BFH: Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter
BFH, Urteil vom 20.3.2025 – III R 19/23
ECLI:DE:BFH:2025:U.200325.IIIR19.23.0
Volltext BB-Online BBL2025-1813-4
Amtlicher Leitsatz
Ein Teilurteil im Sinne des § 6 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ist auch dann ergangen, wenn der Senat in der mündlichen Verhandlung zunächst einen noch nicht zur Entscheidung reifen Teil des Streitgegenstands abgetrennt und anschließend über den verbliebenen Teil des Streitgegenstands durch (Voll-)Urteil entschieden hat. Die Sperre des § 6 Abs. 2 FGO steht in dieser Situation einer Einzelrichterübertragung im abgetrennten Verfahren nicht entgegen.
AO § 230, AO § 231 Abs 1, AO § 361 Abs 2, AO § 118, FGO § 6 Abs 2, FGO § 73, FGO § 98, FGO § 119 Nr 1
Sachverhalt
1 I. Streitig sind die Rechtmäßigkeit von Zinsbescheiden zur Rückforderung von Investitionszulagen für die Kalenderjahre 2006 bis 2008 und die Zahlungsverjährung der Zinsansprüche.
2 Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) war bis zum 28.02.2009 in A, im Zuständigkeitsbereich des Finanzamts K, danach bis zum 30.09.2010 in B, im Zuständigkeitsbereich des Finanzamts R, und ab dem 01.10.2010 in C (Ausland) gemeldet. Seitdem wird der Kläger als beschränkt einkommensteuerpflichtig beim Finanzamt S geführt.
3 Der Kläger beantragte beim Finanzamt K am 20.02.2008 für das Kalenderjahr 2006 und 2007 sowie am 14.03.2009 für 2008 die Gewährung von Investitionszulagen nach dem Investitionszulagengesetz 2007 (InvZulG 2007) für ein Erstinvestitionsvorhaben. Das Finanzamt K gewährte die Investitionszulagen jeweils unter dem Vorbehalt der Nachprüfung.
4 Nachdem der Kläger sein Gewerbe zum 01.04.2011 abgemeldet hatte, änderte das Finanzamt K am 11.11.2011 die Bescheide über die Investitionszulagen für 2006, 2007 und 2008 nach § 164 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO) und setzte die Investitionszulage jeweils auf 0 € sowie Zinsen nach § 11 InvZulG 2007 in Höhe von xx €, xx € und xx € fest, welche jeweils zum 16.01.2012 fällig waren. Gegen diese Bescheide legte der Kläger am 06.12.2011 Einspruch ein und beantragte die Aussetzung der Vollziehung (AdV). Das Finanzamt K lehnte die AdV mit Bescheid vom 19.12.2011 ab. Einen weiteren AdV-Antrag des Klägers lehnte das Finanzamt K am 09.03.2012 ab. Dagegen legte der Kläger am 19.03.2012 Einspruch ein. Mit Bescheid vom 30.04.2012 gewährte das Finanzamt K die beantragte AdV bis zum Ablauf eines Monats nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung. Das Finanzamt K gab die Bearbeitung der Einsprüche mit Schreiben vom 24.06.2014 an den Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt ‑‑FA‑‑) ab. Das FA wies die zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Einsprüche am 21.01.2015 als unbegründet zurück und gab dem Kläger die Entscheidung mit einfacher Post an seine Anschrift in C bekannt. Mit Schreiben vom 16.04.2015 beantragte der Kläger beim FA erneut AdV. Über diesen Antrag hat das FA nicht entschieden.
5 Mit seiner am 19.03.2015 erhobenen Klage wandte sich der Kläger gegen die Änderung der Investitionszulagenbescheide und gegen die Zinsbescheide. Das Finanzgericht (FG) verhandelte am 24.03.2021 mündlich zur Sache. Nach der Erörterung der Sach- und Rechtslage trennte es das die Zinsbescheide betreffende Verfahren in der mündlichen Verhandlung ab (3 K 95/21). Am gleichen Tag verkündete das FG das Urteil im Verfahren 3 K 103/15, mit dem es die die Investitionszulagenbescheide betreffende Klage abwies. Mit dem in der mündlichen Verhandlung erklärten Einverständnis der Beteiligten ruhte das abgetrennte Verfahren gemäß Beschluss vom 06.04.2021 bis zum Abschluss des beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) anhängigen Verfahrens 1 BvR 2237/14. Nachdem das BVerfG am 08.07.2021 entschieden hatte, übertrug das FG nach Anhörung der Beteiligten den Rechtsstreit mit Beschluss vom 27.10.2021 auf den Einzelrichter. Dieser wies die Klage gegen die Zinsbescheide am 14.12.2021 ab. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2024, 1225 veröffentlicht.
