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Steuerrecht
27.07.2023
Steuerrecht
EuGH: Wiederholtes Steuerverfahren – Verordnung Nr. 2988/95 – Anwendungsbereich – Grundsätze der Rechtssicherheit und der Effektivität des Unionsrechts

EuGH, Urteil vom 13.7.2023 – C-615/21, Napfény-Toll Kft. gegen Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága

ECLI:EU:C:2023:573

Volltext: BB-Online BBL2023-1750-1

Tenor

Die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Effektivität des Unionsrechts sind dahin auszulegen, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats und der mit ihr einhergehenden Verwaltungspraxis nicht entgegenstehen, wonach in Mehrwertsteuersachen die Frist, nach deren Ablauf das Recht der Steuerbehörde zur Festsetzung der Mehrwertsteuer verjährt, während der gesamten Dauer gerichtlicher Überprüfungen unabhängig davon, wie oft das Steuerverwaltungsverfahren infolge dieser Überprüfungen wiederholt werden musste, ohne zeitliche Begrenzung der Gesamtdauer dieser Fristhemmungen auch in dem Fall gehemmt ist, dass das Gericht, das über eine Entscheidung der betreffenden Steuerbehörde befindet, die im Rahmen eines wiederholten Verfahrens ergangen ist, um einer früheren Gerichtsentscheidung nachzukommen, feststellt, dass diese Steuerbehörde die in dieser Gerichtsentscheidung enthaltenen Vorgaben nicht beachtet hat.

Aus den Gründen

1          Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Grundsätze der Rechtssicherheit und der Effektivität des Unionsrechts im Rahmen der Anwendung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1).

 

2          Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits, den die Napfény-Toll Kft. gegen die Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága (Rechtsbehelfsdirektion der nationalen Steuer- und Zollverwaltung, Ungarn) führt. Der Gegenstand dieses Rechtsstreits ist das Recht der Napfény-Toll Kft., vom Betrag der von ihr geschuldeten Mehrwertsteuer den Betrag der Mehrwertsteuer abzuziehen, der für verschiedene Erwerbe von Gegenständen geschuldet wird, die im Juni 2010 sowie zwischen November 2010 und September 2011 getätigt wurden.

 

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 2006/112

 

3          Der achte Erwägungsgrund der Richtlinie 2006/112 lautet:

„In Durchführung des Beschlusses 2000/597/EG, Euratom des Rates vom 29. September 2000 über das System der Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaften [(ABl. 2000, L 253, S. 42)] wird der Haushalt der Europäischen Gemeinschaften, unbeschadet der sonstigen Einnahmen, vollständig aus eigenen Mitteln der Gemeinschaften finanziert. Diese Mittel umfassen unter anderem Einnahmen aus der Mehrwertsteuer, die sich aus der Anwendung eines gemeinsamen Satzes auf eine Bemessungsgrundlage ergeben, die einheitlich nach Gemeinschaftsvorschriften bestimmt wird.“

 

Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95

4          Art. 1 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 1995, L 312, S. 1) bestimmt:

„(1) Zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften wird eine Rahmenregelung für einheitliche Kontrollen sowie für verwaltungsrechtliche Maßnahmen und Sanktionen bei Unregelmäßigkeiten in Bezug auf das Gemeinschaftsrecht getroffen.

(2) Der Tatbestand der Unregelmäßigkeit ist bei jedem Verstoß gegen eine Gemeinschaftsbestimmung als Folge einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers gegeben, die einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der Gemeinschaften oder die Haushalte, die von den Gemeinschaften verwaltet werden, bewirkt hat bzw. haben würde, sei es durch die Verminderung oder den Ausfall von Eigenmitteleinnahmen, die direkt für Rechnung der Gemeinschaften erhoben werden, sei es durch eine ungerechtfertigte Ausgabe.“

 

5          In Art. 3 Abs. 1 und 3 der Verordnung heißt es:

„(1) Die Verjährungsfrist für die Verfolgung beträgt vier Jahre ab Begehung der Unregelmäßigkeit nach Artikel 1 Absatz 1. …

Bei andauernden oder wiederholten Unregelmäßigkeiten beginnt die Verjährungsfrist an dem Tag, an dem die Unregelmäßigkeit beendet wird. Bei den mehrjährigen Programmen läuft die Verjährungsfrist auf jeden Fall bis zum endgültigen Abschluss des Programms.

Die Verfolgungsverjährung wird durch jede der betreffenden Person zur Kenntnis gebrachte Ermittlungs- oder Verfolgungshandlung der zuständigen Behörde unterbrochen. Nach jeder eine Unterbrechung bewirkenden Handlung beginnt die Verjährungsfrist von neuem.

Die Verjährung tritt jedoch spätestens zu dem Zeitpunkt ein, zu dem eine Frist, die doppelt so lang ist wie die Verjährungsfrist, abläuft, ohne dass die zuständige Behörde eine Sanktion verhängt hat; ausgenommen sind die Fälle, in denen das Verwaltungsverfahren gemäß Artikel 6 Absatz 1 ausgesetzt worden ist.

(3) Die Mitgliedstaaten behalten die Möglichkeit, eine längere Frist als die in Absatz 1 bzw. Absatz 2 vorgesehene Frist anzuwenden.“

 

Beschluss 2007/436/EG

6          In Art. 2 Abs. 1 Buchst. b des Beschlusses 2007/436/EG, Euratom des Rates vom 7. Juni 2007 über das System der Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 2007, L 163, S. 17), der den Beschluss 2000/597 aufgehoben und ersetzt hat, heißt es:

„Folgende Einnahmen stellen in den Gesamthaushaltsplan der Europäischen Union einzusetzende Eigenmittel dar:

b) … Einnahmen, die sich aus der Anwendung eines für alle Mitgliedstaaten einheitlichen Satzes auf die nach Gemeinschaftsvorschriften bestimmte einheitliche [Mehrwertsteuer]-Eigenmittelbemessungsgrundlage eines jeden Mitgliedstaats ergeben. …“

 

Ungarisches Recht

Die Regelung über die Hemmung von Verjährungsfristen in Steuersachen

7          In § 164 des Az adózás rendjéről szóló 2003. évi XCII. törvény (Gesetz Nr. XCII von 2003 über die Besteuerungsordnung) (Magyar Közlöny 2003/131 [XI. 14.]) in seiner auf den Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: alte Besteuerungsordnung) heißt es:

„(1) Die Steuerfestsetzungsbefugnis verjährt fünf Jahre nach dem letzten Tag des Kalenderjahrs, in dem die Erklärung oder Mitteilung über diese Steuer hätte abgegeben werden müssen oder, in Ermangelung einer solchen Erklärung oder Mitteilung, in dem die Steuer hätte entrichtet werden müssen.

