EuGH: Wiedereinfuhr von Gegenständen – Voraussetzung der Einfuhrabgabenbefreiung von Rückwaren
– Entstehung einer Zollschuld wegen Nichterfüllung einer formalen Verpflichtung nach den zollrechtlichen Vorschriften
EuGH, Urteil vom 12.6.2025 – C-125/24, AA gegen Allmänna ombudet hos Tullverket
ECLI:EU:C:2025:431
Volltext BB-Online BBL2025-1493-1
Tenor
Art. 143 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem sowie Art. 86 Abs. 6 und Art. 203 der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union sind so auszulegen, dass, sofern es sich dabei um keinen Täuschungsversuch handelt, die Nichterfüllung formaler Verpflichtungen – wie der Gestellung der Waren gemäß Art. 139 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung und der Anmeldung zur Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr gemäß Art. 203 der Verordnung – der Befreiung von der Mehrwertsteuer nach Art. 143 Abs. 1 Buchst. e der Mehrwertsteuerrichtlinie für die Wiedereinfuhr von Gegenständen in das Gebiet der Europäischen Union in dem Zustand, in dem sie ausgeführt wurden, nicht entgegensteht.
Aus den Gründen
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 143 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) sowie von Art. 86 Abs. 6 und Art. 203 der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union (ABl. 2013, L 269, S. 1, im Folgenden: Zollkodex) in Bezug auf die Voraussetzungen für die Mehrwertsteuerbefreiung einer Wiedereinfuhr von Gegenständen.
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen AA und dem Allmänna ombudet hos Tullverket (Vertreter des öffentlichen Interesses bei der Zollverwaltung, Schweden) über die Frage, ob ein Vorgang der Wiedereinfuhr von Pferden in das Gebiet der Europäischen Union der Mehrwertsteuer unterliegt.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Mehrwertsteuerrichtlinie
3 In Art. 2 Abs. 1 Buchst. d der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es:
„Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:
…
d) die Einfuhr von Gegenständen.“
4 In Art. 30 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es:
„Als ‚Einfuhr eines Gegenstands‘ gilt die Verbringung eines Gegenstands, der sich nicht im freien Verkehr im Sinne des Artikels [29 AEUV] befindet, in die [Europäische] Gemeinschaft.“
5 Art. 70 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„Steuertatbestand und Steueranspruch treten zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Einfuhr des Gegenstands erfolgt.“
6 Art. 71 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„In den Fällen, in denen die eingeführten Gegenstände keiner der Abgaben im Sinne des Absatzes 1 Unterabsatz 2 unterliegen, wenden die Mitgliedstaaten in Bezug auf Steuertatbestand und Steueranspruch die für Zölle geltenden Vorschriften an.“
7 Art. 143 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten befreien folgende Umsätze von der Steuer:
…
e) die Wiedereinfuhr von unter eine Zollbefreiung fallenden Gegenständen durch denjenigen, der sie ausgeführt hat, und zwar in dem Zustand, in dem sie ausgeführt wurden“.
Zollkodex
8 Im 38. Erwägungsgrund des Zollkodex heißt es:
„Es ist angebracht, dem guten Glauben des Beteiligten in den Fällen, in denen eine Zollschuld auf einer Nichteinhaltung zollrechtlicher Vorschriften beruht, Rechnung zu tragen und die Folgen fahrlässigen Verhaltens des Zollschuldners auf ein Mindestmaß abzumildern.“
9 Art. 1 Abs. 1 des Zollkodex bestimmt:
„Diese Verordnung enthält den Zollkodex …, in dem die allgemeinen Vorschriften und Verfahren festgelegt sind, die auf die in das und aus dem Zollgebiet der Union verbrachten Waren Anwendung finden.“
10 In Art. 79 Abs. 1 des Zollkodex heißt es:
„Für einfuhrabgabenpflichtige Waren entsteht eine Einfuhrzollschuld, wenn Folgendes nicht erfüllt ist:
