Die nächste Stufe der deutsch-indischen Beziehungen
Indiens Gewicht in der Welt wächst
Indien ist in vielerlei Hinsicht ein Land der Superlative: größte Demokratie der Welt, seit April dieses Jahres nun auch das bevölkerungsreichste Land der Welt, größte Filmindustrie der Welt – the list goes on. Zwar ist Indien zur Zeit “erst” die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt, nach neuesten Schätzungen könnte es aber bereits ab 2030 – vor Deutschland und Japan – die drittgrößte Volkswirtschaft und der drittgrößte Konsumgütermarkt der Welt sein. Der Indienboom ist nachhaltig und alternativlos: Während China es mit seiner demografischen Struktur mittel- und langfristig schwerer haben wird, den Wachstumskurs aufrecht zu erhalten – der IWF prognostiziert Wachstumsraten zwischen 3 % und 5,2 % für die nächsten Jahre –, soll die Wachstumsrate Indiens laut IWF bei durchschnittlich 6 % p.a. liegen (IWF, World Economic Outlook, April 2023). Die Presse spricht vom Anbruch des indischen Jahrzehnts (Höflinger, Der Spiegel 16/2023).
Indien, das am 1. 12. 2022 die G20-Präsidentschaft übernommen hat, hat im Februar 2023 den deutschen Bundeskanzler samt einer hochrangigen Wirtschaftsdelegation empfangen. Für Scholz war es der erste Indien-Besuch als Kanzler.
Indien ist Europas zehntwichtigster Handelspartner. Europas ökonomischer Stellenwert für Indien ist noch größer: Europa ist drittwichtigster Handelspartner und zweitwichtigster Absatzmarkt, jeweils nach den USA. Um die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen und Entwicklungen in Europa und Indien weiter zu stärken und zu fördern, haben die Europäische Union und Indien im Sommer 2022 erneut Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen aufgenommen, nachdem die vorherigen Gespräche 2013 gescheitert waren. Während seines Indien-Aufenthalts betonte Scholz, dass er sich nun persönlich dafür einsetzen wolle, dass es im Hinblick auf das geplante Freihandelsabkommen zwischen der EU und Indien schneller zu Fortschritten komme.
Deutschland ist Indiens größter Handelspartner in Europa und gehört zu den zehn größten globalen Handelspartnern Indiens. Deutschland ist außerdem der neuntgrößte ausländische Direktinvestor in Indien. Aber auch die indischen Investitionen in Deutschland haben in den letzten Jahren erheblich zugenommen. Mehr als 200 indische Unternehmen investieren in Deutschland, insbesondere in den Bereichen IT, Automobil, Pharma und Biotechnologie.
Neben dieser Ausbalancierung des FDI-Flow, die erneut zeigt, dass Globalisierung keine Einbahnstraße sein muss, ist auch eine weitere Entwicklung zu beobachten, die für die Bundesrepublik wirtschaftliche Chancen bietet: Indien wird von deutschen Unternehmen heute nicht mehr nur als Outsourcing-Destination, Absatzmarkt und Produktionsstandort, zu dem die indische Regierung das Land unter dem Slogan “Make in India” machen möchte, wahrgenommen, sondern auch als Opportunität, Fachkräfte und Hochqualifizierte, also Spitzenkräfte mit akademischem Bildungshintergrund, anzuwerben.
In diesem Sinne warb auch Scholz bei seinem Besuch für mehr Fachkräftezuwanderung aus Indien. Deren Einreise sei mit dem ersten bilateralen Mobilitäts- und Migrationsabkommen seiner Art schon erleichtert worden, dies reiche jedoch nicht aus. In Zukunft soll es, so Scholz, unter bestimmten Voraussetzungen auch möglich sein, ohne das Angebot eines konkreten Arbeitsplatzes zum Arbeiten nach Deutschland zu kommen.
Aber auch der jüngst von der Regierung vorgelegte Gesetzentwurf für ein neues Fachkräfte-Einwanderungsgesetz reicht ebenso wenig wie die Anstrengungen im Rahmen der “Make it in Germany”-Kampagne aus, um die zwei Millionen unbesetzten Stellen in Deutschland zu füllen oder Top-Talente und mit ihnen Innovation nach Deutschland zu holen.
Da insbesondere für Akademiker aus dem Ausland bereits seit Jahren mit der Blauen Karte EU ein äußerst liberaler rechtlicher Rahmen für eine Arbeitsmigration nach Deutschland existiert, liegt es am Ende auch an anderen Faktoren, dass sich dennoch viel zu wenig solcher Kräfte für Deutschland entscheiden, sondern häufiger für klassische Einwanderungsländer wie die USA oder Kanada: ein besseres deutsches Auslandsmarketing, Kooperationen mit führenden Universitäten und Bildungseinrichtungen in Indien, englischsprachige Schul- und Bildungsangebote außerhalb der deutschen Metropolen, das Überdenken von Deutsch als Unternehmenssprache, um nur einige zu nennen. Und last but certainly not least: die Schaffung einer echten Willkommenskultur in Deutschland.
Aber auch in Indien gibt es dringenden Handlungsbedarf, insbesondere zur weiteren Erleichterung ausländischer Geschäftsaktivitäten. Trotz der seit Anfang der 1990er Jahre sukzessive erfolgten Liberalisierung des Wirtschafts- und Investitionsrechts Indiens sind für ein kontinuierliches Wirtschaftswachstum weitere strukturelle Änderungen des wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Rahmens erforderlich, wie etwa weitere Land- und Arbeitsmarktreformen, Privatisierungen von staatlichen Unternehmen und Reformen in der Justiz, insbesondere hinsichtlich der Beschleunigung der Verfahren. Es bleibt also einiges zu tun, um den Subkontinent langfristig zukunftsfähig für ausländische Investitionen aufzustellen. Gleichzeitig sprechen die indischen sozio-ökonomischen Kerndaten eine eindeutige Sprache: An einem Engagement in Indien kommt mittel- bis langfristig kein Unternehmen mit globalen Ambitionen vorbei.
Aber auch andersherum ist und bleibt Indien für Deutschland enorm wichtig: “Make in India” und “Make it in Germany” versinnbildlichen insofern eine nächste Stufe der bilateralen Beziehungen.
Dr. Katharina Parameswaran, M.A., Richterin, und Dr. Benjamin Parameswaran, Rechtsanwalt, beide Hamburg