Internationale Arbeitsstandards müssen effektiv durchgesetzt werden
Die Rolle des IAO-Sachverständigenausschusses ist nicht zu unterschätzen
Vor zwei Jahren hat die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) ihren 100. Geburtstag gefeiert. Die IAO mit Sitz in Genf ist eine UN-Sonderorganisation und nimmt im Gefüge der Vereinten Nationen auch eine Sonderstellung ein. Denn Mitglieder sind nicht nur Staaten (derzeit 187), sondern auch Organisationen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Im Rahmen der IAO wurden bislang 190 Übereinkommen geschlossen, die thematisch von Arbeitsentgelt und Arbeitszeit bis zur Mitwirkung der Arbeitnehmer und der Vereinigungsfreiheit reichen. Viele dieser Übereinkommen weisen beachtliche Ratifizierungsquoten auf. So wurde zum Beispiel das Übereinkommen Nr. 29 über Zwangs- oder Pflichtarbeit von 180 Mitgliedstaaten ratifiziert. Das Überkommen Nr. 182 über die schlimmsten Formen von Kinderarbeit weist gar 187 Ratifizierungen auf.
Die IAO-Übereinkommen bilden die Grundlage dessen, was man Internationale Arbeitsstandards nennt. Diesen Standards kommt heute, insbesondere in Gestalt der sog. Kernarbeitsnormen zur Vereinigungsfreiheit und zum Recht auf Kollektivverhandlungen, zur Beseitigung der Zwangsarbeit, zur Abschaffung der Kinderarbeit, zum Verbot der Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf und zu Arbeitsschutz und Arbeitssicherheit, eine enorme Bedeutung zu: Sie bestimmen mit über das “S” in der ESG-Berichterstattung. Freihandelsabkommen fordern häufig ihre Einhaltung, die Gewährung von Zollerleichterungen kann von ihrer Beachtung abhängig sein. Die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen sind ausdrücklich auf die Einhaltung der Standards und Grundsätze der IAO gerichtet. Und doch dienen die IAO-Übereinkommen in erster Linie der Gewährleistung entsprechender Rechte in den Mitgliedstaaten.
Aber wie überwacht die IAO eigentlich die Einhaltung ihrer Übereinkommen? Das System der Normenüberwachung ist von außen nicht einfach zu durchschauen. Da ist zum einen der Sachverständigenausschuss zur Anwendung der Übereinkommen und Empfehlungen, der aus unabhängigen Experten besteht und sich von anderen Organen der ILO dadurch unterscheidet, dass er keine dreigliedrige Struktur aufweist. Seine Aufgabe ist es, “die rechtliche Tragweite, den Inhalt und die Bedeutung der Bestimmungen der Konventionen zu bestimmen. Seine Stellungnahmen und Empfehlungen sind unverbindlich und sollen den nationalen Behörden als Orientierung dienen. Sie erhalten ihre Überzeugungskraft aus der Legitimität und Rationalität der Arbeit des Ausschusses, die auf seiner Unparteilichkeit, Erfahrung und Fachwissen beruht” (so der Sachverständigenausschuss in seinem jüngsten Bericht).
Der Sachverständigenausschuss bewertet die Länderberichte, die von den Mitgliedstaaten in regelmäßigen Abständen zu erstatten sind. Ergänzende Berichte, die von den Sozialpartnern regelmäßig übersandt werden, helfen ihm bei seiner Einschätzung der Lage. Unmittelbare Konsequenzen für die Mitgliedstaaten hat es, wenn der Ausschuss von der Regierung einen früheren Bericht anfordert oder die Regierung gar auffordert, sich bereits auf der nächsten Internationalen Arbeitskonferenz zu äußern. Der Bericht des Sachverständigenausschusses wird dem Konferenzausschuss für die Anwendung der Normen übermittelt. Dieser wählt dann auf dessen Grundlage die Fälle aus, die aus seiner Sicht auf der jährlich stattfindenden Internationalen Arbeitskonferenz einer näheren Prüfung unterzogen werden sollen. Dazu werden die betreffenden Regierungen aufgefordert, sich vor der Konferenz zu erklären. Nach seiner Prüfung formuliert der Ausschuss häufig Empfehlungen gegenüber den Regierungen, wobei es wieder am Sachverständigenausschuss ist, darüber zu wachen, ob die Empfehlungen Früchte tragen.
Problemlos ist dieses Verfahren nicht. Zuweilen gerät Sand ins Getriebe. So kommt mancher Staat seiner Berichtspflicht nur unzureichend nach. Und zuweilen zieht sich ein Dialog, den der Sachverständigenausschuss mit einem Mitgliedstaat über die Einhaltung eines Übereinkommens führt, quälend lange hin. Es kommt gar nicht so selten vor, dass sich der Ausschuss im Angesicht gravierender Umsetzungsdefizite gezwungen sieht, eine Regierung daran zu erinnern, dass die Ratifizierung eines Übereinkommens viele Jahre zurückliegt und Mahnungen bislang ungehört verhallt sind. Und dennoch: Auch wenn das “scharfe Schwert” fehlt, funktioniert die Normenüberwachung recht gut. Die Aussicht, vor die Internationale Arbeitskonferenz und damit meist auch in das Blickfeld einer größeren Öffentlichkeit gezogen zu werden, ist für die meisten Mitgliedstaaten wenig verlockend. Das diszipliniert.
Allerdings hängt seit geraumer Zeit eine dunkle Wolke über Genf. Zumindest vordergründig geht es dabei um das Streikrecht, das der Sachverständigenausschuss dem Übereinkommen Nr. 87 über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz des Vereinigungsrechtes entnimmt. Die Gewerkschaften begrüßen das, die Arbeitgeber lehnen es ab. Der Konflikt schwelt. Es ist daher kein Zufall, dass der neue IAO-Generalsekretär Gilbert F. Houngbo, der erst vor wenigen Tagen sein Amt angetreten hat, ein besonderes Augenmerk auf das System der Normenüberwachung richten will.
Internationale Arbeitsstandards haben, um das Mindeste zu sagen, nichts von ihrer Bedeutung verloren. Ihre effektive Durchsetzung sollte allen am Herzen liegen. Dem neuen IAO-Generalsekretär ist eine glückliche Hand zu wünschen.
Professor Dr. Bernd Waas, Frankfurt a. M.