a) eine der in den zollrechtlichen Vorschriften festgelegten Verpflichtungen in Bezug auf das Verbringen von Nicht-Unionswaren in das Zollgebiet der Union, auf das Entziehen dieser Waren aus der zollamtlichen Überwachung oder auf die Beförderung, Veredelung, Lagerung, vorübergehende Verwahrung, vorübergehende Verwendung oder Verwertung dieser Waren in diesem Gebiet,
…“
11 Art. 86 Abs. 6 des Zollkodex lautet:
„Ist in den zollrechtlichen Vorschriften eine zolltarifliche Abgabenbegünstigung oder die vollständige oder teilweise Befreiung von den Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben nach Artikel 56 Absatz 2 Buchstaben d bis g, nach den Artikeln 203, 204, 205 und 208 oder den Artikeln 259 bis 262 der vorliegenden Verordnung oder nach der Verordnung (EG) Nr. 1186/2009 des Rates vom 16. November 2009 über das gemeinschaftliche System der Zollbefreiungen [(ABl. 2009, L 324, S. 23)] vorgesehen, so gilt diese zolltarifliche Abgabenbegünstigung oder Befreiung auch in den Fällen, in denen eine Zollschuld nach Artikel 79 oder 82 der vorliegenden Verordnung entstanden ist, sofern der Verstoß, durch den die Zollschuld entstanden ist, kein Täuschungsversuch war.“
12 Art. 139 Abs. 1 des Zollkodex sieht vor:
„Die in das Zollgebiet der Union verbrachten Waren sind bei ihrer Ankunft bei der bezeichneten Zollstelle oder an einem anderen von den Zollbehörden bezeichneten oder zugelassenen Ort oder in der Freizone unverzüglich von einer der folgenden Personen zu gestellen,
a) der Person, die die Waren in das Zollgebiet der Union verbracht hat,
b) der Person, in deren Namen oder in deren Auftrag die Person handelt, die die Waren in dieses Gebiet verbracht hat,
c) der Person, die die Verantwortung für die Beförderung der Waren nach dem Verbringen in das Zollgebiet der Union übernommen hat.“
13 Art. 203 des Zollkodex bestimmt:
„(1) Nicht-Unionswaren, die ursprünglich als Unionswaren aus dem Zollgebiet der Union ausgeführt wurden und innerhalb von drei Jahren wieder in dieses Zollgebiet eingeführt und dort zur Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr angemeldet werden, werden auf Antrag des Beteiligten von den Einfuhrabgaben befreit.
…
(5) Die Befreiung von den Einfuhrabgaben wird nur gewährt, wenn die Waren sich bei der Wiedereinfuhr in demselben Zustand befinden wie bei der Ausfuhr.
(6) Die Befreiung von den Einfuhrabgaben wird durch Informationen untermauert, aus denen hervorgeht, dass die Bedingungen für die Befreiung erfüllt sind.“
Schwedisches Recht
Mehrwertsteuergesetz
14 Kapitel 1 § 1 Abs. 1 Nr. 3 des Mervärdesskattelag (1994:200) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (Gesetz Nr. 1994:200 über die Mehrwertsteuer, im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz) bestimmt:
„Nach diesem Gesetz ist eine Mehrwertsteuer an den Staat zu entrichten
…
3. bei der steuerpflichtigen Einfuhr von Gegenständen ins Inland.“
15 Kapitel 2 § 1a des Mehrwertsteuergesetzes lautet:
„Einfuhr bedeutet das Verbringen eines Gegenstands von einem Ort außerhalb der EU nach Schweden.“
16 Kapitel 3 § 30 des Mehrwertsteuergesetzes sieht vor:
„Von der Steuer befreit ist eine Einfuhr, die nach dem Lag om frihet från skatt vid import, m.m. (1994:1551) [(Gesetz Nr. 1994:1551 über die Steuerfreiheit bei der Einfuhr u. a., im Folgenden: Gesetz über die Steuerfreiheit bei der Einfuhr)] steuerbefreit ist.“
Gesetz über die Steuerfreiheit bei der Einfuhr
17 Kapitel 2 § 5 Abs. 1 und 2 des Gesetzes über die Steuerfreiheit bei der Einfuhr bestimmt:
„Von der Steuer befreit sind Unionswaren, die, nachdem sie aus der Union in ein Drittland ausgeführt wurden, von demjenigen nach Schweden eingeführt werden, der sie ausgeführt hat, wenn sie während der Zeit, in der sie außerhalb der Union waren, nicht bearbeitet worden sind.
