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Steuerrecht
09.01.2025
Steuerrecht
BFH: Zur Reichweite der Überprüfungsbefugnis einer Behörde im Einspruchsverfahren

BFH, Urteil vom 17.9.2024 – VII R 3/22

ECLI:DE:BFH:2024:U.170924.VIIR3.22.0

Volltext:BB-ONLINE BBL2025-86-3

Amtliche Leitsätze

1. Wird ein Steuerbescheid über Alkopopsteuer mit dem Einspruch angefochten, ist die Überprüfungsbefugnis der Behörde gemäß § 367 Abs. 2 Satz 1 der Abgabenordnung auf den im Steuerbescheid angegebenen Lebenssachverhalt beschränkt, sodass die Festsetzung der Alkopopsteuer nicht nachträglich auf einen anderen Lebenssachverhalt gestützt werden darf.

2. Weist die Behörde in einem Bescheid ausdrücklich darauf hin, dass hiergegen ein Einspruch nicht zulässig sei, und wird der Adressat des Bescheids dadurch von der Einlegung eines Einspruchs abgehalten, kann ihm dies nicht entgegengehalten werden, weil es sich hierbei um einen Fall höherer Gewalt handelt, der dem Adressaten des Bescheids die Einlegung eines Einspruchs unmöglich machte.

Sachverhalt

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) betreibt ein Unternehmen, das Getränke herstellt und abfüllt.

Am 13.03.2012 erteilte der Beklagte und Revisionsbeklagte (Hauptzollamt ‑‑HZA‑‑) der Klägerin eine jeweils unbefristete Steuerlagererlaubnis für Alkopops und für Branntwein. Die Erlaubnis für Alkopops wurde am 20.06.2013 mit sofortiger Wirkung widerrufen, da Alkopops weder hergestellt noch gelagert worden seien. Zudem wurde die Rückgabe der Bürgschaftsurkunde veranlasst. Eine neue Erlaubnis als Steuerlagerinhaberin wurde von der Klägerin am 25.11.2014 beantragt und ihr am 07.01.2015 rückwirkend ab dem 26.11.2014 erteilt.

Im Zeitraum vom 29.07.2014 bis zum 17.11.2014 bezog die Klägerin aus dem EU-Ausland 1 eine alkoholhaltige Getränkemischung ("Compound") in Tanks. Insgesamt wurden … Liter Alkohol (lA) im Versandverfahren unter Steueraussetzung geliefert. Die Klägerin füllte den Compound in Flaschen ab und lieferte im Zeitraum vom 31.07.2014 bis zum 25.08.2014 einen Teil dieser Flaschen (…) in das EU-Ausland 2.

Mit Schreiben vom 04.08.2014 zeigte die Klägerin dem HZA eine Sortimentserweiterung um die Produkte "X" und "Y" an, die später durch das Bildungs- und Wissenschaftszentrum der Bundesfinanzverwaltung (BWZ) begutachtet wurden. Das Gutachten des BWZ vom 20.01.2015 ergab, dass es sich bei den Proben um Alkopops im Sinne von § 1 Abs. 2 des Alkopopsteuergesetzes in der im Streitfall maßgeblichen Fassung (AlkopopStG) handele.

Mit Bescheid vom 16.12.2015 setzte das HZA gegenüber der Klägerin für … lA Alkopopsteuer in Höhe von … € fest. Die Alkopopsteuer sei dadurch entstanden, dass die Klägerin Alkopops aus dem zollrechtlich freien Verkehr eines anderen Mitgliedstaats zu gewerblichen Zwecken bezogen und diese im Steuergebiet in Empfang genommen oder die außerhalb des Steuergebiets in Empfang genommenen Alkopops in das Steuergebiet befördert habe oder habe befördern lassen. Selbst wenn man zu der Auffassung gelangte, dass es sich bei dem Compound nicht um einen Alkopop handele, sei spätestens mit dem Abfüllen des Compounds in Flaschen ein Alkopop entstanden.