(5) Im Fall einer gerichtlichen Überprüfung der Entscheidung der Steuerbehörde wird die Frist für die Verjährung des Steueranspruchs von dem Zeitpunkt, zu dem die Entscheidung der zweitinstanzlichen Steuerbehörde endgültig wird, bis zu dem Zeitpunkt, zu dem die Gerichtsentscheidung rechtskräftig wird, oder im Fall eines Rechtsmittels bis zu dem Zeitpunkt, zu dem über dieses entschieden wird, gehemmt.“

 

8          Die alte Besteuerungsordnung wurde mit Wirkung vom 1. Januar 2018 durch die Bestimmungen des Az adóigazgatási rendtartásról szóló 2017. évi CLI. törvény (Gesetz Nr. CLI von 2017 über die Steuerverwaltungsordnung) (Magyar Közlöny 2017/192) in seiner auf den Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung und des Az adózás rendjéről szóló 2017. évi CL. törvény (Gesetz Nr. CL von 2017 über die Besteuerungsordnung) (Magyar Közlöny 2017/192) in seiner auf den Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung aufgehoben und ersetzt (im Folgenden: neue Besteuerungsordnung).

 

9          § 203 Abs. 3 der neuen Besteuerungsordnung übernimmt im Wesentlichen den Inhalt von § 164 der alten Besteuerungsordnung. Nach § 203 Abs. 3 wird, wenn der Steuerpflichtige eine verwaltungsgerichtliche Klage gegen die Entscheidung der Steuerbehörde erhoben hat, die Frist für die Verjährung des Steueranspruchs der Steuerbehörde von dem Zeitpunkt, zu dem die Entscheidung der zweitinstanzlichen Steuerbehörde endgültig wird, bis zu dem Zeitpunkt, zu dem die Gerichtsentscheidung rechtskräftig wird, oder im Fall eines Rechtsmittels bis zu dem Zeitpunkt, zu dem über dieses entschieden wird, gehemmt.

 

10        Nach § 203 Abs. 7 Buchst. c der neuen Besteuerungsordnung verlängert sich diese Verjährungsfrist u. a. dann um zwölf Monate, wenn das angerufene Gericht im Rahmen der Prüfung einer verwaltungsgerichtlichen Klage, die gegen eine Entscheidung der Steuerbehörde erhoben wurde, die Eröffnung eines neuen Verfahrens anordnet.

 

11        Gemäß § 271 Abs. 1 der neuen Besteuerungsordnung sind deren Bestimmungen, einschließlich ihres § 203 Abs. 7 Buchst. c, auf nach ihrem Inkrafttreten eingeleitete oder wiederholte Verfahren anzuwenden.

 

Rechtsprechung zur Anwendung der Regelung über die Hemmung von Verjährungsfristen in Steuersachen

12        Die Kúria (Oberstes Gericht, Ungarn) stellte in ihrem Urteil Kfv.I.35.343/2019/11 zu den Zielen, die mit der Regelung über die Hemmung von Verjährungsfristen in Steuersachen verfolgt werden, fest:

„Nach der alten Besteuerungsordnung ist es das Tatbestandsmerkmal der ‚gerichtlichen Überprüfung‘, das zum Eintritt der Hemmung und der Verlängerung der Verjährungsfrist führt, und nicht der Inhalt der Entscheidung, mit der die Überprüfung abgeschlossen wird. Die gerichtliche Überprüfung beginnt mit der Klageerhebung … Eine nichtige Entscheidung kann keine Rechtswirkung ex tunc haben, sobald sie für nichtig befunden wurde. Die Steuerbehörde kann jedoch aufgrund der gerichtlichen Überprüfung innerhalb der in der alten Besteuerungsordnung festgelegten Frist eine Entscheidung erlassen, die Rechtswirkungen entfalten kann.“

 

13        Mit einer Entscheidung, die am 25. Januar 2022 erlassen wurde, d. h. nach Einreichung des Vorabentscheidungsersuchens, erklärte das Alkotmánybíróság (Verfassungsgericht, Ungarn) § 271 Abs. 1 der neuen Besteuerungsordnung, soweit er den Begriff „wiederholte“ enthielt, im Wesentlichen mit der Begründung für nichtig, dass dieser Begriff bewirke, dass die Verlängerung der Verjährungsfrist gemäß § 203 Abs. 7 Buchst. c der neuen Besteuerungsordnung auf laufende wiederholte Verfahren rückwirkend anwendbar werde.

 

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

14        Napfény-Toll zog vom Betrag der von ihr geschuldeten Mehrwertsteuer den Betrag der Mehrwertsteuer ab, der für verschiedene Erwerbe von Gegenständen geschuldet wurde, die im Juni 2010 sowie zwischen November 2010 und September 2011 getätigt worden waren.

 

15        Im Dezember 2011 leitete die Nemzeti Adó- és Vámhivatal Dél-budapesti Igazgatósága (Nationale Steuer- und Zollverwaltung – Direktion Süd-Budapest, Ungarn) als erstinstanzliche Behörde eine Steuerprüfung ein, die bei Napfény-Toll am 13. Dezember 2011 angemeldet wurde.