6 Dagegen wendet sich der Kläger mit der vom Senat zugelassenen Revision. Er macht geltend, das FG sei bei seiner Entscheidung fehlerhaft besetzt gewesen, und rügt die Verletzung materiellen Rechts, insbesondere von § 231 AO.
7 Der Kläger beantragt,
das Urteil des FG vom 14.12.2021 - 3 K 95/21 und die Zinsbescheide vom 11.11.2011, alle in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 21.01.2015, aufzuheben.
8 Das FA beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Aus den Gründen
9 II. Die Revision ist begründet. Sie führt gemäß § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der nicht spruchreifen Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung.
10 Das FG ist auf der Grundlage seiner bisherigen tatsächlichen Feststellungen zu Unrecht davon ausgegangen, dass keine Zahlungsverjährung nach § 228 Satz 1 AO der Ansprüche aus den streitgegenständlichen Zinsbescheiden eingetreten sei (1.). Der vom Kläger gerügte Verfahrensmangel liegt indessen nicht vor (2.). Die Sache ist nicht spruchreif (3.).
11 1. Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis unterliegen einer besonderen Zahlungsverjährung (§ 228 Satz 1 AO), die zum Erlöschen des Anspruchs führt (§ 232 AO). Zu den Ansprüchen aus dem Steuerverhältnis gehören auch Ansprüche auf steuerliche Nebenleistungen (§ 37 Abs. 1 AO) in Gestalt von Zinsen (§ 3 Abs. 4 Nr. 4 AO).
12 a) Die Verjährungsfrist beträgt im Regelfall fünf Jahre (§ 228 Satz 2 AO). Sie beginnt grundsätzlich mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem der Anspruch erstmals fällig geworden ist (§ 229 Abs. 1 Satz 1 AO). Sie wird nur in den Fällen gehemmt oder unterbrochen, die ausdrücklich im Gesetz geregelt sind (Urteil des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 23.08.2022 - VII R 46/20, BFHE 277, 73, Rz 35).
13 aa) Nach § 230 AO i.d.F. vom 01.10.2002 ‑‑AO a.F.‑‑ (jetzt § 230 Abs. 1 AO) ist die Verjährung gehemmt, solange der Anspruch wegen höherer Gewalt innerhalb der letzten sechs Monate der Verjährungsfrist nicht verfolgt werden kann. Unter höherer Gewalt sind alle von außen kommenden Ereignisse zu verstehen, die es bei Anwendung der äußersten den Umständen nach zu erwartenden Sorgfalt nicht zulassen, dass der Anspruch verfolgt wird. Geringstes Verschulden schließt höhere Gewalt aus. Beispiele sind: Krieg, Naturkatastrophen und andere unabwendbare Zufälle (vgl. Senatsurteil vom 07.05.1993 - III R 95/88, BFHE 172, 1, BStBl II 1993, 818 zu § 171 Abs. 1 AO).
14 bb) Das Gesetz enthält in § 231 AO eine abschließende Aufzählung der Unterbrechungstatbestände (BFH-Urteil vom 23.08.2022 - VII R 46/20, BFHE 277, 73, Rz 34 f., m.w.N.), denen zum Teil Dauerwirkung zukommt (§ 231 Abs. 2 Satz 1 AO).
15 Die Unterbrechung der Verjährung bewirkt, dass der nach § 229 Abs. 1 Satz 1 AO in Gang gesetzte Fristenlauf abgebrochen wird und mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem die Unterbrechung endet, eine neue Verjährungsfrist beginnt (§ 231 Abs. 3 AO, Prinzip der Kalenderverjährung). Die bereits verstrichene Zeit bleibt unberücksichtigt (vgl. auch Loose in Tipke/Kruse, § 231 AO Rz 1; Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler ‑‑HHSp‑‑, § 231 AO Rz 2).
16 (1) Zu den verjährungsunterbrechenden Maßnahmen gehören unter anderem die AdV und der Vollstreckungsaufschub (§ 231 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO).
