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CB 2024, I
Irmscher 

CB 2024, Heft 1-2, Umschlagteil S. I (I)

ES2G statt ESG? Geopolitik als Compliance-Frage

„Für die Erfüllung der Sorgfaltspflicht genügt nicht die FAZ-Lektüre.“

Es besteht kein Zweifel: Geopolitik hat an Bedeutung gewonnen – für staatliche Akteure, aber auch für Unternehmen. Ganze Geschäftszweige stehen und fallen mit geopolitischen Entscheidungen. In der US-amerikanischen Debatte um ESG wird die Frage nach einem zweiten „G“ für „Geopolitk“ in dem Kürzel ESG bereits gestellt.1 Dem ist jedenfalls materiell zuzustimmen.

Geopolitische Erwägungen und ihre Berücksichtigung in strategischen Unternehmens- und Investitionsentscheidungen sind in der heutigen Welt zwingend. Denn neben der Frage, wie internationale Lieferketten auf EU-Ebene (CS3D) oder in Deutschland (LkSG) mittlerweile – ausgerichtet nach hergebrachten ESG-Zielen – reguliert werden, ist noch viel entscheidender, ob diese Lieferketten in drei oder fünf Jahren realistischerweise überhaupt noch bestehen. Jede Investitionsentscheidung und jede unternehmenspolitische Entscheidung werden sich daran messen lassen müssen. In der Sache sind derartige unternehmerische Beurteilungsspielräume nicht neu – ihre Rolle wird aber aufgewertet und sie werden vermehrt behördlich wie gerichtlich justiziabel: Geopolitische Erwägungen spielen dabei nicht nur im (eingeschränkt kontrollierbaren) Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Angemessenheit von Maßnahmen nach dem LkSG eine (vermeintlich) kleinteilige Rolle. Es geht vielmehr um Haftungsfragen auf ganz klassischem Terrain, wenn Unternehmensverantwortliche ihren Sorgfaltspflichten nach § 93 Abs. 1 AktG bzw. § 116 S. 1 AktG nicht nachkommen, weil sie geopolitische Risiken bei ihren Entscheidungen unberücksichtigt lassen.2 Dabei ist auch zu sehen, dass Geopolitik eine natürliche Nähe zu Sanktionsfragen aufweist, für welche die Legalitätspflicht der Organe gilt. Das naheliegende Gegenargument, dass durch das Überladen des „Unternehmensinteresses“, an dem sich die Geschäftsleitung zu orientieren hat, eine Überfrachtung der Geschäftsleiteraufgaben droht („Too-Many-Masters“-Argument), dürfte mit Blick darauf, dass es auch bei ESG ungehört blieb, nicht verfangen. Auf EU-Ebene ist der Trend zur Festlegung von Pflichten von Leitungsorganen, bis hin zur Schulungspflicht für selbige (Art. 20 Abs. 2 der NIS2-Richtlinie, RL (EU 2022/2555)), ohnehin ungebrochen – und zwar auch mit Blick auf systemische Risiken und die Strategieentwicklung gegen solche.3

Verschließt man sich der obigen Erkenntnis nicht, wird klar, dass Corporate Governance Compliance auch bedeuten muss, dass geopolitische Risiken wie Chancen jedenfalls in die Entscheidungen der Unternehmensleitung eingestellt werden. Doch was bedeutet das konkret? Zunächst ist ein „full picture“ der (geo-)politischen Komponente des Managements von Entscheidungen unabdingbar. Für die Erfüllung der Sorgfaltspflichten von Vorstand und Aufsichtsrat dürfte dabei – überspitzt gesprochen – die Lektüre der FAZ nicht ausreichen. Inwieweit geopolitische Entscheidungen der EU-Kommission, der US-Regierung oder der chinesischen Führung die Investitionsentscheidung in den kommenden Jahren gefährden oder befördern könnten, ist freilich keine exakte Wissenschaft. Selbiges ist aber auch kein Würfelspiel, sondern kann handwerklich sauber und mit erfahrenen Beratern durchaus valide abgeschätzt – und entsprechend mit Wahrscheinlichkeiten gewichtet – in die Entscheidung eingestellt und selbige dokumentiert werden. Diese Kombination von (unternehmens-)politischen und juristischen Aspekten ist kein Neuland in der Public Policy Beratung. Ob nun als ES2G oder ESG – an Geopolitik als Compliance-Frage kommen Unternehmen heute nicht mehr vorbei.

Abbildung 1

Dr. Philipp Irmscher, LL. M. (Harvard) ist Rechtsanwalt im Bereich Public Policy bei WilmerHale LLP in Berlin.

1

Okun/Meyers, Eco-Business News and Opinions v. 9. 10. 2023.

2

Vgl. Walden, NZG 2020, 50, 51.

3

Vgl. etwa Art. 5 Abs. 2 lit. d, Abs. 4 DORA – Verordnung (EU) 2022/2554.

 
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