Dagegen legte die Klägerin Einspruch ein. Während des Einspruchsverfahrens erließ das HZA am 20.09.2019 einen geänderten Steuerbescheid, mit dem die Alkopopsteuer auf … € für … lA festgesetzt wurde. Die Steuerfestsetzung wurde nunmehr damit begründet, dass die Alkopopsteuer erst mit dem Abfüllen des gelieferten Compounds in Flaschen entstanden sei. Unter III. enthielt der Bescheid vom 20.09.2019 folgenden Hinweis: "Der Änderungsbescheid wird Gegenstand des Einspruchsverfahrens … Ein erneuter Einspruch wäre somit nicht zulässig" (Hervorhebung durch das HZA). Im Übrigen blieb der Einspruch erfolglos.

Das Finanzgericht urteilte, die Alkopopsteuer sei zutreffend festgesetzt worden. Die Alkopops seien durch die Abfüllung in Flaschen hergestellt worden. Der in den Tanks enthaltene Compound sei demgegenüber noch kein Alkopop gewesen, weil er noch nicht trinkfertig abgefüllt gewesen sei. Dass die auf den Flaschen angebrachten Banderolen in ausländischer Sprache beschriftet gewesen seien und weder ein Pfandhinweis noch ein Jugendschutzhinweis vorhanden gewesen seien, stehe der Steuerentstehung nicht entgegen. Weiterhin habe die Klägerin gegen das Gutachten des BWZ vom 20.01.2015, wonach es sich bei den Waren um Alkopops gehandelt habe, keine schlüssigen Einwände erhoben. Die Alkopops seien ohne Erlaubnis hergestellt worden, weil die Klägerin im fraglichen Zeitraum keine Steuerlagererlaubnis für Alkopops gehabt habe.

Zudem sei keine Festsetzungsverjährung eingetreten. Ferner habe sich das HZA im Rahmen seiner Überprüfungsbefugnis gehalten. Der gesamte Vorgang von der Inempfangnahme bis zur Auslieferung erscheine zwar nicht als ein einheitlicher steuerlich erheblicher Sachverhalt. Das HZA habe jedoch im Bescheid vom 16.12.2015 ausgeführt, dass auch dann, wenn der gelieferte Compound nicht als Alkopop einzuordnen sei, spätestens mit dem Abfüllen in Flaschen ein Alkopop entstanden sei. Dadurch sei das Abfüllen in Flaschen schon in diesem Bescheid in den für die Alkopopsteuer erheblichen Sachverhalt aufgenommen worden. Die Behörde habe die Möglichkeit, eine Hilfsbegründung in den Steuerbescheid aufzunehmen, weshalb der Bescheid vom 16.12.2015 nicht unbestimmt sei. Die Steuerfestsetzung sei schließlich auch nicht aus Gründen des Vertrauensschutzes rechtswidrig.

Die Klägerin begründet ihre Revision dahingehend, dass die Festsetzung der Alkopopsteuer durch den Bescheid vom 20.09.2019 schon verfahrensrechtlich nicht möglich gewesen sei, weil das HZA den vorherigen Bescheid vom 16.12.2015 nicht im Rahmen des Einspruchsverfahrens oder nach anderen Änderungsvorschriften habe ändern dürfen.

Die ursprüngliche Festsetzung der Alkopopsteuer sei rechtswidrig, weil die aus dem EU-Ausland 1 bezogenen Tankladungen keine Alkopops gewesen seien. Der Bescheid vom 16.12.2015 habe nicht dahingehend geändert werden dürfen, dass für die Festsetzung der Alkopopsteuer nunmehr auf das Abfüllen des Compounds in Flaschen und nicht mehr auf den Bezug des Compounds aus dem EU-Ausland 1 abgestellt werde, weil es sich dabei um verschiedene Lebenssachverhalte handele. Es sei unbeachtlich, dass das HZA in der Begründung des Bescheids vom 16.12.2015 hilfsweise auf das Abfüllen des Compounds in Flaschen abgestellt habe. Denn eine darauf basierende Änderung betreffe den Regelungsbereich des ursprünglichen Bescheids. Jedenfalls sei der Verwaltungsakt vom 16.12.2015 zu unbestimmt. Bei nichtperiodischen Steuern wie der Alkopopsteuer sei eine genaue Bezeichnung des besteuerten Sachverhalts erforderlich. Dies wäre jedoch nicht der Fall, wenn man zuließe, dass neben dem eigentlich besteuerten Sachverhalt in der Begründung ein weiterer alternativ zu besteuernder Sachverhalt genannt werden könnte. Im Übrigen sei die Hilfsbegründung des HZA auch nicht hinreichend bestimmt, weil weder die Abfüllzeitpunkte noch die Mengen benannt worden seien.