17 Die AdV erfolgt, wenn sie gemäß § 361 Abs. 2 AO durch die Finanzbehörde gewährt wird, durch einen Verwaltungsakt (§ 118 Satz 1 AO), der in jeder der in § 119 Abs. 2 Satz 1 AO genannten Formen ergehen kann (BFH-Urteil vom 18.03.2014 - VII R 12/13, BFH/NV 2014, 1093, Rz 13) und zu seiner Wirksamkeit der Bekanntgabe bedarf (§ 122 AO, vgl. BFH-Urteil vom 24.04.1996 - II R 37/93, BFH/NV 1996, 865, unter II.2.a). In dem bloßen Schweigen der Finanzbehörde auf einen gestellten AdV-Antrag kann grundsätzlich kein stillschweigender, dem Antrag stattgebender Verwaltungsakt gesehen werden (BFH-Beschluss vom 16.06.2005 - VII B 273/04, BFH/NV 2005, 1747). Eine verwaltungsinterne, nicht nach außen wirksam gewordene Maßnahme ‑‑wie sie in einem stillschweigenden Absehen von Mahnungen und Vollstreckungsmaßnahmen gesehen werden könnte‑‑ genügt zur Unterbrechung der Zahlungsverjährung nicht. Für den Steuerpflichtigen muss bei Gewährung einer AdV mit der erforderlichen Klarheit feststellbar sein, bis wann die AdV gewährt ist und damit verjährungsunterbrechende Wirkung hat, ob sich der Ablauf der Zahlungsverjährung durch die ihm gegenüber wirksam gewordene Unterbrechungshandlung verzögert und ob und wann der Zahlungsanspruch wegen Eintritts der Zahlungsverjährung erlischt (BFH-Urteil vom 18.11.2003 - VII R 5/02, BFH/NV 2004, 1057, unter II.3.a).
18 Ein Vollstreckungsaufschub liegt vor, wenn die Finanzbehörde dem Vollstreckungsschuldner zusagt, von der zwangsweisen Durchsetzung ihres Anspruchs für eine bestimmte Zeit absehen zu wollen, wobei es nicht darauf ankommen kann, ob diese Zusage gemäß § 258 AO rechtmäßig ist oder so nicht hätte ergehen dürfen. Selbst eine einseitige Erklärung des Vollstreckungsgläubigers, von Maßnahmen zur Durchsetzung seines Anspruchs absehen zu wollen, ist als Vollstreckungsaufschub im Sinne des § 231 Abs. 1 AO anzusehen und bewirkt folglich die Unterbrechung der Verjährung (BFH-Beschluss vom 10.11.2003 - VII B 342/02, BFH/NV 2004, 315). Eine verjährungsunterbrechende Wirkung hat eine solche Maßnahme allerdings nur dann, wenn sie "nach außen wirkt", denn bei rein innerdienstlichen Maßnahmen der Behörde ist für den Betroffenen nicht mit der erforderlichen Klarheit feststellbar, ob der Zahlungsanspruch durch Verjährung erloschen ist oder ob er wegen Unterbrechung der Verjährung weiterhin zur Leistung verpflichtet ist (BFH-Urteil vom 23.02.2010 - VII R 9/08, BFHE 229, 5, BStBl II 2011, 667, Rz 33).
19 (2) Auch Vollstreckungsmaßnahmen bewirken eine Unterbrechung der Zahlungsverjährung (§ 231 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AO). Erfasst werden die im Sechsten Teil der Abgabenordnung abschließend geregelten Maßnahmen (vgl. Koenig/Klüger, Abgabenordnung, 5. Aufl., § 231 Rz 17), das heißt alle Maßnahmen, die mit Beginn der Zwangsvollstreckung darauf gerichtet sind, den Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis zwangsweise durchzusetzen (Loose in Tipke/Kruse, § 231 AO Rz 24, m.w.N.). Jedoch genügen behördeninterne oder die Vollstreckung lediglich vorbereitende Maßnahmen, wie zum Beispiel Amtshilfeersuchen an die Vollstreckungsstelle einer anderen Finanzbehörde, nicht (vgl. Loose in Tipke/Kruse, § 231 AO Rz 25; Koenig/Klüger, Abgabenordnung, 5. Aufl., § 231 Rz 18).