 

16        Nach Abschluss dieser Steuerprüfung war diese Direktion der Ansicht, dass ein Teil des von Napfény-Toll für die betreffenden Zeiträume abgezogenen Mehrwertsteuerbetrags nicht hätte abgezogen werden dürfen, da einige zu diesem Zweck geltend gemachte Rechnungen keinem tatsächlichen wirtschaftlichen Vorgang entsprochen hätten und andere Rechnungen auf einem Steuerbetrug, von dem die Klägerin Kenntnis gehabt habe, beruht hätten. Folglich forderte diese Direktion mit Entscheidung vom 8. Oktober 2015 (im Folgenden: erstinstanzliche Verwaltungsentscheidung) von Napfény-Toll die Zahlung von Steuerrückständen in Höhe von insgesamt 144 785 000 ungarischen Forint (HUF) (etwa 464 581 Euro) und verhängte gegen sie eine Steuergeldbuße in Höhe von 108 588 000 HUF (etwa 348 433 Euro) sowie einen Säumniszuschlag in Höhe von 46 080 000 HUF (etwa 147 860 Euro).

 

Erste zweitinstanzliche Verwaltungsentscheidung

17        Mit Entscheidung vom 11. Dezember 2015, die am 14. Dezember 2015 zugestellt wurde (im Folgenden: erste zweitinstanzliche Verwaltungsentscheidung), hob die Nemzeti Adó- és Vámhivatal Közép-magyarországi Regionális Adó Főigazgatósága (Nationale Steuer- und Zollverwaltung – Generaldirektion für die Region Mittelungarn, Ungarn) (im Folgenden: Generaldirektion für die Region Mittelungarn), die spätere Rechtsbehelfsdirektion der nationalen Steuer- und Zollverwaltung, als zweitinstanzliche Behörde auf einen Rechtsbehelf von Napfény-Toll hin die erstinstanzliche Entscheidung in Bezug auf den gegen Napfény-Toll verhängten Säumniszuschlag auf und wies den Rechtsbehelf im Übrigen zurück. Napfény-Toll erhob gegen die erste zweitinstanzliche Verwaltungsentscheidung Klage.

 

18        Mit Urteil vom 2. März 2018, das am selben Tag rechtskräftig wurde, hob das Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Hauptstädtisches Verwaltungs- und Arbeitsgericht Budapest, Ungarn) die erste zweitinstanzliche Verwaltungsentscheidung auf und ordnete die Durchführung eines neuen Verfahrens an. Zur Begründung seines Urteils stellte es fest, dass die erste zweitinstanzliche Verwaltungsentscheidung widersprüchlich begründet worden sei. Obwohl nämlich in der ersten zweitinstanzlichen Verwaltungsentscheidung von einem anderen Sachverhalt als in der erstinstanzlichen Verwaltungsentscheidung ausgegangen worden sei, sei in der ersten zweitinstanzlichen Verwaltungsentscheidung zugleich festgestellt worden, dass die erstinstanzliche Steuerbehörde den Sachverhalt zutreffend ermittelt habe.

 

Zweite zweitinstanzliche Verwaltungsentscheidung

19        Mit Entscheidung vom 5. März 2018, die Napfény-Toll am 7. März 2018 zugestellt wurde (im Folgenden: zweite zweitinstanzliche Verwaltungsentscheidung), bestätigte die Generaldirektion für die Region Mittelungarn im Wesentlichen die erstinstanzliche Verwaltungsentscheidung. Gleichwohl setzte sie den Betrag des gegen Napfény-Toll verhängten Säumniszuschlags herab.

 

20        Mit Urteil vom 5. Juli 2018, das am selben Tag rechtskräftig wurde, hob das Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Hauptstädtisches Verwaltungs- und Arbeitsgericht Budapest), bei dem Napfény-Toll eine Klage erhoben hatte, die zweite zweitinstanzliche Verwaltungsentscheidung auf und ordnete die Einleitung eines neuen Verfahrens an. Dies begründete es damit, dass zum einen die zweite zweitinstanzliche Verwaltungsentscheidung, die am ersten Werktag nach der Verkündung des Urteils vom 2. März 2018 ergangen sei, die erste zweitinstanzliche Verwaltungsentscheidung weitgehend wörtlich übernommen habe, ohne erkennen zu lassen, inwiefern diese zweite zweitinstanzliche Verwaltungsentscheidung die Feststellungen der erstinstanzlichen Verwaltungsentscheidung abändere, so dass die aus diesem Urteil vom 2. März 2018 gezogenen Konsequenzen nur formaler Art seien, und zum anderen die zweite zweitinstanzliche Verwaltungsentscheidung weiterhin widersprüchliche Feststellungen dazu enthalten habe, ob die betreffenden Umsätze tatsächlich getätigt wurden.

 

21        Auf das Rechtsmittel der Steuerbehörde hin bestätigte die Kúria (Oberstes Gericht) mit Urteil vom 30. Januar 2020 das Urteil vom 5. Juli 2018 aus zwei Gründen in der Sache. Zum einen entschied die Kúria (Oberstes Gericht), soweit die zweite zweitinstanzliche Verwaltungsentscheidung die Begründung der ersten zweitinstanzlichen Verwaltungsentscheidung übernommen habe, habe das Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Hauptstädtisches Verwaltungs- und Arbeitsgericht Budapest) zu Recht festgestellt, dass die Generaldirektion für die Region Mittelungarn die bindenden Vorgaben des Urteils vom 2. März 2018 nicht eingehalten habe. Zwar habe der Generaldirektion, wie sie geltend gemacht habe, nur ein kurzer Zeitraum zur Verfügung gestanden, bevor der Steueranspruch und infolgedessen der Anspruch auf den abzuführenden Mehrwertsteuerbetrag verjährt wäre, doch habe dieser Umstand sie nicht von der Erfüllung ihrer gesetzlichen Pflichten befreit. Zum anderen entschied die Kúria (Oberstes Gericht) ebenso wie das Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Hauptstädtisches Verwaltungs- und Arbeitsgericht Budapest), dass die zweite zweitinstanzliche Verwaltungsentscheidung widersprüchlich begründet sei.

 

Dritte zweitinstanzliche Verwaltungsentscheidung

22        Mit Entscheidung vom 6. April 2020 (im Folgenden: dritte zweitinstanzliche Verwaltungsentscheidung) bestätigte die Generaldirektion für die Region Mittelungarn im Wesentlichen die erstinstanzliche Verwaltungsentscheidung, wobei sie den Betrag des gegen Napfény-Toll verhängten Säumniszuschlags abänderte. Zur Begründung führte sie an, dass sie keinen anderen Sachverhalt festgestellt habe als den, der in der erstinstanzlichen Verwaltungsentscheidung bereits zutreffend festgestellt worden sei.

