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Steuerrecht
16.02.2017
Steuerrecht
EuGH: Voraussetzungen der Umsatzsteuerbefreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung

EuGH, Urteil vom 9.2.2017 – C-21/16, Euro Tyr

ECLI:EU:C:2017:106

Volltext: BB-Online BBL2017-405-1

unter www.betriebs-berater.de

Tenor

Art. 131 und Art. 138 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem sind dahin auszulegen, dass sie die Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats daran hindern, die Mehrwertsteuerbefreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung nur aus dem Grund zu versagen, dass der im Bestimmungsmitgliedstaat ansässige Erwerber, der eine für die Umsätze in diesem Staat gültige Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer besitzt, zum Zeitpunkt der Lieferung weder im Mehrwertsteuer-Informationsaustauschsystem registriert noch von einem Besteuerungssystem für den innergemeinschaftlichen Erwerb erfasst ist, obwohl keine ernsthaften Anhaltspunkte für eine Steuerhinterziehung bestehen und feststeht, dass die materiellen Voraussetzungen der Befreiung erfüllt sind. In diesem Fall steht Art. 138 Abs. 1 dieser Richtlinie bei einer Auslegung im Licht des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes einer solchen Versagung ebenfalls entgegen, wenn der Verkäufer von der mehrwertsteuerlichen Situation des Erwerbers Kenntnis hatte und davon überzeugt war, dass dieser zu einem späteren Zeitpunkt rückwirkend als innergemeinschaftlicher Marktteilnehmer registriert werden würde.

Urteil

1          Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 131 und Art. 138 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) sowie des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.

2          Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Euro Tyre BV – Sucursal em Portugal (im Folgenden: Euro Tyre) und der Autoridade Tributária e Aduaneira (Steuer- und Zollbehörde, Portugal) über die von dieser Behörde versagte Mehrwertsteuerbefreiung mehrerer Umsätze, die von Euro Tyre als innergemeinschaftliche Lieferungen von Gegenständen eingestuft wurden.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Mehrwertsteuerrichtlinie

3          Nach Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie gilt als „Steuerpflichtiger“, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbständig ausübt. Als „wirtschaftliche Tätigkeit“ gelten nach der Definition in dieser Vorschrift alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Wie die Vorschrift präzisiert, gilt als wirtschaftliche Tätigkeit insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.

4          Art. 131 der Richtlinie lautet:

„Die Steuerbefreiungen der Kapitel 2 bis 9 werden unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften und unter den Bedingungen angewandt, die die Mitgliedstaaten zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung dieser Befreiungen und zur Verhinderung von Steuerhinterziehung, Steuerumgehung oder Missbrauch festlegen.“

5          Art. 138 Abs. 1 der Richtlinie sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten befreien die Lieferungen von Gegenständen, die durch den Verkäufer, den Erwerber oder für ihre Rechnung nach Orten außerhalb ihres jeweiligen Gebiets, aber innerhalb der Gemeinschaft versandt oder befördert werden[,] von der Steuer, wenn diese Lieferung an einen anderen Steuerpflichtigen oder an eine nichtsteuerpflichtige juristische Person bewirkt wird, der/die als solche/r in einem anderen Mitgliedstaat als dem des Beginns der Versendung oder Beförderung der Gegenstände handelt.“

6          Art. 213 Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:

„Jeder Steuerpflichtige hat die Aufnahme, den Wechsel und die Beendigung seiner Tätigkeit als Steuerpflichtiger anzuzeigen.