Steuerfreiheit nach Abs. 1 wird nur gewährt, wenn die Waren von einer Zollbefreiung nach den Art. 203 bis 205 de[s] … Zollkodex … umfasst sind. Waren, die gemäß der Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 [des Rates vom 23. Juli 1987 über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif (ABl. 1987, L 256, S. 1)] zollfrei sind, sind so zu behandeln, als seien sie zollpflichtig.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
18 AA ist Eigentümerin von Pferden, die an Turnieren in verschiedenen Ländern teilnehmen. Nachdem sie zwei ihrer Pferde zur Teilnahme an solchen Turnieren nach Norwegen verbracht hatte, führte sie sie an einem Grenzübergang von Norwegen nach Schweden wieder in die Union ein, ohne sie zu gestellen. Kurz nachdem sie die Zollstelle passiert hatte, wurde sie von einer Straßenkontrolle des Tullverket (Zollverwaltung, Schweden) angehalten.
19 Unter Berücksichtigung von Art. 203 des Zollkodex wurden von AA für diesen Vorgang der Wiedereinfuhr keine Einfuhrabgaben erhoben, die Zollverwaltung war aber der Ansicht, dass AA Mehrwertsteuer in Höhe von 41 178 schwedischen Kronen (SEK) (etwa 3 750 Euro) schulde. Zwar sehe Kapitel 2 § 5 des Gesetzes über die Steuerfreiheit bei der Einfuhr, mit dem Art. 143 Abs. 1 Buchst. e der Mehrwertsteuerrichtlinie in schwedisches Recht umgesetzt werde, bei der Wiedereinfuhr von Gegenständen eine Mehrwertsteuerbefreiung vor, doch könne diese Befreiung AA, die die Pferde nicht zur Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr angemeldet und auch keine Befreiung von den Einfuhrabgaben beantragt habe, nicht gewährt werden.
20 Das Förvaltningsrätt i Karlstad (Verwaltungsgericht Karlstad, Schweden) wies die Klage von AA gegen die Entscheidung der Zollverwaltung ab. Das Gericht stellte fest, dass die Pferde bei ihrer Rückkehr in das Gebiet der Union nicht gestellt worden seien. Es war der Ansicht, dass eine Zollschuld entstanden sei und dass aufgrund dieser Situation Mehrwertsteuer zu bezahlen sei. Das Gericht wies außerdem darauf hin, dass Gegenstände für eine Befreiung von der Mehrwertsteuer bei der Wiedereinfuhr zur Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr angemeldet werden müssten und dass der Anmeldende einen Antrag auf Zollbefreiung stellen müsse. Da diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall nicht erfüllt worden seien, könne die Befreiung von der Mehrwertsteuer nicht gewährt werden.
21 AA und der Vertreter des öffentlichen Interesses bei der Zollverwaltung legten beide gegen das Urteil des Förvaltningsrätt i Karlstad (Verwaltungsgericht Karlstad) Rechtsmittel beim Kammarrätt i Göteborg (Oberverwaltungsgericht Göteborg, Schweden) ein und beantragten, die Entscheidung, dass AA mehrwertsteuerpflichtig ist, aufzuheben. Die Rechtsmittel wurden zurückgewiesen.
22 AA hat beim Högsta förvaltningsdomstol (Oberstes Verwaltungsgericht, Schweden), dem vorlegenden Gericht, Rechtsmittel eingelegt.
23 Zu den Konsequenzen, die daraus zu ziehen sind, dass AA die Zollstelle passierte, ohne dass die betreffenden Pferde gestellt wurden sowie ohne eine Anmeldung vorzunehmen und auch ohne einen Antrag auf Zollbefreiung zu stellen, weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass es Schwierigkeiten habe, Art. 86 Abs. 6 des Zollkodex anzuwenden. Nach dieser Bestimmung gilt eine Befreiung von den Einfuhrabgaben, wenn diese u. a. nach Art. 203 des Zollkodex vorgesehen ist, auch in den Fällen, in denen eine Zollschuld nach Art. 79 des Zollkodex wegen Nichterfüllung der Pflicht zur Gestellung von in das Gebiet der Union eingeführten Waren entstanden ist, sofern dieser Verstoß kein Täuschungsversuch war.
24 In diesem Zusammenhang fragt sich das vorlegende Gericht, ob Art. 86 Abs. 6 des Zollkodex eng auszulegen ist und die Voraussetzungen nach Art. 203 des Zollkodex für die Gewährung der Befreiung von der Mehrwertsteuer in allen Fällen erfüllt sein müssen, oder ob diese Befreiung auch dann gelten muss, wenn die formalen Voraussetzungen gemäß Art. 203 nicht erfüllt sind.