 

23        Napfény-Toll legte gegen die dritte zweitinstanzliche Verwaltungsentscheidung beim Szegedi Törvényszék (Stuhlgericht Szeged, Ungarn), dem vorlegenden Gericht, ein Rechtsmittel ein. Zur Begründung führte sie aus, gemäß § 164 Abs. 1 und 5 der alten Besteuerungsordnung verjähre das Recht der Steuerbehörde, die abzuführenden Mehrwertsteuerbeträge festzusetzen, fünf Jahre nach dem letzten Tag des Kalenderjahrs, in dem die Erklärung oder Mitteilung über diese Steuer hätte abgegeben werden müssen oder, in Ermangelung einer solchen Erklärung oder Mitteilung, in dem die Steuer hätte entrichtet werden müssen. Das Recht der Steuerbehörde, die für die fraglichen Zeiträume abzuführenden Mehrwertsteuerbeträge festzusetzen, sei jedoch vor dem Zeitpunkt des Erlasses der dritten zweitinstanzlichen Verwaltungsentscheidung erloschen. Der wiederholte Erlass von Entscheidungen verstößt nämlich nach Ansicht von Napfény-Toll gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit, den die Verjährung schützen solle. Dies gelte umso mehr, als im Ausgangsverfahren die zweite Eröffnung eines neuen Verfahrens aufgrund dessen erfolgt sei, dass die Generaldirektion für die Region Mittelungarn die Vorgaben der ersten Gerichtsentscheidung nicht eingehalten habe. Es sei also auf das Verschulden der Generaldirektion zurückzuführen, dass sich das Verfahren, das Gegenstand des Ausgangsverfahrens sei, über einen Zeitraum von fast zehn Jahren seit dem Beginn der bei Napfény-Toll angemeldeten Steuerprüfung erstreckt habe.

 

24        In diesem Kontext weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass nach § 164 Abs. 5 der alten Besteuerungsordnung weder eine Begrenzung dafür, wie oft ein Steuerverfahren von der Steuerbehörde wiederholt werden könne, noch für die Gesamtdauer der Aussetzung dieses Verfahrens vorgesehen sei. Nach der Rechtsprechung der Kúria (Oberstes Gericht) werde die Verjährung während der gesamten Dauer der gerichtlichen Überprüfung einer Entscheidung dieser Behörde gehemmt. Folglich sei die Dauer der Hemmung einer Verjährungsfrist im Fall einer gerichtlichen Überprüfung nicht begrenzt, so dass das Recht der Steuerbehörde, die abzuführenden Mehrwertsteuerbeträge festzusetzen, sich um mehrere Jahre und in Extremfällen sogar um Jahrzehnte verlängern könne. Aus diesem Grund zweifelt das vorlegende Gericht daran, dass die im Ausgangsverfahren fragliche Regelung und die damit einhergehende Verwaltungspraxis mit den Grundsätzen der Rechtssicherheit und der Effektivität vereinbar sind.

 

25        Vor diesem Hintergrund hat das Szegedi Törvényszék (Stuhlgericht Szeged) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind der Grundsatz der Rechtssicherheit und der Grundsatz der Effektivität, die Teil des Unionsrechts sind, dahin auszulegen, dass sie einer mitgliedstaatlichen Regelung wie § 164 Abs. 5 der alten Besteuerungsordnung, die dem Gericht keinen Entscheidungsspielraum lässt, und der auf dieser Regelung beruhenden Praxis nicht entgegenstehen, nach denen im Bereich der Mehrwertsteuer die Frist für die Verjährung des Steueranspruchs der Steuerverwaltung während der gesamten Dauer gerichtlicher Überprüfungen unabhängig von der Anzahl der wiederholten Steuerverwaltungsverfahren und ohne zeitliche Obergrenze im Fall mehrerer aufeinanderfolgender gerichtlicher Überprüfungen gehemmt wird, und zwar auch dann, wenn das Gericht, das mit einer Entscheidung befasst ist, die die betreffende Steuerbehörde im Rahmen eines wiederholten Verfahrens erlassen hat und mit der sie einer früheren Gerichtsentscheidung nachkommt, feststellt, dass die Steuerbehörde die in dieser Gerichtsentscheidung enthaltenen Vorgaben nicht beachtet hat, d. h., wenn das neue Gerichtsverfahren auf ein Verschulden der Behörde zurückzuführen ist?

 

Zum Verfahren nach Einreichung des Vorabentscheidungsersuchens

26        Nach Einreichung des Vorabentscheidungsersuchens hat das vorlegende Gericht dem Gerichtshof mit Schreiben vom 3. Mai 2022 eine Kopie der Entscheidung des Alkotmánybíróság (Verfassungsgericht) vom 25. Januar 2022, mit der dieser § 271 Abs. 1 der neuen Besteuerungsordnung für nichtig erklärt hat, soweit er das Wort „wiederholte“ enthält, und eine Kopie einer zweiten Entscheidung des Alkotmánybíróság (Verfassungsgericht) vom 26. April 2022, die ebenfalls in diesem Sinne ergangen ist, übermittelt.

 

27        Mit Schreiben vom 30. Juni 2022 hat der Gerichtshof das vorlegende Gericht mit Blick auf bestimmte Angaben, die dieses zunächst gemacht hatte, aufgefordert, zu bestätigen, dass das Verfahren, das Gegenstand des Ausgangsverfahrens ist, nach der Entscheidung des Alkotmánybíróság (Verfassungsgericht), § 271 Abs. 1 der neuen Besteuerungsordnung für nichtig zu erklären, soweit er das Wort „wiederholte“ enthält, jedenfalls nicht verjährt ist.

