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K&R 2016, I
Buttarelli 

Grundrechte und Big Data

Abbildung 1

Europäischer Datenschutzbeauftragter Giovanni Buttarelli, Brssel

Die Menschenrechte sollen die Gewähr dafür bieten, dass der Einzelne im politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bereich unter allen Umständen respektvoll behandelt wird und seine Würde gewahrt bleibt.

Allerdings sind die Menschenrechte selbst deutlich älter als die zugehörige Terminologie. Sie soll erst in der Amtszeit von Jimmy Carter als Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika allgemeine Verbreitung gefunden haben; er hatte sich dazu verpflichtet, die “Menschenrechte zu einem wesentlichen Grundsatz unserer Außenpolitik zu erheben”. Die Europäische Union verwendet vorzugsweise den Begriff “Grundrechte”, und der Schutz der Grundrechte ist spätestens seit dem wegweisenden Urteil des EuGH im Jahr 1970 im Fall Internationale Handelsgesellschaft als wesentlicher Bestandteil des EU-Rechts anerkannt.

In sechs wichtigen Menschenrechtsverträgen sind die folgenden Bereiche erfasst: bürgerliche und politische Rechte, Diskriminierung aus Gründen der Rasse, Diskriminierung von Frauen, Folter und grausame, unmenschliche und erniedrigende Behandlung oder Bestrafung, die Rechte des Kindes und die Rechte von Wanderarbeitnehmern und ihren Familien. Die rechtlichen Bestimmungen dieser Instrumente an sich bewahren schutzbedürftige Einzelpersonen nicht vor Missbrauch und Herabwürdigung: Von den über 150 Unterzeichnerstaaten stehen viele in offenem Widerspruch zu den Menschenrechten.

In den vergangenen zehn Jahren wurden die europäischen Grundwerte Solidarität und Grundrechte mehrmals auf eine harte Probe gestellt, unter anderem durch Wirtschaftskrisen und den massiven Zustrom von Menschen aus Kriegsgebieten am Rande des Kontinents. Hinzu kam, dass die massive Überwachung der privaten Kommunikation der einzelnen Bürger durch Regierungsstellen aufgedeckt wurde. Die Berichte der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte legen Zeugnis davon ab, wie fragil die Rechte und Freiheiten des Einzelnen in einer Region sind, in der die Charta der Grundrechte seit sieben Jahren zum Primärrecht gehört.

Dies macht deutlich, dass das Vorhandensein des Rechts allein nicht genügt. Um ein Recht in der Praxis zu wahren und zu schützen, müssen ein hohes Maß an verantwortlichem politischen Handeln und echte Rechenschaftspflicht gegeben sein. Dies gilt gleichermaßen für die analoge und die digitale Welt.

Big Data steht als Kürzel für die Erfassung großer Datenmengen und für komplexe Analysemethoden, die die digitale Revolution vorantreiben. Während “Data” an sich ein neutraler Begriff ist, wurde sein Synonym “Information” lange Zeit mit Macht und Kontrolle in Verbindung gebracht. Der Umgang mit personenbezogenen Daten – Informationen, die die Identifizierung eines Einzelnen oder die Suche nach einer einzelnen Person ermöglichen – ist bereits seit mehreren Jahrzehnten in bestimmten Rechtsvorschriften geregelt. Ziel dieser Rechtsvorschriften ist es, die Qualität d. h. die Genauigkeit und Relevanz der Daten zu erhalten und zu verhüten, dass die Daten zum Nachteil des Betreffenden verwendet werden könnten.

In der Vergangenheit war es schwierig, an Informationen zu gelangen. Sie befanden sich häufig unter Verschluss in Archiven und konnten leicht zerstört werden. In den zurückliegenden zwei Jahrzehnten hat sich die Situation durch die Leistungsfähigkeit von Rechnern, die Minimierung der Kosten für die Datenspeicherung und die Möglichkeit, Informationen innerhalb von Nanosekunden zu übertragen, grundlegend geändert. Die Menschenrechtsnormen standen immer in Beziehung zum Tun und Lassen von Menschen, d. h. die bewussten Handlungen eines Menschen hatten Auswirkungen auf einen anderen Menschen. Doch selbst diese zentralen Grundannahmen haben durch den technologischen Wandel ihre Gültigkeit verloren. Selbstlernende Algorithmen können Finanzdaten und Informationen der sozialen Medien verarbeiten, um die Kreditwürdigkeit einer bestimmten Person zu prüfen; sie können Autos lenken – mit möglicherweise tödlichen Folgen.

Immense Mengen an personenbezogenen Daten werden gesammelt und gewinnbringend genutzt, bislang in der Regel für gezielte Werbung. Personenbezogene Informationen sind “bei nahezu allen Online-Transaktionen das wesentliche Merkmal des Wertaustauschs” (Tene und Polonetsky, 2012). Das Online-Verhalten der Menschen wird unablässig und in der Regel verdeckt von Hunderten von Stellen in einem Ausmaß überwacht, dass die meisten von uns in der realen Welt als völlig unannehmbar ablehnen würden.

Auf dem Weltwirtschaftsforum wurde in diesem Jahr die These diskutiert, dass wir die digitale Revolution des Internets und die IKT-gestützte automatische Produktion hinter uns lassen und uns auf dem Weg in die Ära “Industrie 4.0” befinden, in der virtuell-physikalische Systeme physikalische Prozesse überwachen, eine virtuelle Kopie der realen Welt schaffen, dezentral Entscheidungen treffen und untereinander sowie mit Menschen über das Internet der Dinge kommunizieren.

Wie im “ersten Informationszeitalter” zu Beginn des 19. Jahrhunderts kann die Verbreitung von Daten für soziale und politische Zwecke nutzbar gemacht werden, um das Verhalten der Menschen zu verstehen und zu steuern. Die Bestrebungen in der heutigen digitalen Gesellschaft, Einzelpersonen entweder zur Gewinnerzielung oder zur Durchsetzung von Recht und Ordnung zu klassifizieren und einzuordnen, stellen für die Grundrechte auf Privatsphäre, Meinungsfreiheit und Nichtdiskriminierung eine große Belastung dar.

Alle Revolutionen im Namen des Fortschritts lösen Besorgnis aus und haben in der Regel nachteilige Auswirkungen; zudem erfordern sie eine völlige Neuorientierung der Gesellschaft. Wir sehen daher die dringende Notwendigkeit, uns mit der Frage auseinanderzusetzen, wie sichergestellt werden soll, dass die Gesellschaft insgesamt Nutzen aus der mit Big Data verbundenen Revolution zieht und die Rechte des Einzelnen nicht beeinträchtigt werden. Stellen wie die meinige, deren Aufgabe es ist, sich für den Datenschutz und den Schutz der Privatsphäre einzusetzen, müssen auch weiterhin in vollem Umfang in diese Diskussionen innerhalb der EU und weltweit eingebunden werden.

Die Tradition der Grundrechte im Zeitalter von Small Data ist lang; nun können und müssen die Weichen für die Grundrechte in der Zeit von Big Data gestellt werden.

Europäischer Datenschutzbeauftragter Giovanni Buttarelli, Brüssel

 
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