Die vom HZA angeführte Änderungsvorschrift des § 130 der Abgabenordnung (AO) gelte nicht für Steuerbescheide. Auch § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO erlaube nicht den Erlass eines neuen Verwaltungsakts. Eine neue Festsetzung mit Bescheid vom 20.09.2019 sei darüber hinaus aufgrund eingetretener Festsetzungsverjährung nicht möglich.

Nach der Intention des Gesetzgebers unterlägen nur solche Produkte der Alkopopsteuer, die Kindern und Jugendlichen tatsächlich im Steuergebiet käuflich legal zugänglich seien. Die Produkte der Klägerin seien jedoch für den ausländischen Markt bestimmt und daher auch nicht mit dem erforderlichen Hinweis nach dem ‑‑deutschen‑‑ Jugendschutzgesetz versehen gewesen. Es fehlten auch lebensmittelrechtliche Kennzeichnungselemente. Die Klägerin habe ihre Mitwirkungspflichten gegenüber dem HZA nicht verletzt.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

die Vorentscheidung und den Bescheid vom 16.12.2015 in Gestalt des Änderungsbescheids vom 20.09.2019 und der Einspruchsentscheidung vom 15.01.2020 aufzuheben.

Das HZA beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Bei dem in Flaschen abgefüllten Compound handele es sich um trink- und verkaufsfertige Alkopops und somit um einen Steuergegenstand im Sinne des Alkopopsteuergesetzes. Maßgeblich sei nicht die äußere Gestaltung der verschlossenen Behältnisse, sondern der Umstand, dass hinsichtlich des Inhalts keine weiteren Verarbeitungsschritte notwendig seien und eine Abfüllung erfolgt sei. Es komme zur Beurteilung der Marktfähigkeit einer Ware auf ihre Zusammensetzung an und nicht darauf, welchem Personenkreis sie später zugänglich gemacht werden solle oder dürfe.

Die Steuerentstehung durch das Abfüllen in Flaschen habe ausdrücklich Eingang in den Ausgangsbescheid vom 16.12.2015 gefunden, weil dieser bereits darauf abgestellt und sich nicht auf den Bezug des Compounds beschränkt habe. Der Fehler des Ausgangsbescheids habe im Einspruchsverfahren beseitigt werden können. Im Übrigen habe die Klägerin bereits im Juli 2014 mit den Abfüllungen begonnen, aber erst Anfang August 2014 auf eine Sortimentserweiterung hingewiesen, weshalb die fehlende Abwälzbarkeit der Verbrauchsteuer in nicht unerheblichem Umfang Folge ihres eigenen Handelns sei.

Der Bescheid vom 16.12.2015 leide nicht an einem Mangel an Bestimmtheit, denn der Tenor sei hinreichend klar gewesen. Die Begründungspflicht nach § 121 AO gestatte es der Behörde, sich auf die relevanten Umstände zu beschränken. Im Übrigen hätte die Klägerin eine Steueranmeldung abgeben müssen, um dem HZA genauere Daten über die Zeitpunkte und Mengen der Abfüllung zur Verfügung zu stellen. Die Klägerin habe ihre Mitwirkungspflichten nicht erfüllt.

Aus den Gründen

18        II. Die Revision ist begründet und führt zur Aufhebung der Vorentscheidung sowie des Bescheids vom 16.12.2015 in Gestalt des Änderungsbescheids vom 20.09.2019 und der Einspruchsentscheidung vom 15.01.2020 (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Die Vorentscheidung verletzt Bundesrecht (§ 118 Abs. 1 Satz 1 FGO).