 

28        Mit Schreiben vom 7. Juli 2022 hat das vorlegende Gericht im Wesentlichen ausgeführt, dass diese Entscheidung des Alkotmánybíróság (Verfassungsgericht) nur zur Verjährung des Rechts der Steuerbehörde geführt habe, die für das Steuerjahr 2010 abzuführende Mehrwertsteuer festzusetzen. Für das Steuerjahr 2011 hingegen legte das vorlegende Gericht dar, dass es die Frage, ob das Recht der Steuerbehörde, die Mehrwertsteuer festzusetzen, verjährt sei, abhängig von der Antwort des Gerichtshofs auf die Vorlagefrage beurteilen werde.

 

Zur Vorlagefrage

29        Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Effektivität des Unionsrechts dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats und der mit ihr einhergehenden Verwaltungspraxis entgegenstehen, wonach in Mehrwertsteuersachen die Frist, nach deren Ablauf das Recht der Steuerbehörde zur Festsetzung der Mehrwertsteuer verjährt, während der gesamten Dauer gerichtlicher Überprüfungen unabhängig davon, wie oft das gleiche Steuerverwaltungsverfahren infolge dieser Überprüfungen wiederholt werden musste, ohne zeitliche Begrenzung der Gesamtdauer dieser Fristhemmungen einschließlich in dem Fall gehemmt ist, dass das Gericht, das über eine Entscheidung der betreffenden Steuerbehörde befindet, die im Rahmen eines wiederholten Verfahrens ergangen ist, mit dem eine vorherige Gerichtsentscheidung befolgt wurde, feststellt, dass diese Steuerbehörde die in dieser Gerichtsentscheidung enthaltenen Vorgaben nicht beachtet hat.

 

30        Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das Unionsrecht nach geltendem Stand keine Frist festlegt, nach deren Ablauf das Recht der Steuerbehörde zur Festsetzung der Mehrwertsteuer verjährt, und erst recht nicht regelt, in welchen Fällen eine solche Frist zu hemmen ist.

 

31        Zwar stellt die Verordnung Nr. 2988/95, auf die in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof Bezug genommen wurde, bestimmte Anforderungen an die Berechnung und die Hemmung der Verjährungsfristen für die Verfolgung der in dieser Verordnung genannten Unregelmäßigkeiten. Aus Art. 1 Abs. 2 der Verordnung geht jedoch hervor, dass sie nur dann gilt, wenn durch die Verminderung oder den Ausfall einer Eigenmitteleinnahme, die „direkt für Rechnung der [Union] erhoben [wird]“, ein Schaden für den Haushalt der Union bewirkt wurde. Zwar folgt aus dem achten Erwägungsgrund der Richtlinie 2006/112 und aus Art. 2 Abs. 1 Buchst. b des Beschlusses 2007/436, dass Einnahmen, die sich aus der Anwendung eines für alle Mitgliedstaaten einheitlichen Satzes auf die einheitliche Mehrwertsteuer-Eigenmittelbemessungsgrundlage eines jeden Mitgliedstaats ergeben, Eigenmittel der Union darstellen, so dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ein Zusammenhang zwischen der Erhebung der Mehrwertsteuereinnahmen unter Beachtung des einschlägigen Unionsrechts und der Zurverfügungstellung entsprechender Mehrwertsteuermittel für den Haushalt der Union besteht (Urteil vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 26). Dennoch ist nicht davon auszugehen, dass im Sinne von Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2988/95 die Mehrwertsteuer unmittelbar für die Union erhoben wird.

 

32        Zum einen wird die Mehrwertsteuer nämlich von den Steuerpflichtigen eingezogen, die sie erst anschließend an die Mitgliedstaaten weiterleiten. Zum anderen bestehen nach Art. 1 der Verordnung (EWG, Euratom) Nr. 1553/89 des Rates vom 29. Mai 1989 über die endgültige einheitliche Regelung für die Erhebung der Mehrwertsteuereigenmittel (ABl. 1989, L 155, S. 9) die Mehrwertsteuer-Eigenmittel der Union nicht nur in einem Prozentsatz der tatsächlich eingezogenen Mehrwertsteuereinnahmen, sondern sie ergeben sich aus der Anwendung eines für die Mitgliedstaaten einheitlichen Mehrwertsteuersatzes, der nach Art. 3 der Verordnung berechnet wird und verschiedenen in dieser Verordnung vorgesehenen Anpassungen unterliegt.

 

33        Insoweit trifft es zwar zu, dass der Gerichtshof anerkannt hat, dass das auf Art. K.3 des Vertrags über die Europäische Union gestützte, am 26. Juli 1995 in Luxemburg unterzeichnete Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 1995, C 316, S. 48) auf Betrugsfälle anwendbar ist, die Einnahmen betreffen, die sich aus der Anwendung eines einheitlichen Satzes auf die nach den Unionsvorschriften bestimmte einheitliche Mehrwertsteuer-Eigenmittelbemessungsgrundlage ergeben. Art. 1 dieses Übereinkommens enthält jedoch entgegen dem klaren Wortlaut von Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2988/95 gerade nicht die Voraussetzung, dass die betreffenden Einnahmen unmittelbar für die Rechnung der Union erhoben werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. September 2015, Taricco u. a., C‑105/14, EU:C:2015:555, Rn. 41).

 

34        In Ermangelung anwendbarer unionsrechtlicher Bestimmungen ist es Sache der Mitgliedstaaten, Verjährungsvorschriften für das Recht der Steuerbehörde zur Festsetzung der geschuldeten Mehrwertsteuer, einschließlich der Modalitäten der Hemmung und/oder Unterbrechung dieser Verjährung, festzulegen und anzuwenden (vgl. entsprechend Urteil vom 21. Januar 2021, Whiteland Import Export, C‑308/19, EU:C:2021:47, Rn. 45).

 

35        Auch wenn die Festlegung und Anwendung dieser Vorschriften in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen, müssen diese jedoch eine solche Zuständigkeit unter Beachtung des Unionsrechts ausüben, das die Festlegung angemessener Fristen verlangt, die zugleich den Steuerpflichtigen und die Behörde schützen (vgl. entsprechend Urteil vom 8. September 2011, Q-Beef und Bosschaert, C‑89/10 und C‑96/10, EU:C:2011:555, Rn. 36).