20 (3) Die schriftliche Geltendmachung eines Anspruchs hat gleichfalls verjährungsunterbrechende Wirkung (§ 231 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 AO). Auch eine in der Einspruchsentscheidung enthaltene Zahlungsaufforderung kann als eine solche Maßnahme anzusehen sein (vgl. Heuermann in HHSp, § 231 AO Rz 53; BFH-Urteil vom 08.11.1994 - VII R 1/93, BFH/NV 1995, 657, unter II.2.a). Die Unterbrechung endet bei Maßnahmen der Finanzbehörden mit deren Abschluss, das heißt mit der Bekanntgabe der Zahlungsaufforderung (vgl. Loose in Tipke/Kruse, § 231 AO Rz 40; Klein/Werth, AO, 18. Aufl., § 231 Rz 24). Die in § 231 Abs. 2 Satz 2 AO im Fall der Geltendmachung eines Anspruchs vorgesehene Unterbrechungswirkung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Anspruch erfasst nur Ansprüche des Steuerpflichtigen gegen die Finanzbehörde.
21 b) Nach diesem Maßstab fehlt es an einer ausreichenden Tatsachengrundlage für die Annahme des FG, das FA habe die Zahlungsverjährung rechtzeitig vor Ablauf der Verjährungsfrist unterbrochen. Auch die Voraussetzungen für die Hemmung des Fristablaufs wegen höherer Gewalt liegen nach den bisherigen Feststellungen des FG nicht vor.
22 aa) Die Regelverjährung der mit den angefochtenen Bescheiden vom 11.11.2011 festgesetzten, zum 16.01.2012 fälligen Zinsansprüche begann mit dem Ablauf des 31.12.2012 und lief bis 31.12.2017. Die Verjährung wurde durch die vom Finanzamt K mit Bescheid vom 30.04.2012 gewährte AdV bis einen Monat nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung vom 21.01.2015 unterbrochen. Die Verjährungsfrist von fünf Jahren begann daher mit Ablauf des 31.12.2015 erneut zu laufen und lief insoweit bis 31.12.2020.
23 bb) Auch die dem Kläger postalisch bekannt gegebene Einspruchsentscheidung vom 21.01.2015 bewirkte, da mit ihr ‑‑nach der für den Senat gemäß § 118 Abs. 2 FGO bindenden Würdigung des FG‑‑ die schriftliche Geltendmachung der Zinsansprüche gemäß § 231 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 AO verbunden war, dass die Verjährungsfrist mit Ablauf des 31.12.2015 erneut zu laufen begann und am 31.12.2020 endete. Eine Verlängerung der Verjährungsfrist über diesen Zeitpunkt hinaus folgte daraus nicht.
24 cc) Im Hinblick auf den vom Kläger beim FA gestellten AdV-Antrag vom 16.04.2015 hat das FG keine hinreichenden Feststellungen zu einem verjährungsunterbrechenden Ereignis getroffen. Das FG führt einerseits aus, das FA habe über den Antrag nicht entschieden (Urteil S. 6), nimmt aber andererseits an, das FA habe diesem Antrag jedenfalls konkludent entsprochen (Urteil S. 12). Insoweit fehlt es an tatsächlichen Feststellungen, aus denen eine Entscheidung des FA abgeleitet werden könnte, die dem Kläger gegenüber bekannt gegeben wurde. Das Schweigen des FA genügt für eine konkludente AdV-Gewährung ebenso wenig wie das Ausbleiben von Vollstreckungsmaßnahmen. Aus dem Umstand, dass der Kläger beim FG keinen Antrag auf AdV gestellt hat, lässt sich allein nicht schlussfolgern, dass ihm das FA die beantragte AdV gewährt hat, denn der Verzicht auf einen solchen Antrag kann verschiedene Gründe haben (zum Beispiel der Vermeidung zusätzlicher Kosten dienen).
25 Ein etwaiger Vollstreckungsaufschub müsste dem Kläger bekannt gegeben worden sein, um eine verjährungsunterbrechende Wirkung entfalten zu können. Feststellungen dazu hat das FG jedoch nicht getroffen. Auch hier genügen weder das bloße Schweigen noch rein innerdienstliche Maßnahmen des FA zur Unterbrechung der Zahlungsverjährung.
