Von Absolutheitsansprüchen, EU-Patriotismus und der leidigen Zuständigkeitsfrage
Das BVerfG hat der EZB mit Urteil vom 5. 5. 2020 (RIW 2020, 430) attestiert, dass deren Staatsanleihekaufprogramm PSPP an einem Abwägungs- und Darlegungsausfall leide. Dem stehe auch das Urteil des EuGH vom 11. 12. 2018 (RIW 2019, 139) nicht entgegen, da dieses im Hinblick auf die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit der zur Durchführung des PSPP erlassenen Beschlüsse schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar und damit ultra vires ergangen sei. Von der Bundesregierung und dem Bundestag wird verlangt, auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die EZB hinzuwirken. Andernfalls dürfe die Bundesbank nach Ablauf einer Schonfrist von drei Monaten nicht mehr an Umsetzung und Vollzug des Programms mitwirken.
Das Urteil hat nicht nur in Deutschland, sondern gerade auch in der englischen Presse – die bekanntlich die sehr integrationsfreundliche Rechtsprechung des EuGH stets nachhaltig begrüßte – regelrechte Schockwellen ausgelöst. Dem BVerfG wurde vorgeworfen, eine Bombe gezündet zu haben (Financial Times, 6. 5. 2020). Der Bestand der Europäischen Rechtsgemeinschaft wurde ebenso wie die Zukunft des Euro in Frage gestellt. Selbst anerkannte Rechtswissenschaftler warfen dem BVerfG “klaren Rechtsbruch” vor, dazu “nicht akzeptable Arroganz eines Verfassungsorgans, wie sie uns Deutschen nicht ansteht” (Pernice, EuZW 2020, 508). Eine ehemalige Bundesjustizministerin wirft dem BVerfG gar vor, “hanebüchen” zu argumentieren (Barley, EuZW 2020, 489). Der EuGH sah sich bemüßigt, am 8. 5. 2020 in einer Pressemitteilung klarzustellen, dass nur er befugt sei festzustellen, dass eine Handlung eines Unionsorgans gegen Unionsrecht verstoße. Dies meinte auch die EU-Kommissionspräsidentin feststellen zu müssen und Deutschland mit einem Vertragsverletzungsverfahren zu drohen. Um was geht es tatsächlich?
Dass das letzte Wort zu EU-Recht in Luxemburg gesprochen wird, wird nicht ernsthaft in Frage gestellt. Genauso klar sollte aber auch sein, dass zum deutschen Verfassungsrecht das letzte Wort in Karlsruhe, nicht aber in Luxemburg gesprochen wird. Einen absoluten Gehorsam, den der EuGH für sich reklamiert, kann es nur in einem europäischen Bundesstaat geben. Hierzu sind derzeit aber weder die EU-Mitgliedstaaten noch deren Bürger bereit. Ein absoluter Anwendungsvorrang des Unionsrechts auch vor nationalem Verfassungsrecht – wie er vom EuGH in der Entscheidung Costa/ENEL 1964 postuliert wurde –, findet sich bis heute weder im EUV noch im AEUV. Es bleibt daher beim Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung, nach dem die EU nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig werden darf, die die Mitgliedstaaten ihr vertraglich übertragen haben (Art. 5 Abs. 2 EUV). Man stelle sich alternativ nur vor, die EU würde – abgesegnet vom EuGH – in kreativster Rechtsauslegung als Sanktion gegen den angeblichen Rechtsbruch des BVerfG die Absetzung aller unbotmäßigen Richter des BVerfG und deren Ersetzung durch linientreue Richter beschließen. Man kann nur hoffen, dass dies auch bei EU-Patrioten zu mehr als nur Stirnrunzeln führen würde.
Geht es mit dem PSPP-Urteil um einen Angriff gegen die Unabhängigkeit der EZB, die Deutschland stets ein Anliegen war? Oder sollte hier die Frage gestellt werden, ob das Pendant dieser Unabhängigkeit nicht die enge Begrenzung des Mandats sein müsste, was im Sinne von “checks and balances” vom EuGH effizient zu überwachen wäre? Fragen sind – so Max Goldt – oft viel interessanter als die dazu gehörigen Antworten. Ein restriktiv verstandener Kontrollauftrag, der quasi “Biotopschutz für autonome Exekutivtechnokratie” (Gärditz, EuZW 2020, 507) gewährt, wirft jedenfalls die zentrale Frage nach der demokratischen Legitimation der EZB gerade bei signifikant wirtschaftspolitischen Entscheidungen auf. Hat die EZB tatsächlich die Kompetenz, zur Rettung des Euros einzusetzen “whatever it takes”? Wem schadet die faktische Hinzufügung von “and is proportional” durch das PSPP-Urteil (G. Hirsch, FAZ, 20. 5. 2020, S. 6)?
Demokratische Politik in der Globalisierung mag schwierig sein und eine Patchwork-Legitimation auf der europäischen, nationalen, regionalen und auch kommunalen Ebene erfordern (G. Schwan, FAZ, 5. 6. 2020, S. 12). Gefährlich ist aber, wenn Europarechtler meinen, angesichts drohender Schäden für die EU Verfassungsvorbehalten nicht um jeden Preis Geltung verschaffen zu müssen (Europa – Quo Vadis?, EuZW 2020, 529). Soll die Rechtstaatlichkeit hier der “zum Fetisch abstrahierten formalen Einheit der Unionsrechtsanwendung” (Gärditz, EuZW 2020, 507) geopfert werden? Dem BVerfG wurde auch vorgeworfen, es verkenne die drohende Instrumentalisierung seines Urteils in Polen und Ungarn. Das wirft aber die Frage auf, ob vom BVerfG ernsthaft verlangt werden darf, ein vom Grundgesetz gefordertes Urteil deshalb nicht auszusprechen, weil es in anderen Mitgliedstaaten absichtlich missverstanden werden könnte (Ludwigs, EuZW 2020, 532). Sollen Richter zu EU-Fragen nur noch politisch entscheiden?
Wie geht es hinsichtlich des häufig beschworenen Dialogs zwischen EuGH und BVerfG weiter? Die Informationsketten der EZB zur Begründung der Verhältnismäßigkeit ihrer Anleihekäufe funktionieren wohl. Die EZB führt die Anleihekäufe auch unbeirrt weiter. Was das Verhältnis zwischen EuGH und BVerfG betrifft, würde etwas Merkel'sche Gelassenheit nicht schaden oder, wie Angelika Nußberger es formulierte, die Zurücknahme des institutionellen Egos (FAZ, 20. 5. 2020, S. 6). Der EuGH sollte weniger auf Hierarchiedenken vertrauen, sondern künftig konstruktiver auf Kritik mitgliedstaatlicher Gerichte reagieren. Und so mancher EU-Patriot sollte sich fragen, ob der eifernde Ton der ersten Stellungnahmen zum PSPP-Urteil des BVerfG wirklich angemessen war.
Die Diskussion um die Geldpolitik der EZB ist damit aber nicht aus der Welt. Ob und inwieweit deren Geldpolitik in die allgemeine Wirtschaftspolitik eingreift oder gar zur Staatsfinanzierung führt, muss letztlich auf politischer Ebene geklärt werden. Hier muss die Politik auch Mut beweisen und darf sich nicht wegducken. Deswegen ist es auch wichtig, dass beim derzeit verhandelten EU-Wiederaufbau die Mitgliedstaaten und deren demokratisch legitimierte Regierungen – und nicht eine faktisch kontrollfreie Exekutivbürokratie – die politische Verantwortung übernehmen.
Dr. Stephan Wilske, Rechtsanwalt, Stuttgart