Die Mitgliedstaaten legen fest, unter welchen Bedingungen der Steuerpflichtige die Anzeigen elektronisch abgeben darf, und können die elektronische Abgabe der Anzeigen auch vorschreiben.“

7          In Art. 214 Abs. 1 der Richtlinie heißt es:

„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit folgende Personen jeweils eine individuelle Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer erhalten:

a) jeder Steuerpflichtige, der in ihrem jeweiligen Gebiet Lieferungen von Gegenständen bewirkt oder Dienstleistungen erbringt, für die ein Recht auf Vorsteuerabzug besteht und bei denen es sich nicht um Lieferungen von Gegenständen oder um Dienstleistungen handelt, für die die Mehrwertsteuer gemäß den Artikeln 194 bis 197 sowie 199 ausschließlich vom Dienstleistungsempfänger beziehungsweise der Person, für die die Gegenstände oder Dienstleistungen bestimmt sind, geschuldet wird; hiervon ausgenommen sind die in Artikel 9 Absatz 2 genannten Steuerpflichtigen;

b) jeder Steuerpflichtige und jede nichtsteuerpflichtige juristische Person, der bzw. die gemäß Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe b der Mehrwertsteuer unterliegende innergemeinschaftliche Erwerbe von Gegenständen bewirkt oder von der Möglichkeit des Artikels 3 Absatz 3, seine bzw. ihre innergemeinschaftlichen Erwerbe der Mehrwertsteuer zu unterwerfen, Gebrauch gemacht hat;

…“

Verordnungen (EG) Nr. 1798/2003 und (EU) Nr. 904/2010

8          Art. 27 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1798/2003 des Rates vom 7. Oktober 2003 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 218/92 (ABl. 2003, L 264, S. 1) lautete:

„Jeder Mitgliedstaat unterhält eine elektronische Datenbank, in der ein Verzeichnis der Personen gespeichert wird, die von diesem Mitgliedstaat eine Umsatzsteuer-Identifikationsnummer erhalten haben.“

9          Die Verordnung Nr. 1798/2003 wurde mit Wirkung vom 1. Januar 2012 durch die Verordnung (EU) Nr. 904/2010 des Rates vom 7. Oktober 2010 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden und die Betrugsbekämpfung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer (ABl. 2010, L 268, S. 1) aufgehoben.

10        Art. 17 Abs. 1 der letztgenannten Verordnung sieht vor:

„Jeder Mitgliedstaat speichert in einem elektronischen System folgende Informationen:

a) Informationen, die er gemäß Titel XI Kapitel 6 der [Mehrwertsteuerrichtlinie] erhebt;

b) Angaben zur Identität, Tätigkeit, Rechtsform und Anschrift der Personen, denen eine Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer zugeteilt wurde, und die in Anwendung des Artikels 213 der [Mehrwertsteuerrichtlinie] erhoben werden, sowie der Zeitpunkt, zu dem die Nummer zugeteilt wurde;

…“

Portugiesisches Recht

11        Mit dem Regime do IVA nas Transações Intracomunitárias (Mehrwertsteuerregelung für innergemeinschaftliche Umsätze, im Folgenden: RITI) werden die in der Mehrwertsteuerrichtlinie enthaltenen Bestimmungen über innergemeinschaftliche Umsätze in das portugiesische Recht umgesetzt.

12        Nach Art. 14 Buchst. a des RITI sind von der Mehrwertsteuer befreit:

„Lieferungen von Gegenständen durch einen Steuerpflichtigen im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. a, die durch den Verkäufer, den Erwerber oder für deren Rechnung aus dem Inland in einen anderen Mitgliedstaat zur Auslieferung an einen Erwerber versandt oder befördert werden, der eine in dem anderen Mitgliedstaat für die Zwecke der Mehrwertsteuer registrierte natürliche oder juristische Person ist, die die entsprechende Identifikationsnummer für die Durchführung des Erwerbs benutzt hat und dort von einem Besteuerungssystem für den innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen erfasst wird“.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

13        Euro Tyre ist eine portugiesische Zweigniederlassung einer Gesellschaft niederländischen Rechts, der Euro Tyre BV. Sie ist im Import und Export von Reifen verschiedener Marken sowie im Vertrieb derselben an Einzelhändler in Portugal und Spanien tätig. Auf dem spanischen Markt tätigt sie ihre Verkäufe teilweise selbst, teilweise über einen Vertriebspartner, die Euro Tyre Distribución de Neumáticos SL.

