des wirtschaftlichen Verbraucherschutzes zu stärken und dem Bundeskartellamt Befugnisse in diesem Bereich zuzuweisen. Diskutiert wurde eine punktuelle Ergänzung des bewährten Systems der zivilrechtlichen Durchsetzung, insbesondere mit Blick auf die digitale Wirtschaft, in der mitunter durch einen einzelnen Rechtsbruch in kurzer Zeit eine hohe Zahl an Verbrauchern geschädigt wird. Klassische behördliche Ermittlungs- und Entscheidungsinstrumente können hier einen Mehrwert haben. Verstöße gegen UWG oder das AGB-Recht könnten über Abstellungsanordnungen mit Sofortvollzug schneller beendet werden, Verbrauchern auch in der Breite schneller zu ihren Rechten verholfen werden. Beispiele aus anderen Ländern zeigen, dass Wettbewerbsbehörden dafür die richtige Instanz sein können, da die möglichen Betätigungsfelder eine große Nähe zu den klassischen kartellrechtlichen Anwendungsgebieten aufweisen. In einem ersten Schritt hat das Bundeskartellamt jetzt die Befugnis erhalten, verbraucherrechtliche Sektoruntersuchungen durchzuführen und als amicus-curiae Stellungnahmen bei Gerichten abzugeben. Diese Instrumente haben sich im Kartellrecht bewährt und können einen sinnvollen Beitrag zur Unterstützung der zivilrechtlichen Durchsetzung sowie zur weiteren Aufklärung möglicher Durchsetzungsdefizite leisten.
Andreas Mundt, Präsident des Bundeskartellamtes, Bonn