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RIW 2017, I
Hagedorn 

Deutsch-niederländische Rechtsbeziehungen im Scheinwerferlicht

Abbildung 1

In Deutschland werden die deutsch-niederländischen Handelsbeziehungen generell unterschätzt. Der bilaterale Handel (Import und Export) zwischen Deutschland und den Niederlanden betrug 2016 ca. 163 Milliarden Euro. Für Deutschland bedeutet dies, dass die Niederlande nach den Vereinigten Staaten, Frankreich und dem Vereinigten Königreich auf dem vierten Platz der wichtigsten Handelspartner stehen. Und zwar noch vor der Volksrepublik China! Das deutsch-niederländische Handelsvolumen (also alle Güter und Dienstleistungen) rangiert damit weltweit auf dem zweiten Platz. Nur das Handelsvolumen zwischen den Vereinigten Staaten und Kanada ist größer.

Die Wichtigkeit und die Größe der Handelsbeziehungen zwischen den Niederlanden und Deutschland lassen sich schon allein aus dem Handel der Niederlande mit dem Bundesland Nordrhein-Westfalen erkennen. Für Nordrhein-Westfalen sind die Niederlande der wichtigste Handelspartner sowohl hinsichtlich des Imports als auch des Exports. Es soll in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben, dass der gesamte Export der Niederlande allein in das Bundesland Bayern genauso groß ist wie der gesamte niederländische Export in die Volksrepublik China.

Es kann deshalb auch nicht verwundern, dass beinahe 400 000 Deutsche in den Niederlanden wohnen und damit dort eine der größten “ethnischen” Minderheiten bilden. Im Vergleich wohnen ca. 150 000 Niederländer in Deutschland, wobei beinahe die Hälfte von ihnen in Nordrhein-Westfalen ansässig ist. Außerdem ist Deutschland seit Jahren Urlaubsland Nr. 1 der Niederländer und hat Frankreich von diesem Platz verdrängt.

Wer diese besonderen Zahlen auf sich wirken lässt, kann sich vorstellen, wieviel juristische Beratung mit diesem bilateralen Handel zusammenhängt. Es ist in der Tat erstaunlich, dass es bis jetzt kein umfassendes juristisches Buch gab, das in Deutsch einen Überblick über das niederländische Handels- und Gesellschaftsrecht gegeben hat. Diese Lücke soll mit dem im Mai erschienenen Buch “Niederländisches Wirtschaftsrecht” geschlossen werden, welches von Dr. Adrianus Tervoort, Anwalt in Den Haag, und dem Autor dieser Zeilen herausgegeben worden ist. Die beiden Herausgeber hoffen, mit diesem Buch einen weiteren Beitrag zu den hervorragenden bilateralen Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und den Niederlanden zu leisten und den Ausbau dieser Beziehungen noch zu verbessern.

In dem Buch sind alle relevanten Rechtsgebiete behandelt, die für Unternehmer und Unternehmen von Bedeutung sind, wenn sie mit dem niederländischen Recht konfrontiert werden. Es wird nicht nur das gesamte Gesellschaftsrecht behandelt, sondern auch das allgemeine und besondere Vertragsrecht, M&A, Insolvenzrecht, Arbeitsrecht usw. Auch das stark vom deutschen Recht abweichende niederländische Prozessrecht und die Schiedsgerichtsbarkeit werden erläutert.

Das Buch – so seine Zielsetzung – soll den Zugang für deutsche Unternehmen zum niederländischen Markt erleichtern. Selbstverständlich richtet sich das Werk auch an Unternehmen und Unternehmer in anderen Ländern, wenn diese sich einen Überblick über das niederländische Recht in deutscher Sprache verschaffen wollen. In erster Linie aber leistet es Hilfestellung für Justiziare, selbstständig praktizierende Rechtsanwälte und auch Gerichte in Deutschland. Die erstaunlich vielen Rechtsunterschiede können hier nicht im Detail besprochen werden, aber in dem Buch werden vielfach die Abweichungen zum deutschen Recht besonders hervorgehoben. Einige Beispiele:

Der Geschäftsführer einer GmbH nach niederländischem Recht hat z. B. ein Anwesenheits- und Beratungsrecht in der Gesellschafterversammlung. Dieses Recht geht sogar soweit, dass der Geschäftsführer in der Gesellschafterversammlung, die über die Suspendierung oder die Kündigung dieses Geschäftsführers beschließen soll, zu dieser Entscheidung seinen Rat abgeben darf. Wenn dies nicht beachtet wird, ist z. B. der Entlassungsbeschluss anfechtbar. In Deutschland weitgehend unbekannt ist auch die Ondernemingskamer, ein besonderer Senat beim Oberlandesgericht in Amsterdam, zuständig für die ganzen Niederlande. Dieser Senat entscheidet über Streitigkeiten zwischen Gesellschaftsorganen und hat weitreichende Einwirkungsrechte wie z. B. die Entlassung und Neubenennung von Geschäftsführern oder Aufsichtsräten bis hin zur Anordnung der Verwaltung der Gesellschaftsanteile.

Der niederländische Maßstab von Redlichkeit und Billigkeit ist nicht vergleichbar mit dem deutschen Grundsatz von Treu und Glauben, obwohl die gesetzlichen Regelungen beinahe übereinstimmen. Hier liegt ein typisches Beispiel vor für eine erhebliche Abweichung von Gesetzeswortlaut und Rechtspraxis. Der erwähnte Grundsatz zieht sich durch das gesamte materielle Recht. Gerichte können deshalb bei der Vertragsauslegung aus Billigkeitserwägungen umfassend in die Rechts- und Vertragsverhältnisse eingreifen und z. B. die Anwendung vertraglicher Bestimmungen ausschließen.

Im Arbeitsrecht sollte man wissen, dass eine Kündigung eines Arbeitnehmers immer einer Genehmigung entweder der Sozialbehörde oder des Gerichts vorab bedarf, wenn es nicht zu einem Aufhebungsvertrag kommt. Eine Karenzentschädigung beim nachvertraglichen Wettbewerbsverbot ist im niederländischen Recht nicht zwingend vorgeschrieben. Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall läuft über zwei Jahre.

Aus diesen Beispielen sollte deutlich geworden sein, wie unterschiedlich die beiden Rechtssysteme im Detail sind und welchen Informationsbedarf es im deutsch-niederländischen Rechtsverkehr gibt.

Professor Dr. Axel Hagedorn, Rechtsanwalt/Advocaat, Amsterdam

 
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