 

36        Insoweit hat der Gerichtshof entschieden, dass eine Verjährungsfrist von fünf Jahren für Anträge auf Erstattung der zu viel gezahlten Mehrwertsteuer, die ab Ende des Kalenderjahres beginnt, in dem die Frist für die Zahlung der Steuer abgelaufen ist, mit dem Unionsrecht vereinbar war (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Dezember 2017, Caterpillar Financial Services, C‑500/16, EU:C:2017:996, Rn. 43).

 

37        Entsprechend ist in Anbetracht dieser Rechtsprechung eine Verjährungsfrist für das Recht der Steuerbehörde zur Festsetzung der geschuldeten Mehrwertsteuer mit dem Unionsrecht vereinbar, die, wie im Ausgangsverfahren, fünf Jahre nach dem letzten Tag des Kalenderjahrs beträgt, in dem die Erklärung oder Mitteilung über diese Steuer hätte abgegeben werden müssen oder, in Ermangelung einer solchen Erklärung oder Mitteilung, die Steuer hätte entrichtet werden müssen.

 

38        In diesem Kontext möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Effektivität dahin auszulegen sind, dass sie dem entgegenstehen, dass eine solche Verjährungsfrist während der gesamten Dauer gerichtlicher Überprüfungen gehemmt werden kann.

 

39        Als Erstes ist darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit Teil der Unionsrechtsordnung und als solcher von den Mitgliedstaaten bei der Ausübung der in den Rn. 31 und 32 des vorliegenden Urteils angeführten Befugnisse zu beachten ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. Dezember 2015, Veloserviss, C‑427/14, EU:C:2015:803, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 20. Mai 2021, BTA Baltic Insurance Company, C‑230/20, EU:C:2021:410, Rn. 45).

 

40        Nach ständiger Rechtsprechung verlangt dieser Grundsatz, dass Tatbestände und Rechtsbeziehungen voraussehbar sind und dass u. a. die Lage eines Steuerpflichtigen in Bezug auf seine Rechte und Pflichten gegenüber der Steuer- oder Zollverwaltung nicht unbegrenzt offenbleiben kann (Urteil vom 10. Dezember 2015, Veloserviss, C‑427/14, EU:C:2015:803, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung), was beinhaltet, dass sich dieser Steuerpflichtige, damit er sich erfolgreich auf die Anwendung dieses Grundsatzes berufen kann, auf eine bestimmte Rechtslage berufen kann.

 

41        Da jedoch die Steuerbehörde dem betroffenen Steuerpflichtigen vor Ablauf der hierfür vorgesehenen Verjährungsfrist ihre Absicht mitgeteilt hat, seine steuerliche Situation erneut zu prüfen und damit ihre Entscheidung über die Annahme seiner Erklärung implizit zurückzunehmen, kann sich dieser Steuerpflichtige nicht mehr auf die Situation berufen, die auf der Grundlage dieser Erklärung entstanden wäre, so dass in einem solchen Fall und mangels weiterer Umstände kein Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit vorliegt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Juli 2015, Cabinet Medical Veterinar Dr. Tomoiagă Andrei, C‑144/14, EU:C:2015:452, Rn. 40).

 

42        Die Anforderungen, die sich aus der Anwendung des Grundsatzes der Rechtssicherheit ergeben, gelten nicht absolut. Daher müssen die Mitgliedstaaten im Übrigen darauf achten, sie mit den anderen Anforderungen, die mit ihrer Unionszugehörigkeit verbunden sind, in Ausgleich zu bringen, insbesondere mit den in Art. 4 Abs. 3 EUV genannten Anforderungen, alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus den Verträgen oder den von den Organen in deren Anwendung erlassenen Rechtsakten ergeben, zu ergreifen. Somit müssen die nationalen Vorschriften, die die Modalitäten für die Hemmung der Verjährungsfrist für das Recht der Steuerbehörde auf Festsetzung der geschuldeten Mehrwertsteuer festlegen, so ausgestaltet sein, dass sie ein Gleichgewicht zwischen zum einen den mit der Anwendung dieses Grundsatzes verbundenen Anforderungen und zum anderen den Anforderungen, die eine tatsächliche und wirksame Umsetzung der Richtlinie 2006/112 ermöglichen, herstellen, wobei dieses Gleichgewicht unter Berücksichtigung aller Aspekte der nationalen Verjährungsregelung zu beurteilen ist (vgl. entsprechend Urteil vom 21. Januar 2021, Whiteland Import Export, C‑308/19, EU:C:2021:47, Rn. 49 und 50).

 

43        Zwar können eine nationale Regelung und eine Verwaltungspraxis wie die vom vorlegenden Gericht beschriebenen, deren Vorhersehbarkeit bei der Anwendung gegenüber den Steuerpflichtigen im Ausgangsverfahren nicht bestritten wird, zu einer Verlängerung der Verjährungsfrist führen, doch sind sie nicht grundsätzlich geeignet, die Situation der betroffenen Steuerpflichtigen auf unbestimmte Zeit in Frage zu stellen. Vielmehr ermöglicht eine solche Hemmung, zu verhindern, dass die tatsächliche und wirksame Umsetzung der Richtlinie 2006/112 durch die Einlegung von Verschleppungsklagen gefährdet werden kann und infolgedessen wegen eines systemischen Risikos der Nichtahndung von Zuwiderhandlungen gegen diese Rechtlinie gefährdet wird (vgl. entsprechend Urteil vom 21. Januar 2021, Whiteland Import Export, C‑308/19, EU:C:2021:47, Rn. 53 und 56).

 

44        Folglich ist festzustellen, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit einer nationalen Regelung und einer Verwaltungspraxis nicht entgegensteht, wonach die Frist, nach deren Ablauf das Recht der Steuerbehörde zur Festsetzung der Mehrwertsteuer verjährt, während der gesamten Dauer gerichtlicher Überprüfungen unabhängig davon, wie oft das betreffende Steuerverwaltungsverfahren infolge dieser Überprüfungen wiederholt werden musste, ohne zeitliche Begrenzung der Gesamtdauer dieser Fristhemmungen gehemmt ist.