19        1. Der Änderungsbescheid vom 20.09.2019 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten und ist daher gemäß § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO aufzuheben. Hinsichtlich der Besteuerung des in Flaschen abgefüllten Compounds ist ‑‑unabhängig davon, ob es sich hierbei um einen Steuergegenstand im Sinne von § 1 AlkopopStG gehandelt hat‑‑ die Festsetzungsfrist gemäß § 169 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO abgelaufen. Ein eventuell entstandener Anspruch auf Alkopopsteuer ist daher jedenfalls gemäß § 47 AO erloschen.

20        a) Der Bescheid vom 20.09.2019 wurde nicht innerhalb der Festsetzungsfrist erlassen.

21        aa) Für eine erstmalige Besteuerung des in Flaschen abgefüllten Compounds hat die einjährige Festsetzungsfrist im Sinne von § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO gemäß § 170 Abs. 1 AO mit Ablauf des Kalenderjahres 2014 begonnen und mit Ablauf des Kalenderjahres 2015 geendet. Bis zu diesem Zeitpunkt ist jedoch diesbezüglich keine Steuerfestsetzung erfolgt.

22        bb) Die Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 3a AO greift vorliegend nicht ein, weil mit dem Bescheid vom 16.12.2015 nur bezüglich der Überführung des Compounds in den steuerrechtlich freien Verkehr Alkopopsteuer festgesetzt wurde und nur diese Steuerfestsetzung Gegenstand des Einspruchsverfahrens war.

23        cc) Der Bescheid vom 16.12.2015 kann nicht dahingehend ausgelegt werden, dass hiermit Alkopopsteuer für den in Flaschen abgefüllten Compound festgesetzt wurde.

24        Entscheidend für die Auslegung einer öffentlich-rechtlichen Willensbekundung ist, wie der Betroffene nach den ihm bekannten Umständen ‑‑seinem "objektiven Verständnishorizont" (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 08.11.1995 - V R 64/94, BFHE 179, 211, BStBl II 1996, 256)‑‑ den materiellen Gehalt der Erklärung unter Berücksichtigung von Treu und Glauben verstehen konnte (vgl. Senatsurteil vom 18.04.2023 - VII R 59/20, BFHE 280, 373, BStBl II 2023, 950, Rz 23, m.w.N.).

25        Demnach musste die Klägerin davon ausgehen, dass mit dem Bescheid vom 16.12.2015 der Bezug des Compounds aus dem steuerrechtlich freien Verkehr des EU-Auslandes 1 besteuert werden sollte und nicht das spätere Abfüllen des Compounds in Flaschen. Denn das HZA hat zur Begründung ausgeführt, dass die Alkopopsteuer dadurch entstanden sei, dass die Klägerin Alkopops aus dem zollrechtlich freien Verkehr eines anderen Mitgliedstaats zu gewerblichen Zwecken bezogen habe, während es den aus seiner Sicht ebenfalls steuerlich relevanten Vorgang des Abfüllens des Compounds in Flaschen nur als hilfsweise Begründung für den Fall formuliert hat, dass es sich bei dem gelieferten Compound nicht um einen Alkopop handeln sollte. Dass ausgehend vom objektiven Verständnishorizont der Klägerin der Bezug des Compounds aus dem steuerrechtlich freien Verkehr des EU-Auslandes 1 den besteuerten Lebenssachverhalt darstellte, wird auch dadurch bestätigt, dass hierzu im Bescheid vom 16.12.2015 auch der Zeitpunkt der Steuerentstehung und die zu besteuernde Menge Alkohol angegeben wurde, was hinsichtlich des in Flaschen abgefüllten Compounds gerade nicht der Fall war, obwohl die gelieferte und die abgefüllte Menge Alkohol und die Zeitpunkte der (etwaigen) Steuerentstehung voneinander abweichen.

26        b) Der Bescheid vom 20.09.2019 ist nicht nach § 367 Abs. 2 AO Gegenstand des Einspruchsverfahrens geworden, weil die Besteuerung eines anderen Lebenssachverhalts nicht von der Überprüfungsbefugnis des HZA umfasst war.