26 dd) Die Feststellungen des FG tragen nach den oben genannten Grundsätzen die Annahme nicht, der Ablauf der Verjährungsfrist sei wegen höherer Gewalt nach § 230 AO a.F. gehemmt gewesen, da das FG nicht festgestellt hat, dass die Verfolgung des Anspruchs in den letzten sechs Monaten der Verjährungsfrist ‑‑also zwischen dem 01.07.2020 und dem 31.12.2020‑‑ wegen eines Umstands unmöglich war, der es bei Anwendung der äußersten den Umständen nach zu erwartenden Sorgfalt nicht zuließ, dass der Anspruch verfolgt wird.
27 Allein die Tatsache, dass der Kläger seinen Wohnsitz ab dem Jahr 2010 in C gemeldet hatte, ist kein Umstand, der es dem FA wegen höherer Gewalt unmöglich machte, die Zinsforderungen beizutreiben, zumal der Kläger ‑‑wenn auch mit Unterbrechungen‑‑ wohl weiterhin inländische Einkünfte erzielte.
28 ee) Der Umstand, dass der Kläger zwischenzeitlich in C lebt, ist keinem der in § 231 Abs. 1 Satz 1 AO genannten Tatbestände zuzuordnen. Selbst wenn das FA aus rechtlichen Gründen an Vollstreckungsmaßnahmen gehindert wäre, ließe sich daraus jedenfalls keine verjährungsunterbrechende Wirkung ableiten, denn auch dieser Umstand wird von keinem der in § 231 Abs. 1 Satz 1 AO genannten Tatbestände erfasst.
29 Es besteht insbesondere auch kein Anlass, die Regelung des § 231 Abs. 1 AO erweiternd auszulegen. Die analoge Anwendung einer Rechtsnorm setzt eine Gesetzeslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit voraus. Die Norm muss gemessen an ihrem Zweck unvollständig, das heißt ergänzungsbedürftig sein. Ihre Ergänzung darf nicht einer vom Gesetzgeber beabsichtigten Beschränkung auf bestimmte Tatbestände widersprechen (BFH-Urteil vom 31.07.2024 - II R 30/21, zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt, Rz 18).
30 An einer solchen planwidrigen Gesetzeslücke fehlt es. § 231 Abs. 1 AO sieht neben Vollstreckungsmaßnahmen weitere Wege vor, über die die Finanzbehörde die Zahlungsverjährung unterbrechen kann.
31 2. Entgegen der Auffassung des Klägers ist dem FG bei der Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter gemäß § 6 Abs. 1 FGO mit Beschluss vom 27.10.2021 kein Verfahrensfehler unterlaufen, der einen absoluten Revisionsgrund darstellt (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. § 119 Nr. 1 FGO).
32 a) Eine fehlerhafte Anwendung des § 6 FGO kann regelmäßig nicht mit der Revision gerügt werden (§ 124 Abs. 2 FGO), da ein Beschluss, mit dem das FG den Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung überträgt, nach § 6 Abs. 4 Satz 1 FGO unanfechtbar ist. Ein Verstoß gegen § 6 Abs. 2 FGO führt jedoch zu einer vorschriftswidrigen Besetzung.
33 aa) Eine Besetzungsrüge mit der Begründung, die Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 FGO für eine Übertragung auf den Einzelrichter hätten nicht vorgelegen, kann ausnahmsweise Erfolg haben, etwa, wenn sich der Einzelrichter selbst bestellt hat oder wenn ihm der Rechtsstreit statt durch Senatsbeschluss durch Verfügung des Vorsitzenden zugewiesen wurde, wenn gegen § 6 Abs. 2 oder § 6 Abs. 3 Satz 2 FGO verstoßen wurde oder wenn sich die Übertragung auf den Einzelrichter aus sonstigen Gründen als greifbar gesetzeswidrig erweist (BFH-Beschlüsse vom 19.01.1994 - II R 69/93, BFH/NV 1994, 725 und vom 14.04.2020 - VII B 53/19, BFH NV 2021, 177, Rz 9; vgl. auch BFH-Beschlüsse vom 21.12.2004 - II B 13/04, BFH/NV 2005, 897, unter II.2. und vom 30.01.2008 - V B 57/07, BFH/NV 2008, 611, unter II.1.b cc; vgl. Sunder-Plassmann in HHSp, § 6 FGO Rz 94).