 

45        Als Zweites ist in Bezug auf den Grundsatz der Effektivität, den das vorlegende Gericht in seiner Frage ebenfalls angeführt hat, darauf hinzuweisen, dass dieser zusammen mit dem Äquivalenzgrundsatz, dessen Einhaltung das vorlegende Gericht nicht in Frage gestellt hat, einen Rahmen für die Verfahrensautonomie festlegt, über die die Mitgliedstaaten bei der Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Rechte, die die Unionsrechtsordnung den Einzelnen verleiht, dann verfügen, wenn das Unionsrecht insoweit keine spezifische Regelung enthält.

 

46        Die Regelungen des nationalen Rechts über die Fristen, nach deren Ablauf die in der Richtlinie 2006/112 vorgesehenen Rechte und Pflichten verjähren, sowie über die Bedingungen für die Hemmung dieser Fristen stellen Modalitäten zur Umsetzung der Bestimmungen dieser Richtlinie dar, und als solche müssen sie demnach die Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz beachten (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 20. Dezember 2017, Caterpillar Financial Services, C‑500/16, EU:C:2017:996, Rn. 37, vom 26. April 2018, Zabrus Siret, C‑81/17, EU:C:2018:283, Rn. 38, vom 14. Februar 2019, Nestrade, C‑562/17, EU:C:2019:115, Rn. 35, und vom 23. April 2020, Sole-Mizo und Dalmandi Mezőgazdasági, C‑13/18 und C‑126/18, EU:C:2020:292, Rn. 53). Dies wird im Übrigen vorliegend nicht bestritten.

 

47        Infolgedessen dürfen gemäß dem Grundsatz der Effektivität diese Verfahrensmodalitäten nicht so ausgestaltet sein, dass sie die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. Juli 2012, Littlewoods Retail u. a., C‑591/10, EU:C:2012:478, Rn. 28, und vom 28. Juni 2022, Kommission/Spanien [Verstoß des Gesetzgebers gegen das Unionsrecht], C‑278/20, EU:C:2022:503, Rn. 33).

 

48        Die Tatsache, dass nach einer nationalen Regelung oder Verwaltungspraxis die Frist, nach deren Ablauf das Recht der Steuerbehörde zur Festsetzung der Mehrwertsteuer verjährt, während der gesamten Dauer gerichtlicher Überprüfungen unabhängig davon, wie oft das betreffende Steuerverwaltungsverfahren infolge dieser Überprüfungen wiederholt werden musste, ohne zeitliche Begrenzung der Gesamtdauer dieser Fristhemmungen gehemmt ist, ist allerdings nicht geeignet, die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich zu machen oder zumindest übermäßig erschweren.

 

49        Die Tatsache, dass die Frist, nach deren Ablauf das Recht der Steuerbehörde zur Festsetzung der Mehrwertsteuer verjährt, während der gesamten Dauer gerichtlicher Überprüfungen gehemmt ist, hindert den betreffenden Steuerpflichtigen nämlich keineswegs daran, die Rechte geltend zu machen, die ihm durch die Unionsrechtsordnung und insbesondere durch die Richtlinie 2006/112 verliehen werden. Diese Fristhemmung soll ihm vielmehr ermöglichen, die Rechte, die ihm nach dem Unionsrecht zustehen, erfolgreich geltend zu machen, während die Rechte der Steuerbehörde gewahrt bleiben.

 

50        Im Übrigen ergibt sich im vorliegenden Fall aus der Darstellung des Sachverhalts im Vorabentscheidungsersuchen, dass die Klägerin des Ausgangsverfahrens gegen die nacheinander ergangenen Entscheidungen der Steuerbehörde Rechtsbehelfe einlegen und bei diesen Gelegenheiten wiederholt die Rechte, die ihr nach dem Unionsrecht zustehen, geltend machen konnte. Insbesondere konnte sich die Klägerin des Ausgangsverfahrens trotz der bestehenden Regelung und Verwaltungspraxis, um die es im Ausgangsverfahren geht, auf der Grundlage des Grundsatzes der Rechtssicherheit auf die Verpflichtung der Mitgliedstaaten berufen, eine angemessene Verjährungsfrist zu bestimmen, innerhalb deren die betreffende Behörde das Verfahren zur Prüfung der Situation eines Steuerpflichtigen wieder eröffnen kann. So geht aus der Akte, über die der Gerichtshof verfügt, hervor und wurde im Übrigen in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof sowohl von der ungarischen Regierung als auch von der Klägerin des Ausgangsverfahrens bestätigt, dass das Recht der Steuerbehörde, die für die im Juni 2010 getätigten Umsätze geschuldete Mehrwertsteuer festzusetzen, erloschen ist, ohne dass es der Steuerbehörde gelungen wäre, einen mit der Richtlinie 2006/112 vereinbaren Berichtigungsbescheid zu erlassen.

 

51        Folglich ist festzustellen, dass auch der Grundsatz der Effektivität einer nationalen Regelung und einer Verwaltungspraxis nicht entgegensteht, wonach die Frist, nach deren Ablauf das Recht der Steuerbehörde zur Festsetzung der Mehrwertsteuer verjährt, während der gesamten Dauer gerichtlicher Überprüfungen unabhängig davon, wie oft das betreffende Steuerverwaltungsverfahren infolge dieser Überprüfungen wiederholt werden musste, ohne zeitliche Begrenzung der Gesamtdauer dieser Fristhemmungen gehemmt ist.

 

52        Als Drittes ist in Übereinstimmung mit den Ausführungen des Generalanwalts in den Nrn. 60 bis 65 seiner Schlussanträge darauf hinzuweisen, dass der Umstand, dass weder der Grundsatz der Rechtssicherheit noch der Grundsatz der Effektivität einer solchen Regelung und Verwaltungspraxis entgegenstehen, es nicht ausschließt, dass nach dem Unionsrecht gegebenenfalls Konsequenzen daraus gezogen werden müssen, dass ein Steuerverfahren übermäßig oft wiederholt wurde, bevor eine mit der Richtlinie 2006/112 zu vereinbarende Entscheidung erreicht wurde, oder daraus, dass die Gesamtdauer der Hemmungen der Frist, nach deren Ablauf dieses Recht der Steuerbehörde verjährt, übermäßig lang ist.