27        Nach § 367 Abs. 2 Satz 1 AO ist die Finanzbehörde, die über den Einspruch entscheidet, verpflichtet, die Sache in vollem Umfang erneut zu prüfen. Der Verwaltungsakt kann auch zum Nachteil des Einspruchsführers geändert werden, wenn dieser auf die Möglichkeit einer verbösernden Entscheidung unter Angabe von Gründen hingewiesen und ihm Gelegenheit gegeben worden ist, sich hierzu zu äußern (§ 367 Abs. 2 Satz 2 AO).

28        Zur Grunderwerbsteuer hat der BFH entschieden, dass, wenn der vom Grunderwerbsteuerbescheid erfasste Lebenssachverhalt nicht ausreicht, um den Tatbestand, an den das Grunderwerbsteuergesetz (GrEStG) die Steuerpflicht knüpft, zu erfüllen, der Bescheid rechtswidrig ist, ohne dass die Behörde im Einspruchsverfahren den im Bescheid bezeichneten ‑‑unzutreffenden‑‑ Erwerbsvorgang durch einen anderen ‑‑zutreffenden‑‑ ersetzen könnte (vgl. BFH-Urteil vom 28.07.1993 - II R 50/90, BFH/NV 1993, 712). Die dem Finanzamt nach § 367 Abs. 2 AO eingeräumte Überprüfungsberechtigung und damit seine Entscheidungsbefugnis wird durch den angefochtenen Verwaltungsakt begrenzt. Nur im Rahmen des Lebenssachverhalts, der durch den angefochtenen Verwaltungsakt erfasst worden ist, darf die Behörde prüfen, ob der steuerrechtlich erhebliche Sachverhalt richtig und vollständig ermittelt und die nach dem verwirklichten Steuertatbestand entstandene Steuer richtig festgestellt worden ist (vgl. BFH-Urteil vom 17.06.2020 - II R 18/17, BFHE 270, 252, BStBl II 2021, 318, Rz 30, m.w.N.). Ausgangspunkt der Überprüfung eines Grunderwerbsteuerbescheids ist in materiell-rechtlicher Hinsicht der besteuerte Erwerbsvorgang im Sinne des § 1 GrEStG (BFH-Urteil vom 09.12.2009 - II R 33/08, BFH/NV 2010, 838, unter II.2.).

29        Demgegenüber sind die Lebenssachverhalte, die einer Steuerveranlagung zugrunde liegen, austauschbar (vgl. zur Einkommensteuer BFH-Urteil vom 09.06.2015 - III R 64/13, Rz 31). Die Betrachtungsweise bei Veranlagungssteuern kann jedoch nicht auf die Alkopopsteuer als Verbrauchsteuer übertragen werden, die ‑‑ähnlich wie die Grunderwerbsteuer‑‑ an bestimmte Vorgänge wie zum Beispiel das Abfüllen in verkaufsfertige, verschlossene Behältnisse anknüpft (vgl. § 1 Abs. 2 Nr. 3 AlkopopStG in der ab 01.01.2018 geltenden Fassung). Bei der Alkopopsteuer erfolgt demnach keine Jahresveranlagung wie etwa bei der Einkommensteuer (vgl. auch Seer in Tipke/Kruse, § 367 AO Rz 16, zur Unterscheidung zwischen Verkehrsteuern und Veranlagungssteuern). Vielmehr ist die Überprüfungsbefugnis des HZA gemäß § 367 Abs. 2 Satz 1 AO auf den der Besteuerung zugrunde gelegten Lebenssachverhalt beschränkt (vgl. Klein/Rätke, AO, 17. Aufl., § 367 Rz 7).

30        c) Der Bescheid vom 20.09.2019 ist nicht bestandskräftig geworden.

