Mehr Agilität im Recht? – Corona als “VUCA”-Stresstest für das Unternehmensrecht
Die COVID-19-Pandemie hat mit der Einschränkung der Kontakte auch die Betriebsorganisation jeder Unternehmung beeinträchtigt. Gesetzgebung, Verwaltung und Unternehmen haben in nie dagewesener Geschwindigkeit darauf reagiert; nicht ohne Adjustierungsbedarfe. Diese Agilität ist prinzipiell kein Sündenfall des Rechtssystems, sondern eine zunehmend wichtige Facette gerade des Unternehmensrechts, bis hin zur Organisation von Rechts- und Compliance-Teams.
Agilität ist als Trendbegriff der Betriebsorganisationslehre keine rechtliche Argumentationsfigur, sondern beschreibt unser Verhalten in einer von Geschwindigkeit (Velocity), Unsicherheit (Uncertainty), Vielschichtigkeit (Complexity) und Mehrdeutigkeit (Ambiguity) – abgekürzt “VUCA” – geprägten Welt (vgl. Seibt, BB 2019, 2563, , 2564). Methodisch ist die Legitimität oder sogar Gebotenheit agilen Verhaltens wohl bei der Verhältnismäßigkeit anzusiedeln.
Am Anknüpfungspunkt der Verhältnismäßigkeit zeigt sich, dass Agilität für die Rechtssetzung ein gefährliches Postulat wäre. So haben die über wenige Tage durch das Gesetzgebungsverfahren gepeitschten COVID-19-Hilfsgesetze an einigen Stellen überschießende Tatbestände geschaffen, die nach kurzer Zeit mit ungeschriebenen Einschränkungen interpretiert werden mussten (vgl. etwa zur Gewerbemiete Weller/Thomale, BB 2020, 962 ff.). Im normalen Gesetzgebungsbetrieb kommt es mitunter vor, dass überschießende Umsetzungen, z. B. europarechtlicher Richtlinien, am praktischen Interesse der Unternehmen vorbeigehen. Ein frappierendes Beispiel ist der Verbrauchsgüterkauf, für den das BGB einen Gewährleistungsregress zum Schutz des Unternehmers gegenüber dem für weniger schutzwürdig gehaltenen Lieferanten/Hersteller aufzwingt. Dabei hat der Gesetzgeber auf die Schnelle übergangen, dass in B2B-Sachverhalten nicht selten der kaufende Unternehmer, z. B. Großhändler, in der strukturell stärkeren Verhandlungsposition ist und die Parteien vereinfachte Gewährleistungsregeln vereinbaren wollen (dazu kritisch S. Lorenz, in: MünchKomm-BGB, 8. Aufl. 2019, § 478 Rdn. 19).
Für die Rechtssetzung sollte Agilität mithin dem Ausnahmezustand der Krise vorbehalten bleiben, ansonsten liefe sie einer nachhaltigen Rechtssicherheit zuwider.
Anders liegen die Dinge für die staatlichen Instanzen, die das Recht erkennen und anwenden. Gerichte und Behörden demonstrieren in der Krise auf beeindruckende Weise ihre prozessuale Agilität, indem sie Zeugen per Video vernehmen und behördliche Frist- und Formvorschriften erleichtern.
Doch auch inhaltlich gibt das Unternehmensrecht Raum für wohlverstandene Agilität, also eine Rechtsanwendung, die sich einlässt auf die konkreten und sich schnell verändernden Geschäftsverhältnisse. Die verfassungsrechtlich verankerte Gesetzesbindung verlangt sogar nach einer dogmatisch fundierten Pragmatik (vgl. Hassemer, ZRP 2007, 213, 215 ff.).
Als unglückliches Beispiel von Pragmatik mag die sog. Bankenrechtsprechung des BGH gesehen werden, die unter dem Stichwort des “Verbraucherschutzes” die Vertragsfreiheit immer weiter ausgehöhlt hat (vgl. zuletzt BGH, 13.3.2018 – XI ZR 291/16, BB 2018, 1805 zum Ausschluss der Individualabrede bei Auswahl aus zwei vorformulierten Varianten für einen Darlehensvertrag).
Demgegenüber erweist sich Behördenhandeln mit Augenmaß immer wieder bei der Bemessung von Bußgeldern als hilfreich, gerade bei den hohen und gespreizten Bußgeldrahmen im Kapitalmarkt-, Datenschutz-, Geldwäsche- und Kartellrecht. In dem Zusammenhang haben etwa die Datenschutz-Behörden in der Vergangenheit bei der Konkretisierung der Bußgeldzumessung besondere Agilität unter Beweis gestellt; etwa die Bund-Länder-Datenschutzkonferenz mit ihrem vorläufigen Bemessungskonzept (abrufbar unter www.bfdi.bund.de), solange die EDSA-Leitlinien ausstehen.
Für Rechts- und Compliance-Teams hält die Krise vor allem in betriebsorganisatorischer Hinsicht Lektionen in Agilität bereit.
Im Ausgangspunkt stellen Rechts- und Compliance-Teams branchenübergreifend fest, dass sie ihre Funktionen bei hinreichender IT-Ausstattung ohne Qualitäts- oder Produktivitätseinbußen aus dem Home Office erfüllen können. Umso mehr wird der Schutz des Datenaustauschs in Video- und Telefonkonferenzen vor Cyber-Attacken und Dysfunktionalität zur Achillesferse der Zusammenarbeit.
Das praktische Bedürfnis, eigenhändige Unterschriften auf ein Mindestmaß zu reduzieren, führt vielerorts zu einer Flexibilisierung der Unterschriftenrichtlinien (Faksimile, elektronische Signatur). In der Zwischenzeit schaffen anwaltliche Teammitglieder der Geschäftsparteien in einigen Fällen pragmatischen Konsens, dass die Berufung auf eine Durchbrechung des Schriftformerfordernisses treuwidrig wäre.
Die Corona Taskforce ist zum Paradebeispiel für agiles Projektmanagement via Scrum geworden. Wer den Rechts- oder Compliance-Bereich hier vertritt, muss den Marschallstab im Tornister tragen und von der dualistischen juristischen Ausbildung beseelt sein, um vom Arbeits- über das Polizei- bis zum Zivilrecht interne und externe anwaltliche Expertise beizusteuern. Auch sonst kommt es in diesen Tagen noch mehr auf Legal Leadership an, und zwar für jedes anwaltliche Teammitglied – abhängig von der konkreten Rolle in der Linien- oder Projektaufgabe und ungeachtet der Seniorität.
Post Corona wird Agilität bei der Führung und Organisation von Rechts- und Compliance-Teams zur Selbstverständlichkeit geworden sein.
Dr. Frank Weißhaupt, LL.M. (NYU), Syndikusrechtsanwalt/Attorney-at-law (New York), ist General Counsel bei der Viridium Gruppe, Neu-Isenburg.