Die Stabilisierung von Regeln durch Regelbrüche
Eine Regelverletzung ist an sich kein Problem für die Wirksamkeit einer Regel.
Das Erstellen einer Regel ist vergleichsweise einfach. Jede Hausmeisterin kann ein Schild aufhängen, das Ballspielen im Hinterhof verbietet. Aber Regeln werden nur „lebendig“, wenn sie auch „benutzt“ werden, oder wenn man zumindest mit der Möglichkeit rechnen muss, dass dies geschieht.
Die Wirkmächtigkeit von Regeln hängt davon ab, ob sich jemand auf sie beruft, welche Bedeutung dieser Jemand hat, in welcher Situation das geschieht und mit welchen Folgen zu rechnen ist, wenn man diesen Jemand ignoriert. Die Regeleinhaltung wird dabei nicht allein durch diejenigen gewährleistet, die die Regel erlassen. Auch andere können an die Regel erinnern und so dafür sorgen, dass die Wahrscheinlichkeit ihrer Einhaltung steigt. Das Ballspielverbot im Hinterhof wird häufig nicht durch die an diesen Fragen meist desinteressierten Hausmeistern durchgesetzt, sondern durch kinderlose Mieter, die die Einschaltung von Hausmeistern als Drohkulisse für ihre Klagen nutzen.
Ein erstes Kriterium, um die Wirkmächtigkeit von Regeln zu testen, ist, ob die Regelverletzung mühsam versteckt oder offen gezeigt wird. So ist bekannt, dass in Konfliktsituationen Soldaten und Polizisten immer wieder als Gegner eingeschätzte Gefangene misshandeln oder töten. Es macht aber einen zentralen Unterschied, ob diese Misshandlungen und Tötungen öffentlich durchgeführt werden oder im Verborgenen stattfinden. Das Verstecken der Regelabweichung ist dabei immer Ausdruck der eigentlichen Akzeptanz der Regel durch die Abweichler. Das offene Zeigen von Regelabweichungen stellt dagegen die Existenz der Regel an sich in Frage.
Das zweite Kriterium zur Einschätzung der Wirkmächtigkeit ist, wie Regelverletzer sich verhalten, wenn ihr Vergehen bekannt wird. Das Entschuldigen für die Regelverletzung stabilisiert letztlich die Regeln. Dabei kann der vorgebrachte Grund für die Regelabweichung fiktiv und dieser Fiktionsgrad allen bekannt sein. Wichtig ist nur, dass der Versuch, eine entschuldigende Begründung für die Regelabweichung vorzubringen, die Gültigkeit der Regel an sich bestätigt. Die Verweigerung einer Entschuldigung für Regelabweichungen delegitimiert letztlich die Regel. Sie bringt zum Ausdruck, dass man keinen Grund sieht, diese Regel zu akzeptieren.
Das dritte Kriterium betrifft die Frage, wie bei Bekanntwerden der Abweichung mit dem Regelverletzer umgegangen wird. Soll an einer Regel festgehalten werden, müssen diejenigen, die abgewichen sind, damit rechnen, „allein zu bleiben“. Die Isolierung der Regelverletzer trägt dazu bei, dass die Wirkmächtigkeit der Regel erhalten bleibt. Der Präsident eines internationalen Sportverbandes kann über Jahrzehnte korrupte Funktionäre im Vorstand nicht nur dulden, sondern auch bedienen, wird aber auf Distanz gehen, sobald sich diese bei der Bereicherung erwischen lassen und dann die eigene Organisation als Opfer korrupter Einzelpersonen darstellen. Wenn jedoch beim Bekanntwerden einer Regelabweichung nicht die regelverletzenden, sondern die auf Regeleinhaltung drängenden Organisationsmitglieder sozial isoliert werden, geht die Wirkmächtigkeit der Regel verloren.
Kurz – eine Regelverletzung ist an sich kein Problem für die Wirksamkeit einer Regel. Im Gegenteil – wenn die Regelverletzung kaschiert wird, bei deren Bekanntwerden Entschuldigungen vorgebracht werden und Regelverletzer sozial isoliert werden, trägt dies letztlich zur Stützung der Regel bei. Es wird deutlich gemacht, dass man sich den „Luxus“ eines Regelbruchs oder eines Gesetzesverstoßes leisten kann, man aber auch etwaige Konsequenzen zu tragen hat. Darüber hinaus verstärken öffentliche Empörung und Sühnebekenntnisse der Schuldigen, so schon die Beobachtung Émile Durkheims, die Wirkmächtigkeit der verletzten Norm. Wenn dagegen die Normverletzung öffentlich stattfindet, nicht sanktioniert wird oder der Normverletzer sozial nicht isoliert wird, kommt es zu einer Erosion der formalen Normen. Niemand fühlt sich mehr an diese gebunden.
Stefan Kühl, geb. 1966, seit 2007 Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld und Organisationsberater für die Firma Metaplan. Von ihm ist gerade zum Thema Compliance erschienen: „Brauchbare Illegalität. Vom Nutzen des Regelbruchs in Organisationen“ (Campus 2020).