14        Der Ausgangsrechtsstreit betrifft mehrere Verkäufe an Euro Tyre Distribución de Neumáticos, die im Zeitraum von 2010 bis 2012 getätigt wurden. Zum Zeitpunkt dieser Verkäufe war die letztgenannte Gesellschaft in Spanien als Mehrwertsteuerpflichtige registriert, unterlag dort aber noch nicht dem Besteuerungssystem für den innergemeinschaftlichen Erwerb und war auch noch nicht im Mehrwertsteuer-Informationsaustauschsystem (im Folgenden: MIAS) erfasst. Erst am 19. März 2013 erkannte die spanische Steuerverwaltung sie als innergemeinschaftliche Marktteilnehmerin an und registrierte sie mit Wirkung vom 1. Juli 2012 im MIAS.

15        Euro Tyre deklarierte die genannten Verkäufe als steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferungen gemäß Art. 14 Buchst. a des RITI.

16        Im Zuge einer Steuerprüfung betreffend die Jahre 2010 bis 2012 stellte die Inspeção Tributária (Steuerinspektion, Portugal) allerdings fest, dass die Voraussetzungen der Steuerbefreiung gemäß Art. 14 Buchst. a des RITI nicht erfüllt seien, da Euro Tyre Distribución de Neumáticos zum Zeitpunkt der fraglichen Verkäufe weder in Spanien für innergemeinschaftliche Umsätze registriert noch im MIAS erfasst gewesen sei.

17        Dementsprechend berichtigte die Steuer- und Zollbehörde die von Euro Tyre für die Jahre 2010 bis 2012 geschuldete Mehrwertsteuer und erhöhte sie um Verzugszinsen.

18        Euro Tyre focht diese Berichtigungen an. Nach der Zurückweisung ihres Einspruchs und ihres weiteren Einspruchs bei der übergeordneten Stelle rief sie das vorlegende Gericht an. Vor diesem macht sie geltend, die in Art. 14 Buchst. a des RITI geregelte Voraussetzung, dass der Erwerber von einem Besteuerungssystem für den innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen erfasst und im MIAS registriert sein müsse, beruhe auf einer fehlerhaften Umsetzung der Mehrwertsteuerrichtlinie. Eine solche Voraussetzung sei nämlich in Art. 138 dieser Richtlinie nicht vorgesehen und stelle allenfalls eine formelle Anforderung dar, die nur von der Portugiesischen Republik gestellt werde.

19        Das vorlegende Gericht hat Zweifel, ob die in Art. 138 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehene Steuerbefreiung innergemeinschaftlicher Lieferungen an die Bedingung geknüpft werden kann, dass der Erwerber, der in einem anderen Mitgliedstaat als dem des Beginns der Versendung oder Beförderung ansässig ist, in diesem anderen Staat für innergemeinschaftliche Umsätze registriert und im MIAS erfasst ist.

20        In dieser Hinsicht weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass Euro Tyre Distribución de Neumáticos seit Juni 2010 in Spanien für inländische Umsätze mehrwertsteuerlich erfasst gewesen sei, und zwar unter einer Identifikationsnummer, die auf allen Rechnungen für die in Rede stehenden Verkäufe sowie in allen damit zusammenhängenden zusammenfassenden Meldungen angegeben worden sei. Dagegen sei diese mehrwertsteuerpflichtige Gesellschaft zum Zeitpunkt der Verkäufe von keinem Besteuerungssystem für den innergemeinschaftlichen Erwerb erfasst und nicht im MIAS registriert gewesen. Euro Tyre habe hiervon Kenntnis gehabt, aber damit gerechnet, dass die spanische Steuerverwaltung Euro Tyre Distribución de Neumáticos rückwirkend den Status einer innergemeinschaftlichen Marktteilnehmerin zuerkennen werde. Zudem sei die portugiesische Steuerverwaltung zu der Auffassung gelangt, dass Euro Tyre im vorliegenden Fall weder eine Steuerhinterziehung noch eine Steuerumgehung begangen habe.