 

53        Sobald nämlich eine nationale Verwaltung gegenüber einer Person das Unionsrecht durchführt, steht dieser nach dem Recht auf eine gute Verwaltung, das einen Grundsatz des Unionsrechts widerspiegelt, das Recht zu, dass ihre Angelegenheit innerhalb einer angemessenen Frist behandelt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Mai 2020, Agrobet CZ, C‑446/18, EU:C:2020:369, Rn. 43). Zusätzlich hat sie im Fall eines gerichtlichen Rechtsbehelfs gemäß Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union einen Anspruch darauf, dass über ihre Sache ebenfalls innerhalb einer angemessenen Frist entschieden wird.

 

54        Sobald das Verfahren zur Prüfung der Situation eines Steuerpflichtigen in Bezug auf die Vorschriften des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems wieder eröffnet wird, erfordern folglich der Grundsatz der guten Verwaltung und Art. 47 der Charta der Grundrechte, dass die Dauer einer solchen erneuten Prüfung und der sich gegebenenfalls anschließenden gerichtlichen Überprüfungen im Hinblick auf die Umstände des Einzelfalls nicht unangemessen ist.

 

55        Zwar stellen nicht jeder erfolglose Versuch der Steuerbehörde, einer gerichtlichen Entscheidung nachzukommen, in der unionsrechtliche Bestimmungen angewendet werden, und die daraus folgende spätere Verlängerung der Dauer des Verwaltungsverfahrens einen Verstoß gegen das Unionsrecht dar. Ein solcher Verstoß könnte hingegen vorliegen, wenn dieses Verwaltungsverfahren aufgrund dessen wiederholt werden musste, dass diese Behörde einen tragenden Grund einer gerichtlichen Entscheidung über dieses Verwaltungsverfahren offenkundig missachtet hat, sofern dieser Grund in dieser gerichtlichen Entscheidung klar und ausdrücklich genannt wurde.

 

56        Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass die überlange Dauer eines Verfahrens, sei es ein Verwaltungs- oder ein Gerichtsverfahren, nur dann die Nichtigerklärung bzw. Aufhebung der am Ende des betreffenden Verfahrens getroffenen Entscheidung rechtfertigen kann, wenn diese Dauer die Fähigkeit der betroffenen Person, sich zu verteidigen, beeinträchtigt hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. November 2013, Gascogne Sack Deutschland/Kommission, C‑40/12 P, EU:C:2013:768, Rn. 81, und vom 8. Mai 2014, Bolloré/Kommission, C‑414/12 P, EU:C:2014:301, Rn. 84).

 

57        Da Steuerpflichtige während der Verjährungsfrist damit rechnen müssen, dass ihre auf der Grundlage ihrer Steuererklärung entstandene Rechtslage in Frage gestellt werden kann, und dass sie, wenn die Steuerbehörde sie über die Wiedereröffnung des Verfahrens zur Prüfung dieser Rechtslage informiert, veranlasst sein könnten, die in ihrer Steuererklärung enthaltenen Angaben belegen zu müssen, und schließlich, dass sie, wenn sie eine Klage gegen den am Ende dieses Verfahrens erlassenen Berichtigungsbescheid einlegen, Beweis für die Begründetheit ihres Vorbringens antreten müssen, obliegt es ihnen, die Aufbewahrung aller relevanten Belege im Zusammenhang mit ihrer Steuererklärung sicherzustellen, bis die Steuerbescheide rechtskräftig geworden sind. Angesichts der herausragenden Rolle, die die Steuererklärung und Urkunden im gemeinsamen Mehrwertsteuersystem zum Zweck des Nachweises der Richtigkeit der Erklärungen der Steuerpflichtigen einnehmen, könnte daher nur unter außergewöhnlichen Umständen festgestellt werden, dass die überlange Dauer eines Verwaltungs- oder Gerichtsverfahrens die Fähigkeit der betroffenen Person, sich zu verteidigen, beeinträchtigt haben könnte.

 

58        Vorliegend geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten nicht hervor, dass die Beurteilung der Gültigkeit der dritten zweitinstanzlichen Verwaltungsentscheidung durch das vorlegende Gericht ausschließlich von Nachweisen abhängt, die nicht unter die in der vorstehenden Randnummer dargestellte Verpflichtung fallen und die aufgrund der Wiederholung der Steuerverfahren oder aufgrund der Gesamtdauer der Hemmungen der Verjährungsfrist inzwischen untergegangen sind.

 

59        Es ist jedoch Sache dieses Gerichts, u. a. unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls festzustellen, ob diese mehrfachen Wiederholungen des Verwaltungsverfahrens und Hemmungen der Verjährungsfrist einen Verstoß der Steuerbehörde oder der nationalen Gerichte gegen ihre Verpflichtungen zur guten Verwaltung bzw. zur Entscheidung innerhalb einer angemessenen Frist darstellen können, der sich darüber hinaus auf die Fähigkeit der betroffenen Person, sich zu verteidigen, ausgewirkt hat.

 

60        Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Effektivität des Unionsrechts dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats und der mit ihr einhergehenden Verwaltungspraxis nicht entgegenstehen, wonach in Mehrwertsteuersachen die Frist, nach deren Ablauf das Recht der Steuerbehörde zur Festsetzung der Mehrwertsteuer verjährt, während der gesamten Dauer gerichtlicher Überprüfungen unabhängig davon, wie oft das Steuerverwaltungsverfahren infolge dieser Überprüfungen wiederholt werden musste, ohne zeitliche Begrenzung der Gesamtdauer dieser Fristhemmungen auch in dem Fall gehemmt ist, dass das Gericht, das über eine Entscheidung der betreffenden Steuerbehörde befindet, die im Rahmen eines wiederholten Verfahrens ergangen ist, um einer früheren Gerichtsentscheidung nachzukommen, feststellt, dass diese Steuerbehörde die in dieser Gerichtsentscheidung enthaltenen Vorgaben nicht beachtet hat.

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