25 Unter diesen Umständen hat der Högsta förvaltningsdomstol (Oberstes Verwaltungsgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Sind Art. 143 Abs. 1 Buchst. e der Mehrwertsteuerrichtlinie sowie Art. 86 Abs. 6 und Art. 203 des Zollkodex so auszulegen, dass sowohl die materiellen als auch die formalen Voraussetzungen, die in Art. 203 genannt sind, erfüllt sein müssen, damit eine Befreiung von den Einfuhrabgaben und damit eine Befreiung von der Mehrwertsteuer bei der Wiedereinfuhr zu gewähren ist, wenn eine Zollschuld nach Art. 79 des Zollkodex wegen Nichterfüllung der Gestellungspflicht gemäß Art. 139 Abs. 1 des Zollkodex entstanden ist?
Zur Vorlagefrage
26 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 143 Abs. 1 Buchst. e der Mehrwertsteuerrichtlinie sowie Art. 86 Abs. 6 und Art. 203 des Zollkodex so auszulegen sind, dass die Nichterfüllung formaler Verpflichtungen – wie der Gestellung der Waren gemäß Art. 139 Abs. 1 Buchst. a des Zollkodex und der Anmeldung zur Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr gemäß Art. 203 des Zollkodex – der Befreiung von der Mehrwertsteuer nach Art. 143 Abs. 1 Buchst. e der Mehrwertsteuerrichtlinie für die Wiedereinfuhr von Gegenständen in das Gebiet der Union in dem Zustand, in dem sie ausgeführt wurden, entgegensteht.
27 Nach Art. 143 Abs. 1 Buchst. e der Mehrwertsteuerrichtlinie befreien die Mitgliedstaaten „die Wiedereinfuhr von unter eine Zollbefreiung fallenden Gegenständen durch denjenigen, der sie ausgeführt hat, und zwar in dem Zustand, in dem sie ausgeführt wurden“, von der Mehrwertsteuer.
28 Schon aus dem Wortlaut dieser Bestimmung geht hervor, dass die Befreiung von der Mehrwertsteuer für die Wiedereinfuhr von Gegenständen in dem Zustand, in dem sie ausgeführt wurden, u. a. davon abhängt, dass diese Gegenstände „unter eine Zollbefreiung fallen“. Der Unionsgesetzgeber hat sich somit ausdrücklich dafür entschieden, die Voraussetzungen für die Anwendung der Mehrwertsteuerbefreiung nach dieser Bestimmung sowohl an die materiellen als auch an die formalen Voraussetzungen anzupassen, von denen der Zollkodex die Einfuhrabgabenbefreiung für Rückwaren abhängig macht.
29 Was diese Voraussetzungen anbelangt, bestimmt Art. 203 des Zollkodex, der Rückwaren betrifft, dass Waren, die aus dem Zollgebiet der Union ausgeführt wurden und innerhalb von drei Jahren in demselben Zustand, in dem sie ausgeführt wurden, wieder in dieses Gebiet eingeführt und dort zur Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr angemeldet werden, auf Antrag des Beteiligten von den Einfuhrabgaben befreit werden.
30 Im vorliegenden Fall steht nach den Angaben des vorlegenden Gerichts fest, dass die materiellen Voraussetzungen gemäß Art. 203 des Zollkodex erfüllt sind. Das ist jedoch bei den nach dieser Bestimmung erforderlichen formalen Voraussetzungen nicht der Fall. Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht nämlich hervor, dass AA ihre Pferde insbesondere ohne Anmeldung zur Überführung in den zollrechtlich freien Verkehr wieder in die Union eingeführt hat. Darüber hinaus hat AA ihre Pferde entgegen dem Erfordernis des Art. 139 Abs. 1 Buchst. a des Zollkodex auch nicht gestellt.
31 Insoweit kann eine Zollschuld zwar nach Art. 79 Abs. 1 Buchst. a des Zollkodex entstehen, wenn „eine der in den zollrechtlichen Vorschriften festgelegten Verpflichtungen in Bezug auf das Verbringen von Nicht-Unionswaren in das Zollgebiet der Union, auf das Entziehen dieser Waren aus der zollamtlichen Überwachung oder auf die Beförderung, Veredelung, Lagerung, vorübergehende Verwahrung, vorübergehende Verwendung oder Verwertung dieser Waren in diesem Gebiet“ nicht erfüllt ist.