21        Vor diesem Hintergrund hat das Tribunal Arbitral Tributário (Centro de Arbitragem Administrativa) (Schiedsgericht für Steuerangelegenheiten [Zentralstelle für das Verwaltungsschiedsverfahren], Portugal) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Sind Art. 131 und Art. 138 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen, dass sie die Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats daran hindern, einem in diesem Mitgliedstaat ansässigen Veräußerer bei einer innergemeinschaftlichen Lieferung die Gewährung einer Mehrwertsteuerbefreiung aus dem Grund zu verweigern, dass der in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Erwerber nicht im MIAS registriert ist und in diesem anderen Mitgliedstaat auch nicht von einem Besteuerungssystem für den innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen erfasst wird, obwohl er zum Zeitpunkt des Umsatzes über eine gültige Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer in diesem anderen Mitgliedstaat verfügte, die in den Rechnungen für die Umsätze verwendet wurde, wenn die materiellen Voraussetzungen für eine innergemeinschaftliche Lieferung kumulativ vorliegen, d. h., wenn das Recht, über den Gegenstand wie ein Eigentümer zu verfügen, an den Erwerber übertragen wurde und der Lieferer beweist, dass dieser Gegenstand in einen anderen Mitgliedstaat versandt oder befördert wurde und dass er infolge dieser Versendung oder Beförderung das Gebiet des Mitgliedstaats der Lieferung physisch verlassen hat und an einen Erwerber ausgeliefert wurde, der ein Steuerpflichtiger oder eine juristische Person ist und als solche/r in einem anderen Mitgliedstaat als dem des Abgangs der Gegenstände handelt?

2. Steht der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz einer Auslegung von Art. 138 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin entgegen, dass die Befreiung zu verweigern ist, wenn ein in einem Mitgliedstaat ansässiger Veräußerer wusste, dass der in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Erwerber dort zwar eine gültige Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer hatte, jedoch nicht im MIAS registriert war und in diesem anderen Mitgliedstaat auch von keinem Besteuerungssystem für den innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen erfasst war, aber erwartete, dass ihm die Registrierung als innergemeinschaftlicher Marktteilnehmer rückwirkend gewährt werden würde?

Zu den Vorlagefragen

22        Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 131 und Art. 138 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass sie die Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats daran hindern, die Mehrwertsteuerbefreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung aus dem Grund zu versagen, dass der im Bestimmungsmitgliedstaat ansässige Erwerber, der eine für die Umsätze in diesem Staat gültige Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer besitzt, zum Zeitpunkt der Lieferung weder im MIAS registriert noch von einem Besteuerungssystem für den innergemeinschaftlichen Erwerb erfasst ist. Das Gericht hat außerdem Zweifel, ob Art. 138 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie bei einer Auslegung im Licht des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes einer solchen Versagung entgegensteht, wenn der Verkäufer von der mehrwertsteuerlichen Situation des Erwerbers Kenntnis hatte und davon überzeugt war, dass dieser zu einem späteren Zeitpunkt rückwirkend als innergemeinschaftlicher Marktteilnehmer registriert werden würde.

23        Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Art. 138 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie die Mitgliedstaaten verpflichtet, die Lieferungen von Gegenständen, die die in dieser Vorschrift aufgezählten Voraussetzungen erfüllen, von der Steuer zu befreien (Urteil vom 9. Oktober 2014, Traum, C492/13, EU:C:2014:2267, Rn. 46).

24        Nach dieser Bestimmung befreien die Mitgliedstaaten die Lieferungen von Gegenständen, die durch den Verkäufer, den Erwerber oder für ihre Rechnung nach Orten außerhalb ihres jeweiligen Gebiets, aber innerhalb der Europäischen Union versandt oder befördert werden, von der Steuer, wenn diese Lieferung an einen anderen Steuerpflichtigen oder an eine nichtsteuerpflichtige juristische Person bewirkt wird, der/die als solche/r in einem anderen Mitgliedstaat als dem des Beginns der Versendung oder Beförderung der Gegenstände handelt.

