Akkreditive in der Corona-Krise – quo vadis?
Nein, es war reiner Zufall, dass die ICC am 25. 3. 2020 die ICC Force Majeure Clause 2020 veröffentlicht hat – zu einem Zeitpunkt, in dem kein Zweifel mehr daran bestanden haben dürfte, dass die Corona-Pandemie grundsätzlich ein Ereignis Höherer Gewalt darstellt. Für Verträge, die zu diesem Zeitpunkt schon bestanden, ist diese Klausel nicht von Relevanz. Relevant ist, soweit für Bestandsverträge vereinbart, wohl aber deren Vorgängerversion, die ICC Force Majeure Clause 2003. Im Ergebnis wirkt sich dies allerdings nicht aus, da beide Versionen Epidemien als Ereignis Höherer Gewalt umfassen. Die Klauseln betreffen in der Praxis immer nur das Grundgeschäft, nicht aber die zu dessen Besicherung eröffneten Dokumentenakkreditive. Die hierfür bestimmten Einheitlichen Richtlinien und Gebräuche für Dokumentenakkreditive in der Fassung der ERA 600 und die für die Vorlage von elektronischen Dokumenten entwickelten el.ERA in der Version 2.0 umfassen jedoch akkreditivspezifische Bestimmungen bezüglich Höherer Gewalt in Art. 36 ERA 600 bzw. Art. e14 el.ERA Version 2.0, nach denen eine Haftung der Banken für die Folgen der Unterbrechung ihrer Geschäftstätigkeit durch Fälle Höherer Gewalt ausgeschlossen wird.
Was bedeutet dies nun für das Akkreditivgeschäft in Zeiten von Corona? Trotz der Vorlage des als Akkreditivdokument vereinbarten Transportdokuments durch den Akkreditivbegünstigten kann der Abnehmer der Ware ungeachtet der Bestätigung der Übernahme der Ware durch den Frachtführer aufgrund vielfältiger Corona-bedingter Gründe nicht sicher sein, dass die Ware tatsächlich bei ihm ankommt. Auf der anderen Seite wird aber der Zahlungsanspruch aus dem Akkreditiv ausgelöst, wenn das Transportdokument mit den anderen Akkreditivdokumenten akkreditivkonform und fristgerecht vorgelegt wird. Das Geld aus dem Akkreditiv wird dann sicher fließen, unabhängig davon, ob die Ware tatsächlich bei dem Käufer ankommt – ein Risiko, das in Zeiten vor der Corona-Krise noch kalkulierbar war.
Selbst durch die Vereinbarung einer D-Klausel der Incoterms® 2020 im Grundverhältnis, wonach der Gefahrübergang erst am Bestimmungsort erfolgt, und aufgrund der Lieferpflicht des Verkäufers bis zum Bestimmungsort kann hier kaum eine zufriedenstellende Abhilfe geschaffen werden. Denn aufgrund des Abstraktionsprinzips kann der Käufer bei nicht erfolgter Lieferung nur gegenüber dem Verkäufer vorgehen, was aber in Zeiten von Corona im Auslandsgeschäft noch weniger von Erfolg gekrönt sein dürfte als zu normalen Zeiten. Die Lösung des Problems aus Käufersicht bestünde darin, dass als weiteres Akkreditivdokument eine Bestätigung des Käufers über den Erhalt der Ware vorgelegt werden muss. Verkäufer mit Marktmacht werden sich darauf aber nicht einlassen, weil dann ein strapaziertes Akkreditiv vorläge, das sie ohne Mitwirkung des Käufers nicht in Anspruch nehmen könnten. Dann würde der im Akkreditivrecht verwendete Begriff “Joker” für den Importeur so richtig an Bedeutung gewinnen. Nach alledem muss im Kräfteverhältnis der Vertragsparteien nach einer individuellen Risikoverteilung gesucht werden.
Einfacher gesagt als getan! Ohne eine Mitwirkung der Banken wird es jedoch schwierig sein, eine passende Lösung zu finden. Hierfür müssen einzelfallspezifisch notfalls neue Wege beschritten werden, die noch bis Mitte März 2020 in Bausch und Bogen verworfen worden wären. Auf der Ebene der Akkreditivabwicklung besteht jedoch ein größerer Handlungsspielraum, der angesichts der sich aus der Corona-Krise ergebenden Handlungsnotwendigkeiten wohl auf entsprechende Umsetzungsbereitschaft bei den Banken treffen dürfte, zumal mit individuellen Regelungen für sie selbst Vorteile verbunden sein können. Außerdem könnte eine schlechte Performance der Bankkunden erhebliche mittelbare Auswirkungen auf die Banken haben, wie etwa Liquiditätsschwierigkeiten des Bankkunden, die die Einhaltung des Tilgungsdiensts bei bestehen Unternehmensfinanzierungen gefährden oder zur Beendigung einer Betriebsmittelkreditlinie führen könnten, die auch für Akkreditive in Anspruch genommen werden kann.
Aber am Ende des Tunnels ist Licht zu sehen. Der von der ICC im April 2020 vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie veröffentlichte Leitfaden mit dem Titel “Guidance paper on the impact of COVID-19 on trade finance transactions issued subject to ICC Rules” stellt eine wertvolle Hilfestellung zur Überwindung der Corona-bedingten Probleme dar. Ein Allheilmittel kann er zwar auch nicht bieten, zeigt aber sehr brauchbare Lösungsansätze auf. Zentrale Punkte darin sind Modifizierungen der einschlägigen ICC-Richtlinien, wie etwa die Verlängerung von Vorlegungsfristen, alternative Lösungen durch die Umstellung auf digitale Dokumente und Szenarien der Vorlage von Dokumenten mit praxisorientierten Hinweisen.
Aufgrund der hohen Aktualität und besonderen Tragweite der Corona-bedingten Probleme hat die ICC es sich dankenswerterweise zum Ziel gesetzt, FAQs im Zusammenhang hiermit auf ihrer Website zu beantworten. Auch damit leistet sie einen wertvollen Beitrag, die schwierige Situation zu meistern. Jedoch alle müssen an einem Strang ziehen!
Klaus Vorpeil, Rechtsanwalt, Mainz