32 Art. 86 Abs. 6 des Zollkodex dehnt jedoch die Befreiung gemäß Art. 203 des Zollkodex auf die Fälle aus, in denen eine Zollschuld u. a. nach Art. 79 entstanden ist, sofern der Verstoß, durch den diese Schuld entstanden ist, kein Täuschungsversuch war.
33 Art. 86 Abs. 6 würde weitgehend die praktische Wirksamkeit genommen, wenn er dahin auszulegen wäre, dass er in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden keine Anwendung findet, weil die formalen Voraussetzungen für eine Zollbefreiung nicht erfüllt sind. Wie die Europäische Kommission in ihren Erklärungen im Wesentlichen ausgeführt hat, bedingt die Anwendung von Art. 79 Abs. 1 Buchst. a und damit von Art. 86 Abs. 6 des Zollkodex nämlich gerade, dass diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind.
34 Demzufolge steht, sofern es sich dabei um keinen Täuschungsversuch handelt, der Umstand, dass Rückwaren weder Gegenstand der nach Art. 139 Abs. 1 Buchst. a des Zollkodex erforderlichen Gestellung noch der in Art. 203 des Zollkodex vorgesehenen Anmeldung zur Überführung in den zollrechtlich freien Verkehr waren, gemäß Art. 86 Abs. 6 des Zollkodex der Zollbefreiung aufgrund ihrer Wiedereinfuhr in das Gebiet der Union nach Art. 203 des Zollkodex nicht entgegen.
35 Diese Auslegung wird durch den 38. Erwägungsgrund des Zollkodex bestätigt, der lautet: „Es ist angebracht, dem guten Glauben des Beteiligten in den Fällen, in denen eine Zollschuld auf einer Nichteinhaltung zollrechtlicher Vorschriften beruht, Rechnung zu tragen und die Folgen fahrlässigen Verhaltens des Zollschuldners auf ein Mindestmaß abzumildern.“
36 Da der fahrlässige Verstoß eines gutgläubigen Wirtschaftsteilnehmers gegen formale Verpflichtungen wie die Gestellung der Waren und die Anmeldung zur Überführung in den zollrechtlich freien Verkehr einer Zollbefreiung nicht im Weg steht, steht er im Hinblick auf den klaren Wortlaut von Art. 143 Abs. 1 Buchst. e der Mehrwertsteuerrichtlinie der Anwendung der Mehrwertsteuerbefreiung nach dieser Bestimmung ebenfalls nicht entgegen.
37 Konkret steht demnach der Umstand, dass sich ein Steuerpflichtiger wie AA über formale Verpflichtungen wie die Gestellung und Anmeldung von Pferden zur Überführung in den zollrechtlich freien Verkehr bei deren Wiedereinfuhr in das Gebiet der Union hinweggesetzt hat, der Anwendung der Mehrwertsteuerbefreiung nach Art. 143 Abs. 1 Buchst. e der Mehrwertsteuerrichtlinie für diesen Vorgang nicht entgegen, außer wenn erwiesen ist, dass ein Täuschungsversuch vorliegt.
38 Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass AA keinen Täuschungsversuch unternommen hat. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, sich hierüber Gewissheit zu verschaffen und damit zu klären, ob die Nichterfüllung solcher formalen Verpflichtungen durch AA – wenn man sie als erwiesen unterstellt – auf bloßer Fahrlässigkeit ihrerseits beruht, die ihren guten Glauben nicht in Frage stellt.
39 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 143 Abs. 1 Buchst. e der Mehrwertsteuerrichtlinie sowie Art. 86 Abs. 6 und Art. 203 des Zollkodex so auszulegen sind, dass, sofern es sich dabei um keinen Täuschungsversuch handelt, die Nichterfüllung formaler Verpflichtungen – wie der Gestellung der Waren gemäß Art. 139 Abs. 1 Buchst. a des Zollkodex und der Anmeldung zur Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr gemäß Art. 203 des Zollkodex – der Befreiung von der Mehrwertsteuer nach Art. 143 Abs. 1 Buchst. e der Mehrwertsteuerrichtlinie für die Wiedereinfuhr von Gegenständen in das Gebiet der Union in dem Zustand, in dem sie ausgeführt wurden, nicht entgegensteht.
Kosten
40 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.