Initiative der EU-Kommission zur Unterstützung der kollektiven Selbsthilfe von Solo-Selbstständigen durch Tarifverträge
Der Ansatz ist zu begrüßen, hat aber Schwächen
Seit einiger Zeit wird die rechtliche Behandlung neuer Arbeitsformen diskutiert, bei denen sog. Solo-Selbstständige nur mithilfe ihrer eigenen Arbeitskraft und ohne Mitarbeiter tätig werden. Sie arbeiten häufig über Online-Plattformen und werden dann als Plattformbeschäftigte, Crowdworker oder Clickworker bezeichnet. Hier ist zunächst zu fragen, ob sie als Selbstständige oder wegen der Abhängigkeit von Weisungen und der Integration in betriebliche Abläufe als persönlich Abhängige, also als Arbeitnehmer zu qualifizieren sind. Letzteres haben z. B. die Cour de cassation am 4. 4. 2020 für Uber-Fahrer und das BAG am 1. 12. 2020 für bestimmte Crowdworker angenommen. Liegen die Voraussetzungen der Arbeitnehmereigenschaft nicht vor, stellt sich die Frage nach Schutzmechanismen, wenn Solo-Selbstständige wegen ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit vergleichbar schutzbedürftig und schutzwürdig wie Arbeitnehmer erscheinen.
In diesem Kontext hat die Europäische Kommission am 30. 9. 2022 ihre “Leitlinien zur Anwendung des Wettbewerbsrechts der Union auf Tarifverträge über die Arbeitsbedingungen von Solo-Selbstständigen” veröffentlicht. Sie bilden ein Maßnahmenpaket mit dem Entwurf einer Richtlinie zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Plattformbeschäftigten vom 9. 12. 2021. Während der Richtlinienentwurf vor allem eine korrekte Bestimmung des Beschäftigungsstatus von Plattformbeschäftigten erreichen will und eine (widerlegliche) Vermutung für das Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses vorsieht, das ihnen die Anwendung der arbeits- und sozialrechtlichen Schutznormen eröffnet, gehen die Leitlinien sowohl bezüglich der zu schützenden Personengruppe als auch der Schutzmaßnahmen einen anderen Weg. Sie wollen Solo-Selbstständigen kollektive Selbsthilfe durch den Abschluss von Tarifverträgen über Arbeitsbedingungen ermöglichen, indem sie ihnen die Rechtssicherheit bieten, dass diese nicht vom Kartellverbot des Art. 101 AEUV erfasst werden.
Bekanntlich gilt seit der Albany-Entscheidung des EuGH vom 21. 9. 1999, dass Tarifverträge über Arbeitsbedingungen, die im Rahmen von Tarifverhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern oder ihren Organisationen geschlossen werden, aufgrund ihrer Art und ihres Gegenstands nicht unter Art. 101 AEUV fallen. Denn anderenfalls wäre, so der EuGH, die Erreichung der damit angestrebten sozialpolitischen Ziele ernsthaft gefährdet. Ferner soll das Kartellverbot nicht gelten, weil Arbeitnehmer keine selbstständig auf dem Markt agierenden Unternehmer, sondern Teil des Unternehmens ihres Arbeitgebers sind. Weniger klar ist hingegen, für welche “Scheinselbstständigen” im Sinne der FNV Kunsten-Entscheidung des EuGH (RIW 2015, 219) vom 4. 12. 2014 das Kartellverbot ebenfalls nicht gilt, nämlich nur für solche, die wegen ihrer persönlichen Abhängigkeit Arbeitnehmer sind, oder auch für solche, die wegen ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit Arbeitnehmerähnliche sind.
Hier will die Kommission durch zwei Maßnahmen Rechtssicherheit schaffen. In den Leitlinien stellt sie erstens klar, dass die Tarifverträge von Solo-Selbstständigen in einer vergleichbaren Situation wie Arbeitnehmer nicht vom Kartellverbot des Art. 101 AEUV erfasst werden. Zweitens wird sie nicht gegen Tarifverträge von Solo-Selbstständigen vorgehen, die ein Ungleichgewicht der Verhandlungsmacht gegenüber ihren Gegenparteien aufweisen.
Mit der ersten Maßnahme beschränkt die Kommission den Anwendungsbereich von Art. 101 AEUV durch eine Auslegung des Unternehmensbegriffs. Hieran ist problematisch, dass diese nur die Kommission, nicht aber den EuGH bindet. Danach findet das Kartellverbot keine Anwendung auf drei Gruppen von Solo-Selbstständigen in einer vergleichbaren Situation wie Arbeitnehmer. Die erste Gruppe bilden wirtschaftlich abhängige Solo-Selbstständige, die über einen Zeitraum von einem oder zwei Jahren durchschnittlich mindestens 50 % ihres Arbeitseinkommens von einer einzigen Gegenpartei erhalten. Insoweit bezieht sich die Kommission ausdrücklich auf § 12a TVG. Daraus folgt, entgegen der unklaren Definition in FNV Kunsten, dass neben den “echten” Scheinselbstständigen, also Arbeitnehmern, auch die Arbeitnehmerähnlichen geschützt werden. Zur zweiten Gruppe gehören Solo-Selbstständige, die dieselben oder ähnliche Aufgaben Seite an Seite mit Arbeitnehmern der Gegenpartei durchführen. Diese Definition ist viel zu allgemein, um daraus eine Weisungsabhängigkeit abzuleiten, die im Übrigen auch zur Einstufung als Arbeitnehmer führen müsste. Die dritte Gruppe knüpft an den Richtlinienentwurf an. Sie erfasst Solo-Selbstständige, die über digitale Plattformen arbeiten und aufgrund der einseitigen Vertragsbedingungen sowie der Kontrolle durch Algorithmen wirtschaftlich abhängig sind.
Die zweite Maßnahme besteht in der Ermessensbindung der Kommission, nicht gegen Tarifverträge von Solo-Selbstständigen mit einer Gegenpartei vorzugehen, die über eine starke Wirtschaftskraft verfügt. Kaum zu überzeugen vermag indes, dass ein Unternehmen schon mit einem Jahresumsatz oder einer Jahresbilanz von über 2 Mio. Euro oder mindestens zehn Mitarbeitern strukturell so überlegen sein soll, um das Kartellverbot nicht durchzusetzen.
Insgesamt erscheint der Ansatz positiv, Solo-Selbstständigen den Abschluss von Tarifverträgen zu ermöglichen. Die Umsetzung in der Praxis setzt vor allem voraus, dass sie durchsetzungsstarke Vertretungen bilden, insbesondere durch die Organisation in Gewerkschaften.
Professor Dr. Andreas Feuerborn, Düsseldorf