Kaiser Friedrich Barbarossa und das Systemrecht
Systemrecht – (noch) eine Konzeption auf weltweitem Siegeszug
Kaiser Friedrich I. Barbarossa (reg. 1152–1290) wurde vor 900 Jahren geboren, wahrscheinlich 1122, vermutlich in Hagenau/Elsass. Das gibt Veranlassung, die wohl wichtigste Hinterlassenschaft dieses bedeutenden Herrschers in Erinnerung zu rufen: die Rezeption des römischen Rechtes im Heiligen Römischen Reich und dessen weltweite Folgen.
Die unter Karl dem Großen um 800 angebahnte und von Kaiser Otto dem Großen im 10. Jahrhundert aufgegriffene Theorie oder Vision der renovatio oder translatio imperii, also der Fortexistenz des antiken Imperium Romanum im mittelalterlichen Westteil des Reichs, wurde unter Barbarossa noch einmal kraftvoll belebt. In diesem erneuerten römischen Reich musste auch das römische Recht gelten, wie es – so glaubte man – für alle Zeiten bindend im Corpus Iuris Civilis des Justinian (um 500) niedergelegt war. Diesem Recht wurde, wie zahlreiche Aussprüche belegen, unbedingte Weltgeltung zugesprochen. Der wohl berühmteste niederländische Pandektist Johannes Voet schreibt in seinem großen Kommentar zum römisch-holländischen Recht (Den Haag, 1723): “Das von Iustinian und Ulpian gelehrte natürliche Recht ist das, was die Natur alle Geschöpfe lehrt.” (I,1,12). Der letzte große deutsche Pandektist Heinrich Dernburg sah 1902 im römischen Recht “eines der Grundelemente der Rechtswissenschaft und der menschlichen Kultur”. Mit diesem Lob war immer wohl weniger der Norminhalt gemeint als die systematische Gliederung des Normenbestandes. Beispiel: Institutiones sive Elementa als eine Art Allgemeiner Teil. In diesem stand zuerst die Rechtsperson, dann das Recht der Sachen, Schuldverhältnisse usw. Das nach 1871 geschaffene BGB wurde davon ganz entscheidend geprägt, wiederum weniger in den normativen Inhalten als im logischen und systematischen Aufbau des Normenbestandes.
In rechtlicher Hinsicht sind das Industriezeitalter und unsere Postmoderne durch eine schier unkontrollierbare Normenflut gekennzeichnet. Dieser wird man nur dadurch einigermaßen Herr, dass die Einzelnorm in einem System aufgefunden werden kann, wo ihrem Wortlaut der spezifische Sinn zugewiesen wird. Beispiel: Irrtumsanfechtung ist trotz desselben Wortes in § 2078 BGB etwas völlig anderes als in § 119 BGB; das aber ergibt sich erst aus der systematischen Stellung des Begriffes. Das griechische Wort systema bedeutet die Stellung des Einzelelements innerhalb eines Ganzen, etwa eines Kriegers zur Schlacht.
Nicht ein Faible für die Deutschen, sondern das Bedürfnis nach systematischer Ordnung des Rechtsstoffes dürfte der Grund dafür gewesen sein, dass Japan und China um 1900 (mit dem Beginn ihres Industriezeitalters) die Neuordnung ihres Rechtes am deutschen BGB ausrichteten. Das war offenbar auch der Grund, weswegen fast alle Kodifikationen des Privatrechtes nach 1900 (Afghanistan, Äthiopien [dazu Aden, DZWir 2012, 487], Algerien [ders., RIW 9/2009, Die erste Seite]) dem BGB folgten. Ab 1990 galt das auch für die Nachfolgestaaten der Sowjetunion und für Russland selbst im Grashdanski Kodeks (1994). “Law Made in Germany” wurde zu einer Art Produktwerbung des Bundesministeriums für Justiz (Aden, ZRP 2012, 50). Damit wurde das deutsche, in Wahrheit aber römische Systemrecht zum Hauptkonkurrenten des common law britischer bzw. amerikanischer Provenienz. Von der Zahl der Rechtsunterworfenen hat dieses deutsch-römische Erbe der Stauferzeit heute weltweit die größte Verbreitung.
Aber was für ein Erbe haben wir eigentlich übernommen und weitergegeben? Ist Systematik im Recht noch zeitgemäß oder überhaupt sinnvoll und nötig? In verschiedenen auf Dogmen und Systembildungen gestellten Wissenschaften (z. B. Theologie und Philosophie) zeigt sich eine Entwicklung weg vom Dogma zu einer gewissen Systemfeindlichkeit. Das gilt anscheinend auch im Recht. Systematische Stringenz scheint der kasuistischen Billigkeitsentscheidung zu weichen. Für das Reichsgericht war eine Entscheidung “unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalles” die Ausnahme, heute gibt es aber kaum eine Entscheidung ohne diese Formel, mit der sich so gut wie alles begründen lässt. In der internationalen Handelsschiedsgerichtsbarkeit hat sich heute allgemein durchgesetzt, dass die Parteien ein strukturiertes nationales Recht zugunsten einer kasuistischen Entscheidung ex aequo et bono abwählen dürfen. Begriffe juristischer “Halbverbindlichkeit” wie soft law, non paper oder Mediation statt Rechtsentscheid sind im Markt. Vielleicht stehen wir, zumal im Wirtschaftsrecht, damit überhaupt vor einer Neubewertung des Rechts als Wissenschaft. Aber wir sollten aufpassen, dass wir unser Erbe nicht vertun. Das Systemrecht hat drei bedeutende Vorteile gegenüber einem systemfreien Recht:
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Korruptionsabwehr: Die Bindung nicht nur an den Wortlaut einer Norm, sondern auch an ihren Systemzusammenhang bewahrt den Richter vor unkontrollierbaren Einflüssen.
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Verallgemeinerungsfähigkeit: Die unsystematische Einzelfallentscheidung verdunkelt die Entscheidungsmaxime und verfehlt den neben der Gerechtigkeit wichtigsten Zweck des Rechtes, die Rechtssicherheit.
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Begründungszwang: Das Systemrecht zwingt den Richter zu einer objektivierbaren Begründung. Diese ist im Rechtsstaat wichtig zur Entwicklung einer Rechtstradition.
System im Recht ist kein Selbstzweck. Aber nur ein vernunftgestütztes Systemrecht schützt vor gefühliger “Gerechtigkeit”. Ich habe schon früher (vgl. RIW 3/2019, Die erste Seite) für die Schaffung eines Corpus Iuris Mundi (Weltgesetzbuch) plädiert. Als Vorbild könnte das römische Erbe dienen, wie es über Jahrhunderte auf uns gekommen ist.
Dr. Menno Aden, Essen