34 bb) Nach § 6 Abs. 2 FGO darf der Rechtsstreit dem Einzelrichter nicht übertragen werden, wenn bereits vor dem Senat mündlich verhandelt worden ist, es sei denn, dass inzwischen ein Vorbehalts-, Teil- oder Zwischenurteil ergangen ist.
35 (1) § 6 Abs. 2 FGO sieht eine Übertragungssperre vor, die eingreift, sobald in dem Rechtsstreit eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat. Die Sperre setzt bereits mit dem Beginn der mündlichen Verhandlung ein (Brandis in Tipke/Kruse, § 6 FGO Rz 9; Sunder-Plassmann in HHSp, § 6 FGO Rz 46). Die Vorschrift lässt nur die in ihr aufgeführten Ausnahmen zu (BFH-Beschluss vom 26.03.2012 - I B 109/11, BFH/NV 2012, 1162, Rz 5), so dass nach dem Beginn einer mündlichen Senatsverhandlung eine Übertragung auf den Einzelrichter nur dann zulässig ist, wenn inzwischen ein Senatsurteil in Form eines Teil- oder Zwischenurteils (vgl. §§ 97 ff. FGO) oder eines Vorbehaltsurteils (§ 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 302 der Zivilprozessordnung) ergangen ist.
36 (2) § 6 Abs. 2 FGO liegt die Auffassung zugrunde, dass eine nennenswerte Entlastung des Senats und eine spürbare Verfahrensbeschleunigung nicht mehr erreichbar sind, wenn sich bereits der gesamte Senat mit dem Fall beschäftigt hat; § 6 Abs. 2 FGO soll überdies verhindern, dass der Senat den Einzelrichter als "ausführendes Organ" einsetzt, nachdem er die Weichen für die Entscheidung des Falls bereits gestellt hat (BFH-Beschluss vom 26.03.2012 - I B 109/11, BFH/NV 2012, 1162, Rz 6, m.w.N.).
37 Die in § 6 Abs. 2 FGO genannte Ausnahme vom Übertragungsverbot rechtfertigt sich dadurch, dass nach Erlass eines Vorbehalts-, Teil- oder Zwischenurteils das Verfahren in eine neue Phase getreten ist und der Senat den nunmehr anstehenden Prozessstoff in der Regel noch nicht intensiv behandelt haben wird. Deshalb kann insoweit eine eigenständige Bearbeitung durch den Einzelrichter sinnvoll sein; zugleich ist eine unzulässige Beeinflussung durch Vorgaben des Senats nicht zu befürchten (BFH-Beschluss vom 26.03.2012 - I B 109/11, BFH/NV 2012, 1162, Rz 6; vgl. auch Müller-Horn in Gosch, FGO § 6 Rz 66; Gräber/Herbert, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 6 Rz 14).
38 (3) Ein Teilurteil im Sinne des § 6 Abs. 2 FGO ist auch ergangen, wenn der Senat in der mündlichen Verhandlung zunächst einen noch nicht zur Entscheidung reifen Teil des Streitgegenstands abgetrennt und über den verbliebenen Teil durch taggleiches Senatsurteil entschieden hat. Die Übertragungssperre steht in dieser Fallkonstellation nach dem Normzweck des § 6 Abs. 2 FGO einer Einzelrichterübertragung im abgetrennten Verfahren nicht entgegen.
39 (a) Nach § 98 FGO kann das Gericht ein Teilurteil erlassen, wenn nur ein Teil des Streitgegenstands zur Entscheidung reif ist. Der Erlass eines Teilurteils setzt voraus, dass der Streitgegenstand teilbar ist. Ein Teilurteil darf nur zu einem abtrennbaren Teil des Streitgegenstands ergehen. Ein Teil eines einheitlichen Streitgegenstands ist abtrennbar, wenn er einer gesonderten tatsächlichen und rechtlichen Würdigung zugänglich ist (BFH-Urteil vom 25.02.2010 - IV R 24/07, BFH/NV 2010, 1491, Rz 9, m.w.N.; vgl. zu Teilurteil und Voll(end)urteil die Beschlüsse des Bundesverwaltungsgerichts vom 22.03.2018 - 7 C 1.17, Rz 18 und des Bundessozialgerichts vom 18.08.2022 - B 1 KR 65/21 B, Rz 16). Im Streitfall hat das FG weder im Klageverfahren 3 K 103/15 noch im vorliegenden Ausgangsverfahren 3 K 95/21 ein (formales) Teilurteil im Sinne des § 98 FGO erlassen. Zwar lag im Verfahren 3 K 103/15 noch bis zur mündlichen Verhandlung eine objektive Klagehäufung mit mehreren Klagebegehren und abtrennbaren Teilen des Streitgegenstands vor (vgl. § 43 FGO und BFH-Beschluss vom 22.07.2021 - V B 77/20, BFH/NV 2021, 1518, Rz 8). Das FG hat in diesem Klageverfahren aber formal nicht durch Teilurteile entschieden, sondern erst nach Verfahrenstrennung beide Klageverfahren (3 K 103/15 wie auch 3 K 95/21) durch Voll(end)urteile abgeschlossen.
