Die Energiekrise als Impulsgeber für die Vertiefung des Energiebinnenmarktes?
Die Energiepolitik der Mitgliedstaaten ist von den Sachzwängen des EU-Energiebinnenmarktes eingeholt worden
Gut 25 Jahre nach dem Startschuss zur Errichtung des Energiebinnenmarktes ist der in diesem Bereich erreichte Integrationsgrad auf den ersten Blick bemerkenswert: Das einschlägige EU-Sekundärrecht hat mittlerweile die vierte Generation erreicht (sog. Clean energy package, dazu Gundel/Buckler, GewArch 2020, 41 ff.).
Insbesondere die Entscheidung über den Energiemix liegt aber im Ergebnis weiterhin bei den Mitgliedstaaten: Entsprechende unionsrechtliche Vorgaben können nach Art. 194 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV allenfalls einstimmig beschlossen werden. Das hat die Festlegung energiepolitischer Leitplanken zwar nicht verhindert, wie das Beispiel der Erneuerbare-Energien-Richtlinie zeigt; diese beinhaltet jedoch nur ein für die EU insgesamt verbindliches Reduktionsziel (vgl. Art. 3 RL (EU) 2018/2001 v. 11. 12. 2018), nicht aber verbindliche Zielvorgaben für die Mitgliedstaaten.
Zwar ist das Nebeneinander teils sehr unterschiedlicher Versorgungsstrukturen unionsrechtlich betrachtet neutral, die einzelnen Energiewirtschaften sind aber zunehmend miteinander verflochten. Energiepolitische Weichenstellungen eines Mitgliedstaats können daher auch dann gravierende Auswirkungen auf andere Mitgliedstaaten haben, wenn sich die Energiepolitik und die Versorgungsstrukturen so wie etwa in Deutschland und Frankreich grundlegend unterscheiden. Die hierin angelegten Spannungen sind zuletzt an den grundverschiedenen Positionen Deutschlands und Frankreichs im Rahmen der Diskussion um den sog. EU-Gaspreisdeckel (VO (EU) 2022/2578 v. 22. 12. 2022) deutlich geworden (zur Debatte FAZ Nr. 296 v. 20. 12. 2022, S. 17: “Gaspreisdeckel steht”).
Dabei kann zunächst überraschen, dass sich der energiepolitische Dissens zwischen Frankreich und Deutschland ausgerechnet am Gaspreis entzündet hat: Der französische Strombedarf wird zu ca. 70 % durch Atomkraftwerke (AKW) gedeckt (https://t1p.de/m4ar4). Dagegen trägt Gas nur ca. 6,5 % zur Stromerzeugung bei (2021, s. https://t1p.de/2lynf; in Deutschland 2022 ca. 13,3 %, s. https://t1p.de/rafc), der Anteil an Gasheizungen ist in Frankreich wegen des Verbreitungsgrades elektrischer Heizungen (ca. 37 %) um rund 10 % geringer (https://t1p.de/4r8c1) als in Deutschland (https://t1p.de/i83p1), und der Gasverbrauch betrug in Frankreich 2021 insgesamt ca. 43 Mrd. m3 (https://t1p.de/xnn55), in Deutschland ca. 90 Mrd. m3 (https://t1p.de/49co3). Auch war die Abhängigkeit von russischem Gas in Frankreich nie so ausgeprägt wie in Deutschland (der Anteil betrug im Februar 2022 17 %, s. https://t1p.de/31je3).
Allerdings wird der Marktpreis für Strom stark verkürzt (derzeit noch) durch die Kosten desjenigen Kraftwerkes bestimmt, das zur Deckung von Lastspitzen zum Einsatz gelangt (sog. Merit Order) – das ist in der Regel ein Gaskraftwerk, womit der Gaspreis auch für die französische Energieversorgung erhebliche Bedeutung haben kann.
Das galt zuletzt in besonderem Maße, da Frankreich trotz seiner großen AKW- Kapazitäten stark von deutschen Stromimporten (und damit auch stärker von der Gaspreisentwicklung) abhängig war: Mehrere AKW konnten u. a. wegen Wartungsarbeiten nicht mit voller Leistung betrieben werden. Zudem ist der Stromverbrauch in Frankreich wegen des Verbreitungsgrades elektrischer Heizungen besonders temperaturabhängig; hierdurch entstehende Lastspitzen müssen häufig durch deutsche Gaskraftwerke und damit zu höheren Marktpreisen gedeckt werden.
Gleichzeitig ist der Strompreis in Frankreich traditionell ein Instrument der Wirtschaftspolitik und zur Bewahrung der Kaufkraft: Wegen der Rolle amortisierter AKW ist der erzeugte Strom vergleichsweise kostengünstig, und diese (nationalen) Kostenvorteile werden in Frankreich durch hoheitlich regulierte Tarife vor Marktpreisen geschützt, was derzeit noch unionsrechtlich zulässig ist (vgl. Art. 5 Abs. 3-7 RL 2019/944 v. 5. 6. 2019). Preissteigerungen auf dem Strommarkt führen damit nicht zu Preissteigerungen für Endverbraucher, sondern zu Defiziten in erster Linie beim staatlichen Stromversorger Électricité de France; dieser fungiert insoweit als Puffer sowohl für Private als auch für den Staatshaushalt.
Unter anderem vor diesem Hintergrund hatte Frankreich von Anfang an auf eine Deckelung der Gas-Großhandelspreise gedrungen, wohingegen Deutschland u. a. aus Sorge um Versorgungsengpässe die Mehrkosten allein durch (für den Staatshaushalt kostspielige) Zahlungen an Endverbraucher ausgleichen wollte. Im Ergebnis war Frankreich daher zuletzt stark von der deutschen Energiepolitik der vergangenen Jahre und ihren Folgen abhängig, die es – zurückhaltend formuliert – vielfach erstaunen dürfte.
Dieses Beispiel verdeutlicht, dass die Mitgliedstaaten im EU-Energiebinnenmarkt bei der Ausgestaltung ihrer Energiepolitik allenfalls noch punktuell rechtlich autonom, tatsächlich aber längst von den Sachzwängen des Energiebinnenmarktes eingeholt worden sind. Auf Dauer können die hieraus resultierenden Probleme nur durch eine stärkere Koordination gelöst werden, die auch Bereiche betrifft, die wie die Festlegung des Energiemix an sich den Mitgliedstaaten vorbehalten sind – und in denen die EU schon jetzt punktuell vorübergehende Regelungen auf der Grundlage von Art. 122 Abs. 1 AEUV erlässt.
PD Dr. Julius Buckler, Bayreuth