25        Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist die Befreiung der innergemeinschaftlichen Lieferung eines Gegenstands erst dann anwendbar, wenn das Recht, wie ein Eigentümer über den Gegenstand zu verfügen, auf den Erwerber übertragen worden ist, wenn der Verkäufer nachweist, dass der Gegenstand in einen anderen Mitgliedstaat versandt oder befördert worden ist, und wenn der Gegenstand aufgrund dieses Versands oder dieser Beförderung den Liefermitgliedstaat physisch verlassen hat (Urteil vom 6. September 2012, Mecsek-Gabona, C273/11, EU:C:2012:547, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26        Im vorliegenden Fall geht aus den Angaben in der Vorlageentscheidung hervor, dass die vorgelegten Fragen auf der Prämisse beruhen, dass die in den Rn. 24 und 25 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen materiellen Voraussetzungen einer innergemeinschaftlichen Lieferung im Sinne von Art. 138 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie erfüllt waren. Die Befreiung von der Mehrwertsteuer wurde nur deshalb versagt, weil der Erwerber zum Zeitpunkt der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verkäufe weder in Spanien für innergemeinschaftliche Umsätze registriert noch im MIAS erfasst war. Der Erwerber verfügte in diesem Mitgliedstaat nur über eine Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer, die für Umsätze in diesem Staat gültig war, nicht aber für innergemeinschaftliche Umsätze.

27        Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass zwar im Rahmen der Übergangsregelung für die Besteuerung des Handelsverkehrs innerhalb der Union die Identifizierung der Mehrwertsteuerpflichtigen durch individuelle Nummern die Bestimmung des Mitgliedstaats erleichtern soll, in dem der Endverbrauch der gelieferten Gegenstände erfolgt (Urteile vom 6. September 2012, Mecsek-Gabona, C273/11, EU:C:2012:547, Rn. 57, und vom 14. März 2013, Ablessio, C527/11, EU:C:2013:168, Rn. 19). Art. 214 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie verpflichtet nämlich die Mitgliedstaaten, alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit u. a. jeder Steuerpflichtige und jede nichtsteuerpflichtige juristische Person, der bzw. die innergemeinschaftliche Erwerbe bewirkt, eine individuelle Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer erhält.

28        Auch die Registrierung der Steuerpflichtigen, die innergemeinschaftliche Umsätze tätigen, im MIAS ist in diesem Zusammenhang von erheblicher Bedeutung. Dieses System soll es den Wirtschaftsbeteiligten ermöglichen, die Bestätigung der Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer ihrer Geschäftspartner zu erlangen, und den nationalen Steuerbehörden, die innergemeinschaftlichen Umsätze zu kontrollieren und eventuelle Unregelmäßigkeiten aufzuspüren. Das System entspricht somit der Anforderung nach Art. 27 der Verordnung Nr. 1798/2003 bzw., seit dem 1. Januar 2012, Art. 17 der Verordnung Nr. 904/2010, dass die Mitgliedstaaten eine elektronische Datenbank unterhalten, in der ein Verzeichnis der Personen gespeichert wird, denen sie eine Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer erteilt haben.

29        Jedoch wird weder in Art. 138 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie noch in der Rechtsprechung des Gerichtshofs unter den abschließend aufgezählten materiellen Voraussetzungen einer innergemeinschaftlichen Lieferung die Verpflichtung des Erwerbers erwähnt, über eine Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer zu verfügen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2012, Mecsek-Gabona, C273/11, EU:C:2012:547, Rn. 59), und erst recht nicht dessen Verpflichtung, für innergemeinschaftliche Umsätze registriert und im MIAS erfasst zu sein.

30        Entgegen dem, was die portugiesische und die polnische Regierung vor dem Gerichtshof im Wesentlichen geltend gemacht haben, lassen sich solche Verpflichtungen auch nicht aus der Bedingung ableiten, dass der Erwerber ein Steuerpflichtiger sein muss, der als solcher in einem anderen Mitgliedstaat als dem des Beginns der Versendung oder Beförderung der Gegenstände handelt (vgl. entsprechend Urteil vom 27. September 2012, VSTR, C587/10, EU:C:2012:592, Rn. 40).