40 (b) Bei teleologischer Auslegung des § 6 Abs. 2 FGO liegt bezogen auf den Gegenstand der mündlichen Verhandlung allerdings ein (materielles) Teilurteil vor, wenn der Senat nach der Abtrennung des noch nicht entscheidungsreifen Teils über den verbleibenden entscheidungsreifen Teil aufgrund der mündlichen Verhandlung durch Urteil entschieden hat. Auch dem Normzweck der Übertragungssperre ist genügt, da der abgetrennte Teil des Rechtsstreits durch den Einzelrichter eigenständig zur Entscheidungsreife geführt werden kann. Dies gilt insbesondere dann, wenn dieser Teil wegen eines beim BVerfG anhängigen Verfahrens zunächst ruhend gestellt worden war.
41 b) Daran gemessen liegt ein Verfahrensfehler des FG insoweit nicht vor. Die Einzelrichterübertragung im Ausgangsverfahren 3 K 95/21 war nicht nach § 6 Abs. 2 FGO unzulässig.
42 Das FG durfte dieses Verfahren auf den Einzelrichter übertragen, obwohl es in der mündlichen Verhandlung vom 24.03.2021 (3 K 103/15) zunächst die Abtrennung des die hier streitigen Zinsbescheide betreffenden Verfahrens beschlossen und erst danach die Klage gegen die die Investitionszulage betreffenden Bescheide abgewiesen hat. Bei dem Urteil vom 24.03.2021 handelte es sich wegen der vorangegangenen Verfahrenstrennung materiell um ein Teilurteil im Sinne des § 6 Abs. 2 FGO. Wegen der noch ausstehenden Entscheidung des BVerfG zur Verfassungsmäßigkeit der Verzinsung von Steuerforderungen im Verfahren 1 BvR 2237/14 war lediglich der die Investitionszulagenbescheide betreffende Teil des durch die Klage vom 19.03.2015 eingeleiteten Rechtsstreits entscheidungsreif. Als das Verfahren 3 K 95/21 nach Entfallen des Ruhensgrunds fortgesetzt wurde, war im Sinne des "es-sei-denn"-Halbsatzes des § 6 Abs. 2 FGO im Verfahren 3 K 103/15 inzwischen ein "Teilurteil" durch den Senat ergangen. Dieses Urteil genügt, um die aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 24.03.2021 eingetretene Übertragungssperre des § 6 Abs. 2 FGO aufzuheben.
43 3. Die Sache ist nicht spruchreif. Sie muss zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverwiesen werden (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO). Dadurch erhält das FG Gelegenheit, die Zahlungsverjährung, insbesondere das Vorliegen etwaiger verjährungsunterbrechender Maßnahmen während des anhängigen Verfahrens, erneut zu prüfen und die fehlenden Feststellungen nachzuholen.
44 Sollte sich herausstellen, dass während der Rechtshängigkeit der Klage die Zahlungsverjährung der streitigen Zinsansprüche eingetreten ist (zum Beispiel mit Ablauf des 31.12.2020), was vom FG festzustellen ist, wäre zu prüfen, ob der Rechtsstreit um die Rechtmäßigkeit der Zinsfestsetzung dadurch gegenstandslos und (im Ergebnis) in der Hauptsache erledigt ist, da das FA aus den angefochtenen Bescheiden keine Rechtsfolgen mehr ziehen kann (vgl. BFH-Urteil vom 24.04.1996 - II R 37/93, BFH/NV 1996, 865, unter II.3.).
45 4. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG folgt aus § 143 Abs. 2 FGO.