Im Blickpunkt
Wer kennt sie nicht, die Spruchpraxis des EuGH auf dem Gebiet der direkten Steuern, obgleich diese ja in den Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten fallen und nicht harmonisiert sind. Der EuGH leitet seine Zuständigkeit über die Grundfreiheiten und den Binnenmarkt ab, entscheidet im Zweifel für den Binnenmarkt und interessiert sich kaum für die mitgliedstaatlichen Steuerhoheitsbelange. Europäisches Steuerrecht wird so durch die Hintertür eingeführt. Die faktische Bindungswirkung der EuGH-Entscheidungen führte zur Titulierung des EuGH als “zweiter Steuergesetzgeber”. Das Spannungsverhältnis resultiert aus der Zwangsläufigkeit der Unterschiedlichkeit zwischen Binnenmarktinteressen und nationaler Steuersouveränität. Vor der Klärung dieses Spannungsverhältnisses haben sich die Mitgliedstaaten gedrückt! Nunmehr scheint allerdings ein anderer Konflikt offenzulegen, dass die Klärung von erwartbaren Spannungsverhältnissen nicht durch Zeitablauf obsolet wird. Die EU-Kommission hat nämlich ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland aufgrund des Urteils des BVerfG zu der Frage der Verfassungsmäßigkeit der umstrittenen Anleihenkäufe eingeleitet. Auch hier wird ein ungeklärtes Spannungsverhältnis offengelegt, der Konflikt zwischen EuGH und BVerfG. Der Ausgang des Vertragsverletzungsverfahrens darf mit Spannung erwartet werden.
Prof. Dr. Michael Stahlschmidt, Ressortleiter Steuerrecht