Zu viel Zucker, Fett und Salz: Wer rettet die dicken Kinder von Landau?
Prof. Dr. Murad Erdemir
„Mama, mehr Zucker ins Cola“. „Mama, bring ma’ die Chipse“. „Mama, der Papa hat’s gegessen“.
Die etwas älteren Semester werden sie noch kennen: „Die dicken Kinder von Landau“. Die Erfolgs-Kultserie aus den frühen Jahren 1996 und 1997 der „Harald Schmidt Show“. Der dicke Guido, seine unfassbar dicke Schwester Petra und der unübertroffen dicke Hausmeistersohn Ronnie erleben zusammen die größten Abenteuer und gehen gemeinsam durch dick und dünn. „Dirty Harry“ äußerte sich zu aktuellen Themen und nahm dabei kein Blatt vor den Mund. Denn Landau war bereits damals gleich nebenan. Und heute hat Deutschland ein echtes Problem. Wiegen die Kinder in ihren ersten fünf Lebensjahren im Durchschnitt genauso viel wie vor 25 Jahren, so leiden heute über 15 Prozent der Schülerinnen und Schüler an Übergewicht und Adipositas.
Ende Februar hat nun das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) die Reißleine gezogen und den Referentenentwurf zu einem Gesetz zum Schutz von Kindern vor Werbung für Lebensmittel mit hohem Zucker-, Fett- oder Salzgehalt (Kinder-Lebensmittel-Werbegesetz – KWG) vorgelegt. Seitdem tobt ein mit harten Bandagen geführter Streit über das Werbeverbot von Lebensmitteln. Denn die Idee, die hinter dem Vorstoß des Bundesernährungsministers Cem Özdemir steckt, ist zwar gut. Das vorgelegte KWG hingegen ist es aber nicht.
Zunächst einmal: Das Vorhaben des BMEL betrifft Fragen der Medienregulierung und liegt damit in der Gesetzgebungskompetenz der Länder. Dabei existiert auf Basis der AVMD-Richtlinie bereits eine Werbevorschrift nach § 6 Abs. 7 Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV), wobei eine einheitliche Praxis der Werbewirtschaft durch die bundesweit für Rundfunk und Telemedien geltenden Verhaltensregeln des Deutschen Werberates für Lebensmittel sichergestellt ist (Schwartmann, in: Bornemann/Erdemir [Hrsg.], JMStV, Kommentar, 2. Aufl. 2021, § 6 Rn. 58 ff.).
Und wie verhält es sich mit der materiellen Verfassungsmäßigkeit? Klar ist: Werbung selbst macht nicht dick. Und was die mittelbare Wirkung von Werbung auf den Body-Mass-Index anbelangt, so belegen wissenschaftliche Studien bislang allenfalls einen marginalen Zusammenhang. An dieser Stelle kommt ein Vorrecht des Gesetzgebers ins Spiel, das wir bereits aus dem Jugendmedienschutzrecht kennen: Ihm wird in einer wissenschaftlich nicht abschließend geklärten Situation, in der die Möglichkeit einer Gefahr für bedeutsame Rechtsgüter nicht ausgeschlossen werden kann, eine Einschätzungsprärogative eingeräumt. Hieraus ergibt sich allerdings keine Blankovollmacht. Vielmehr gelten für einen nur unter Berufung auf die Einschätzungsprärogative zu legitimierenden Grundrechtseingriff erhöhte Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit.
Und hier offenbart das Gesetz einen eklatanten Mangel: Man hat es schlichtweg versäumt, Art. 5 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 GG mitzudenken. Dabei sind Eingriffe im Bereich der Refinanzierungsgrundlagen von Medienunternehmen vor dem Hintergrund der Grundrechte der Rundfunkfreiheit und der Berufsausübungsfreiheit besonders sorgsam zu prüfen. Und die ökonomischen Folgen für die Medienlandschaft sind enorm. Nach Berechnungen von Marktforschern wandern rund 80 Prozent der Werbeausgaben von Lebensmittelherstellern in den Rundfunk. Die privaten Fernseh- und Radiosender würde das tiefgreifende Werbeverbot mit Abstand am härtesten treffen. Eine unmittelbare Gefahr für die Medienvielfalt und unser duales Rundfunksystem wäre vorprogrammiert.
Die vorliegend praktizierte Brechstangen-Methode kann folglich nicht der Weg sein. Zumal sich die angebotsinhaltliche Regulierung nicht auf „an Kinder gerichtete“ Werbung beschränkt. Und Ursachen wie Information, Aufklärung, sozialökonomischer Status und Bewegungsmangel zu kurz kommen. Dabei ist es kein Geheimnis, dass Kinder aus ökonomisch schwachen und bildungsbenachteiligten Familien überproportional von Übergewicht und Adipositas betroffen sind. Ebenso steht fest, dass für die Erziehung und Ernährung der Kinder nicht der Staat, sondern zuvörderst die Eltern verantwortlich sind. Nichts anderes gilt für den Jugendmedienschutz.
Möglicherweise ist jedoch genau das der Plan: Zunächst vorzupreschen, um danach wieder einige Schritte zurückzugehen. Möglicherweise hat Cem Özdemir – ebenso wie einst Harald Schmidt – einfach nur Lust am kalkulierten Tabubruch. Und hat am Ende sogar alles richtig gemacht. Denn der Schlachtennebel um das Lebensmittelwerbeverbot wird sich lichten. Und die längst überfällige Debatte fängt gerade erst an.
Ob Harald Schmidt sich daran beteiligen wird? Ich würde es mir wünschen!
Prof. Dr. Murad Erdemir*
* | ist Direktor der Medienanstalt Hessen. Er hat an der Georg-August-Universität Göttingen eine Honorarprofessur für Medienrecht inne und lehrt zudem Jugendmedienschutzrecht am Mainzer Medieninstitut. Er ist u. a. Herausgeber des Praxishandbuchs „Das neue Jugendschutzgesetz“ und Mitautor des Münchener Anwaltshandbuchs „Urheber- und Medienrecht“. |