31        aa) Die Klägerin hat zwar nicht ausdrücklich gegen den Bescheid vom 20.09.2019 Einspruch eingelegt. Allerdings kann ihr Schreiben vom 28.10.2019 als Einspruch ausgelegt werden, denn in diesem Schreiben hat sie vorgebracht, das HZA sei nicht berechtigt, den ursprünglichen Bescheid auf der Grundlage von § 130 Abs. 1 AO i.V.m. § 132 AO zu ändern, weil damit der Besteuerung ein anderer Lebenssachverhalt (Abfüllung des Compounds in Flaschen) zugrunde gelegt würde. Darüber hinaus hielt die Klägerin den Bescheid vom 20.09.2019 für rechtswidrig, weil aus ihrer Sicht bereits Festsetzungsverjährung eingetreten war, was ebenfalls darauf hinweist, dass sie sich gegen den Bescheid vom 20.09.2019 hat wenden wollen.

32        bb) Unabhängig davon könnte der Klägerin ein unterbliebener oder nicht fristgerechter Einspruch nicht entgegengehalten werden, weil sie infolge des falschen Hinweises im Bescheid vom 20.09.2019 von der Einlegung eines Einspruchs abgehalten wurde. Denn in dem Bescheid belehrte das HZA die Klägerin dahingehend, dass ein erneuter Einspruch nicht zulässig wäre. Dadurch musste sich die Klägerin veranlasst sehen, die Einlegung eines Einspruchs zu unterlassen, weil dieser ohnehin keine Aussicht auf Erfolg gehabt hätte. Dabei handelt es sich aus Sicht der Klägerin um höhere Gewalt, die ihr die (fristgerechte) Einlegung eines Einspruchs unmöglich machte.

33        Höhere Gewalt ist ein außergewöhnliches Ereignis, das unter den gegebenen Umständen auch durch die äußerste, nach Lage der Sache von dem Betroffenen zu erwartende Sorgfalt nicht verhindert werden konnte. Dies umfasst von außen kommende Ereignisse, die vom Betroffenen nicht zu beherrschen sind und damit auch so genannte unabwendbare Zufälle. Hierzu gehört auch ein Umstand, der dem Beteiligten die rechtzeitige Vornahme einer fristgebundenen Handlung unzumutbar macht und damit aus verfassungsrechtlichen Gründen dem Bereich der höheren Gewalt zuzuordnen ist (vgl. BFH-Urteile vom 14.05.2019 - VIII R 20/16, BFHE 264, 459, BStBl II 2019, 586, Rz 41 und vom 12.01.2011 - I R 37/10, Rz 18). Demgemäß kann nach der Rechtsprechung des BFH höhere Gewalt auch vorliegen, wenn ein Verfahrensbeteiligter durch ein Verhalten einer Behörde von einer fristgerechten Verfahrenshandlung abgehalten wird (vgl. BFH-Beschluss vom 22.11.2004 - III B 81/04, BFH/NV 2005, 327, unter 2.; Seer in Tipke/Kruse, § 356 AO Tz 13 a.E.).

34        cc) Die Klägerin hat gegen den Bescheid vom 20.09.2019 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 15.01.2020 Klage erhoben.

35        Mit ihrer Klageschrift vom 20.02.2020 hat sich die Klägerin zwar nur gegen den Steuerbescheid vom 16.12.2015 und die Einspruchsentscheidung vom 15.01.2020 gewandt und auch nur diese beiden Verwaltungsakte als Anlage beigefügt. Allerdings hat das HZA mit seiner Einspruchsentscheidung nicht nur über den Steuerbescheid vom 16.12.2015, sondern auch über den Änderungsbescheid vom 20.09.2019 entschieden. Daher ist das Begehren der Klägerin dahingehend auszulegen, dass sie mit ihrer Klage auch gegen den Änderungsbescheid vom 20.09.2019 vorgehen wollte.

36        2. Der Bescheid vom 16.12.2015 ist ebenfalls rechtswidrig und gemäß § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO aufzuheben, weil es sich bei dem aus dem EU-Ausland 1 bezogenen Compound nicht um einen Alkopop handelte.

37        a) Der Bescheid vom 16.12.2015 ist durch den Erlass des Bescheids vom 20.09.2019 nicht unwirksam geworden. Er wurde zwar in dem Bescheid vom 20.09.2019 gemäß § 130 Abs. 1 AO i.V.m. § 132 Satz 1 AO hinsichtlich der Alkopopsteuer in Höhe von … € teilweise zurückgenommen. Unabhängig davon, ob diese Rücknahme wirksam war, tritt mit der Aufhebung des Bescheids vom 20.09.2019 (s. unter II.1.), durch den ein anderer Bescheid ‑‑derjenige vom 16.12.2015‑‑ zurückgenommen wurde, der ursprüngliche Bescheid wieder in Kraft (§ 124 Abs. 2 AO).

