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INTER 2022, 141
Müller 

Arbeitszeiterfassung als organisatorisches Problem – innovative Lösungen sind gesucht!

Abbildung 1

Die Mitteilung zum Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 13.9.2022 (1 ABR 22/21) kam in dieser Form unerwartet. Arbeitgeber sind bereits aufgrund der Vorschrift des § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG verpflichtet, eine systematische Erfassung der täglichen Arbeitszeit sicherzustellen. Zum Hintergrund: Der EuGH hatte zuvor (14.5.2019, Rs. C-55/18 – CCOO) unter Hinweis auf Art. 3, 5 und 6 der Arbeitszeit-RL 2003/88/EG entschieden, dass die Mitgliedstaaten Arbeitgeber verpflichten müssen, ein „objektives, verlässliches und zugängliches System“ einzurichten, mit dem die täglich geleistete Arbeitszeit von Beschäftigten erfasst werden kann. Die noch immer geltende Regelung des § 16 Abs. 2 ArbZG, die keine vollumfängliche Aufzeichnung der Arbeitszeit verlangt, genügt diesen Anforderungen nicht, weshalb die Fachwelt die – durch die Diskontinuität des 19. Bundestags Ende 2021 unterbrochene – Rechtsänderung des Bundesgesetzgebers erwartete. Der oben angesprochene Rechtsstreit vor dem BAG wurde von Betriebsratsseite angestrengt, um ein Mitbestimmungsrecht bei technischen Kontrolleinrichtungen (§ 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG) im Kontext der unionsrechtlich geforderten systematischen Zeiterfassung zu initiieren bzw. zu erzwingen. Zwar hat der EuGH keine konkreten Vorgaben zu den konkreten Modalitäten der dem Arbeitgeber obliegenden Erfassungspflicht gemacht, sondern an die Mitgliedstaaten überantwortet, jedoch wird in zahlreichen Unternehmen die Umsetzung in digitaler bzw. elektronischer Form naheliegen. Nunmehr leitet das BAG eine arbeitgeberseitige Pflicht zur umfassenden Arbeitszeiterfassung bereits aus der oben angeführten, sehr allgemein gehaltenen Vorschrift des ArbSchG her, wonach der Arbeitgeber zur Durchführung von Maßnahmen des Arbeitsschutzes für eine geeignete Organisation zu sorgen und die erforderlichen Mittel hierfür bereitzustellen hat. Angesichts der (eindeutigen?) gesetzlichen Verpflichtung sei auch für eine betriebliche Mitbestimmung nach § 87 BetrVG Raum – für die Klägerseite ein sicher überraschendes Ergebnis.

Da die Gründe der Entscheidung des BAG vom 13.9.2022 noch nicht vorliegen, kann eine abschließende Bewertung des Urteils noch nicht erfolgen, insbesondere lässt sich noch nicht abschätzen, in welchem Maße die Erwägungen „unionsrechtsgetrieben“ sind. Auf Ebene des Bundesrechts erscheint es in rechtssystematischer Hinsicht zumindest ungewöhnlich, wenn aus dem sehr offen gehaltenen § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG deutlich konkretere Vorgaben als in der als Sonderregelung gedachten, wiewohl nach unionsrechtlichen Maßstäben unzureichenden, dezidiert arbeitszeitrechtlichen Vorschrift des § 16 Abs. 2 ArbZG entnommen werden. Immerhin wird man die BAG-Entscheidung als Signal zur Stärkung der Arbeitnehmergesundheit und – damit korrespondierend – zur Betonung der Arbeitgeberverantwortung für die Gesundheit von Beschäftigten vor Arbeitsüberlastung interpretieren dürfen. Die künftigen Modi der umfassenden Arbeitszeiterfassung stehen damit freilich noch nicht fest. Nach der Entscheidung des EuGH erschien eine Selbstdokumentation durch den Arbeitnehmer nicht ausgeschlossen (so Fuhltrott, NZA-RR 2019, 343), was insbesondere für flexibilisierte Arbeitsformen wie Homeoffice und Vertrauensarbeit praktikabel sein dürfte. In dem Maße wie das BAG die Arbeitszeiterfassung nunmehr zuvörderst als Organisationsaufgabe einordnet, wird der Weg der Selbstdokumentation wohl allenfalls unter strengen Anforderungen an die Überprüfung seitens des Arbeitgebers gangbar sein. Von der zuweilen eingeforderten Eigenverantwortung des Arbeitnehmers (so insbesondere Latzel, EuZA 2019, 469, 477) bleibt nicht mehr viel übrig. Mögen die Entscheidungsgründe aus Erfurt weitere Klarheit – und hinreichende Flexibilität! – namentlich für die betroffenen Unternehmen bringen.

Prof. Dr. Stefan Müller*

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Mehr über den Autor erfahren Sie auf Seite III.

 
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