Livestreaming in der Corona-Krise – der Anfang vom Ende des linearen Rundfunkbegriffs?
Die Bekämpfung der Corona-Pandemie sorgt in allen Lebensbereichen für gravierende Einschnitte. In allen Lebensbereichen? Nein! Der Bereich der audiovisuellen Medien stemmt sich gegen den Trend zur Freiheitsbeschränkung: Wenn “physische” Versammlungen, Konzerte oder Gottesdienste ausfallen, können sie als “virtuelle Veranstaltungen” via Livestream ins Netz umziehen. Dadurch mutiert aber ein Veranstalter ungewollt zum “Rundfunkveranstalter”, wenn sein Angebot einen linearen Informations- und Kommunikationsdienst formt – mithin eine zeitgleiche Verbreitung entlang eines Sendeplans (§ 2 Abs. 1 S. 1 RStV) erfolgt und kein Bagatellfall nach § 2 Abs. 3 RStV vorliegt. Eigentlich stellt § 20 Abs. 1 RStV die Rundfunkveranstaltung unter ein Zulassungserfordernis. Indes verzichteten die Landesmedienanstalten ob der außergewöhnlichen Umstände auf die Prüfung des Rundfunkcharakters und ließen stattdessen vorübergehend die bloße Anzeige von rundfunknah gestalteten Livestream-Angeboten genügen.
Die freiheitsfreundliche Rechtshandhabung durch die Regulierer beschert den zahlreichen neuen Streaming-Anbietern Rechtssicherheit. Zugleich legt sie aber die Schwäche des gesetzlichen Rundfunkbegriffs schonungslos offen: Einst war die Rundfunkveranstaltung wenigen Sendern vorbehalten, was das verfassungsrechtliche Bedürfnis nach einem präventiven Verbot mit Erlaubnisvorbehalt erklärte. Heutzutage aber kann nahezu jeder “Rundfunkintendant” sein. Zudem tummeln sich lineare wie nichtlineare Angebote in wettbewerblicher Koexistenz auf denselben Plattformen, die Nutzer wechseln sie ebenso beliebig wie einst die Programme aus dem Röhrenfernseher. Dass Linearität weder notwendiges noch hinreichendes Merkmal für eine – die Rundfunkregulierung nach Ansicht des BVerfG begründende – herausgehobene Aktualität, Breitenwirkung und Suggestivkraft ist, widerlegen reichweitenstarke Streaming-Plattformen oder namhafte YouTuber eindrucksvoll. Die an die Linearität anknüpfende Regulierung entfernt sich daher immer weiter von ihrer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung: Dem (weiteren) Rundfunkbegriff des Art. 5 GG ist es gleich, ob ein audiovisuelles Angebot linear oder nichtlinear dargebracht wird; er dient dem Schutz des freien Meinungsbildungsprozesses vor missbräuchlich einsetzbarer Meinungsmacht. Mag auch der irreversible Charakter von Live-Angeboten bis zu einem gewissen Grad ein höheres Missbrauchspotenzial indizieren, kann der immense Einfluss von Abrufangeboten auf die Meinungsbildung nicht ignoriert werden.
Aus verfassungsrechtlicher Sicht sind somit lineare Angebote tendenziell über- und Abrufangebote tendenziell unterreguliert. Dies erfordert nun keineswegs eine Ausdehnung der Zulassungspflicht auf nichtlineare Angebote. Allerdings drohen Freiheitsgefährdungen im audiovisuellen Mediensektor zum einen durch eine unzureichende Vielfaltssicherung, wenn Anbieter nichtlinearer Dienste nach dem auf Fernsehveranstalter zugeschnittenen Medienkonzentrationsrecht keine “vorherrschende Meinungsmacht” (§ 26 Abs. 1 RStV) erlangen können. Zum anderen wird auch die Sicherung der Staatsferne zunehmend prekär, wie sich in der Shutdown-Phase deutlich zeigt: Juristischen Personen des öffentlichen Rechts mit Ausnahme von Kirchen und Hochschulen ist nämlich allein die Rundfunkveranstaltung untersagt (§ 20 a Abs. 3 RStV); Kultur- und Bildungseinrichtungen in staatlicher Trägerschaft bleibt somit in vielen Fällen das regelmäßige Streaming von Veranstaltungen verwehrt. Hingegen können beispielsweise Regierungsmitglieder mit regelmäßigen Abrufangeboten beachtliche Reichweiten – zumal in Krisenzeiten – erzielen und damit die Grenzen zulässiger staatlicher Informationsarbeit zumindest ausreizen.
Sollte am 1. 9. 2020 tatsächlich der neue Medienstaatsvertrag in der von den Ministerpräsidenten ausgehandelten Form in Kraft treten, profitierten Livestream-Anbieter zwar vom engeren Sendeplanbegriff in § 2 Abs. 2 Nr. 2 und den weiten Ausnahmen von der Zulassungspflicht in § 54 Abs. 1; am linearen Rundfunkbegriff hielten die Länder gleichwohl fest. Noch könnten die Landesparlamente korrigierend eingreifen und auf eine flexiblere, an das tatsächliche Einflusspotenzial audiovisueller Mediendienste anknüpfende Regulierung drängen. Es wäre freilich ein für den Prozess föderaler Mediengesetzgebung ungewohntes Aufbegehren der Legislative gegen die vereinigte Riege der Regierungschefs. Doch könnten die Abgeordneten dadurch beweisen, dass die Corona-Pandemie auch dauerhafte Freiheitsgewinne hervorzubringen vermag. Zumindest im Bereich der audiovisuellen Medien.
Dr. Frederik Ferreau, Köln