38        Wird ein Verwaltungsakt aufgehoben, dessen Rechtswirkung darin besteht, einen anderen Verwaltungsakt aufzuheben, so fällt diese Wirkung folglich weg, sobald jener Verwaltungsakt aufgehoben wird oder sonst gemäß § 124 Abs. 2 AO seine Rechtswirksamkeit einbüßt. Die Aufhebung eines Verwaltungsakts wirkt dabei in dem Sinne auf den Zeitpunkt seines Erlasses zurück, dass er als von Anfang an nicht ergangen anzusehen ist. Dabei macht § 124 Abs. 2 AO insofern keinen Unterschied danach, ob der Verwaltungsakt innerhalb oder außerhalb eines Rechtsbehelfsverfahrens, vom Gericht oder der erlassenden Behörde selbst aufgehoben wird (Senatsbeschluss vom 09.12.2004 - VII R 16/03, BFHE 208, 37, BStBl II 2006, 346, unter II.).

39        b) Der Steuerbescheid vom 16.12.2015 ist rechtswidrig, weil es sich bei dem in Tanks gelieferten Compound nicht um einen Alkopop gehandelt hat.

40        aa) Gemäß § 1 Abs. 2 AlkopopStG sind Alkopops Getränke ‑‑auch in gefrorener Form‑‑, die aus einer Mischung von Getränken mit einem Alkoholgehalt von 1,2 % vol oder weniger oder gegorenen Getränken mit einem Alkoholgehalt von mehr als 1,2 % vol mit Erzeugnissen nach § 130 Abs. 1 des Gesetzes über das Branntweinmonopol (BranntwMonG) bestehen, einen Alkoholgehalt von mehr als 1,2 % vol, aber weniger als 10 % vol aufweisen, trinkfertig gemischt in verkaufsfertigen, verschlossenen Behältnissen abgefüllt sind und als Erzeugnisse nach § 130 Abs. 1 BranntwMonG der Branntweinsteuer unterliegen. Nach § 1 Abs. 3 AlkopopStG gelten als Alkopops auch industriell vorbereitete Mischungskomponenten von Getränken nach § 1 Abs. 2 AlkopopStG, die in einer gemeinsamen Verpackung enthalten sind.

41        Bei der in Tanks abgefüllten alkoholischen Getränkemischung, die der Klägerin aus dem EU-Ausland 1 geliefert worden war, handelte es sich nicht um einen Alkopop im Sinne von § 1 Abs. 2 AlkopopStG, weil diese nicht in verkaufsfertigen, verschlossenen Behältnissen abgefüllt war.

42        bb) Es hat sich dabei auch nicht um einen Alkopop im Sinne von § 1 Abs. 3 AlkopopStG gehandelt. Die Getränkemischung wurde in Tanks geliefert und war bereits vermischt, weshalb es sich nicht um Mischungskomponenten gehandelt hat. Hierbei kommt es darauf an, dass es sich um Mischungskomponenten von Getränken nach § 1 Abs. 2 AlkopopStG handelt, das heißt, die beiden Hauptkomponenten (alkoholfreies Getränk und Spirituose) müssen getrennt in einer einzigen Verpackung mit dem Hinweis auf eine Mischung angeboten werden. Dadurch soll eine Umgehung der Sondersteuer verhindert werden (vgl. Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes junger Menschen vor Gefahren des Alkohol- und Tabakkonsums, BTDrucks 15/2587, S. 7). Ist jedoch noch ein industrieller Vorgang erforderlich (hier das Abfüllen in Flaschen), greift § 1 Abs. 3 AlkopopStG nicht ein. Da diesbezüglich zwischen den Beteiligten kein Streit besteht, sieht der Senat insofern von weiteren Ausführungen ab.

43        3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

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