Europas “Green Deal”: Zur ökologischen Transformation der Ökonomie
Wir leben über unsere Verhältnisse. Das ist längst bekannt und greifbar. Nicht erst seit der Studie “Die Grenzen des Wachstums” (Club of Rome, 1972). Im Grunde, seit Menschen nicht mehr im Einklang mit Natur und Umwelt leben. Die Menschheit wächst weiter. Ignoranz regiert. Die Weltwirtschaft verbraucht Ressourcen, als gäbe es kein Morgen.
Der Europäische Green Deal markiert im Zuge des Klimaschutzübereinkommens der Vereinten Nationen von Paris (Beschluss [EU] 2016/1841) eine Zeitenwende. Umweltzerstörung und Klimawandel werden als Menschenwerk, als existentielle Bedrohung verstanden. Umdenken erreicht politisches Handeln. Die Europäische Union unternimmt es, den größten Binnenmarkt der Welt für eine neue Wachstumsstrategie ökologisch zu reformieren: Der Green Deal zielt auf ein nachhaltiges Wirtschaften als erster klimaneutraler Kontinent bis 2050.
Das Ziel ist offenbar ambitioniert, umfasst alle Bereiche der Zivilgesellschaft und Politik. Erstrebt wird “der Übergang zu einer modernen, ressourceneffizienten und wettbewerbsfähigen Wirtschaft”. Im Ganzen sollen dabei keine Netto-Treibhausgasemissionen mehr freigesetzt und das Wirtschaftswachstum von der Ressourcennutzung abgekoppelt werden.
Die Union will dafür die Wirtschaft ökologisch transformieren und ein nachhaltiges Finanzwesen etablieren, das – nach Maßgabe der Verordnung (EU) 2020/852 – die Kapitalflüsse in nachhaltige Investitionen lenkt. Die Kommission beziffert Investitionsvolumen von gut einer Billion Euro (Sustainable Europe Investment Plan). Die Verordnung fixiert erhebliche Offenlegungspflichten für Unternehmer ab dem 1. 1. 2022, um die (potentiellen) Investoren “klar und nicht irreführend” über das jeweilige Unternehmen und Finanzinstrument zu informieren. Das hängt bei 24 Amtssprachen offenbar für fairen Wettbewerb an der sinnvollen Reform des Sprachenregimes (vgl. dazu Luttermann/Luttermann, Sprachenrecht für die Europäische Union, 2020).
Auf Unionsebene wird die Basis ein “technisch robustes Klassifikationssystem” sein, das Klarheit schaffen soll, welche Wirtschaftstätigkeiten als “grün” bzw. “nachhaltig” gelten. Um die ökologische Nachhaltigkeit bestimmen zu können, ist “eine vollständige Liste von Umweltzielen” als delegierter Rechtsakt beauftragt. Die “technischen Bewertungskriterien” sollen sich in die Rechtsordnung einfügen und möglichst auf die Nachhaltigkeitsindikatoren der Verordnung (EU) 2019/2088 über nachhaltigkeitsbezogene Offenlegungspflichten im Finanzdienstleistungssektor bauen: Berichterstattung über klimabezogene Informationen.
Für die Bestimmung der ökologischen Nachhaltigkeit einer Wirtschaftstätigkeit sind namentlich sechs Umweltziele abzudecken: Klimaschutz, Anpassung an den Klimawandel, nachhaltige Nutzung und Schutz von Wasser- und Meeresressourcen, Übergang zur Kreislaufwirtschaft, Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung, Schutz und Wiederherstellung der Biodiversität und der Ökosysteme. Die Dimensionen sind mithin umfassend.
Not tut ganzheitliches Denken und Handeln. Es geht um die ökologische, soziale und wirtschaftliche Gegenwart und Zukunft der Europäischen Union als Rechtsgemeinschaft im Ganzen, nicht (nur) um weitere Berichtspflichten. Der europäische Verordnungsgeber bekundet die angestrebte Klassifikation als “die Grundlage für weitere wirtschaftliche und regulatorische Maßnahmen” – also für künftige Rechtsvorschriften praktisch in allen Bezügen des Binnenmarktes. Im Sinn unserer gemeinsamen Werte (Art. 2 bis 6 EUV) sind Rechtsstaatlichkeit und Eigenverantwortung geboten: eine Vermögensordnung, die bewertungsrechtlich nachhaltig gestaltet und praktiziert wird (insg. Luttermann, RIW 2021, demnächst).
Geboten ist wettbewerbliche Fairness im globalen Kontext. Wir (Deutschland mit ca. 2 % der weltweiten CO2-Emissionen im Jahr 2018) konkurrieren mit den USA (ca. 15 %) und China (ca. 28 %), wo andere Standards für Menschen und Umwelt wirken. Kann genügen, dass in Europa die Investitionen in bestens die Umweltziele fördernde Wirtschaftstätigkeiten gelenkt werden? In der Union soll ein Sachverständigengremium (Multi-Stakeholder-Plattform) die “technischen Bewertungskriterien” mit wissenschaftlichen Erkenntnissen bestimmen. Wer setzt international die Standards (durch)? Im Grunde bedarf es einer globalen Vermögensordnung.
Rechtsklarheit ist insgesamt der Maßstab. Das Kriteriensystem (Taxonomie), unscheinbar mit “technischen Bewertungskriterien” erstrebt, wird rechtsfaktisch ein mächtiges Bewertungssystem für Vermögen, die Scheidung von ‘Gut’ und ‘Böse’. Ein gewaltiges Unterfangen: Wer kontrolliert? Was gilt grundsätzlich als ‘nachhaltig’? Inwieweit bieten danach konkrete Unternehmen, Projekte, Finanzinstrumente nachhaltige Investitionen (Wirtschaftstätigkeit)? Die tatsächlichen Verhältnisse sind gefordert. Keine Zahlenmagie, wie sie bisher in Bewertungsfragen bei Rechnungslegung, Prüfung sowie der Unternehmensbewertung (Rating) geübt wird.
Die Reform ist ein Paradigmenwechsel für Wirtschaft und Gesellschaft. Wir müssen Maß und Mitte finden und, um Willkür zu bannen, klare Sprache. Daran hängen in der mehrsprachigen Union das Recht und Gerechtigkeit auch für folgende Generationen. Die ökologische Transformation der Ökonomie ergänzt die etwa seit Mitte des 18. Jahrhunderts datierte Industrielle Revolution. Eine grüne Revolution? Vielmehr ein Akt nötiger Vernunft.
Professor Dr. Claus Luttermann, Eichstätt-Ingolstadt