31        Nach der Definition in Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie gilt als Steuerpflichtiger nämlich bereits, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbständig ausübt, ohne dass dies davon abhinge, dass der Betreffende eine Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer besitzt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. September 2012, VSTR, C587/10, EU:C:2012:592, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung), die gegebenenfalls speziell für innergemeinschaftliche Umsätze gilt, oder dass er im MIAS erfasst ist. Darüber hinaus ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass ein Steuerpflichtiger in dieser Eigenschaft handelt, wenn er Umsätze im Rahmen seiner steuerbaren Tätigkeit tätigt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. September 2012, VSTR, C587/10, EU:C:2012:592, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32        Zu den materiellen Voraussetzungen der Mehrwertsteuerbefreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung gehört also weder, dass der Erwerber eine Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer für innergemeinschaftliche Umsätze erhalten hat, noch, dass er im MIAS erfasst ist. Es handelt sich dabei nur um formelle Erfordernisse, die den Anspruch des Verkäufers auf Mehrwertsteuerbefreiung nicht in Frage stellen können, sofern die materiellen Voraussetzungen einer innergemeinschaftlichen Lieferung erfüllt sind (vgl. entsprechend Urteile vom 6. September 2012, Mecsek-Gabona, C273/11, EU:C:2012:547, Rn. 60, vom 27. September 2012, VSTR, C587/10, EU:C:2012:592, Rn. 51, und vom 20. Oktober 2016, Plöckl, C24/15, EU:C:2016:791, Rn. 40).

33        Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass in Ermangelung einer konkreten Bestimmung in der Mehrwertsteuerrichtlinie, welche Beweise Steuerpflichtige vorlegen müssen, um in den Genuss der Mehrwertsteuerbefreiung zu gelangen, die Mitgliedstaaten dafür zuständig sind, gemäß Art. 131 dieser Richtlinie die Bedingungen festzulegen, unter denen sie innergemeinschaftliche Lieferungen befreien, um eine korrekte und einfache Anwendung der Befreiungen zu gewährleisten und um Steuerhinterziehung, Steuerumgehung und Missbrauch zu verhindern. Die Mitgliedstaaten müssen jedoch bei der Ausübung ihrer Befugnisse die allgemeinen Rechtsgrundsätze beachten, die Bestandteil der Rechtsordnung der Union sind (vgl. Urteile vom 6. September 2012, Mecsek-Gabona, C273/11, EU:C:2012:547, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 9. Oktober 2014, Traum, C492/13, EU:C:2014:2267, Rn. 27).

34        Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs geht eine nationale Maßnahme dann über das hinaus, was erforderlich ist, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen, wenn sie das Recht auf Mehrwertsteuerbefreiung im Wesentlichen von der Einhaltung formeller Pflichten abhängig macht, ohne die materiellen Anforderungen zu berücksichtigen und insbesondere ohne in Betracht zu ziehen, ob diese erfüllt sind. Die Umsätze sind nämlich unter Berücksichtigung ihrer objektiven Merkmale zu besteuern (Urteil vom 20. Oktober 2016, Plöckl, C24/15, EU:C:2016:791, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35        Hinsichtlich der objektiven Merkmale einer innergemeinschaftlichen Lieferung geht aus den Rn. 23 bis 25 des vorliegenden Urteils hervor, dass eine Lieferung von Gegenständen von der Mehrwertsteuer befreit ist, wenn sie die Voraussetzungen von Art. 138 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie erfüllt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Oktober 2016, Plöckl, C24/15, EU:C:2016:791, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36        Demnach erfordert der Grundsatz der steuerlichen Neutralität, dass die Mehrwertsteuerbefreiung gewährt wird, wenn diese materiellen Voraussetzungen erfüllt sind, selbst wenn der Steuerpflichtige bestimmten formellen Anforderungen nicht genügt hat (Urteil vom 20. Oktober 2016, Plöckl, C24/15, EU:C:2016:791, Rn. 39).

37        Folglich darf die Verwaltung eines Mitgliedstaats die Mehrwertsteuerbefreiung grundsätzlich nicht allein deshalb versagen, weil der Erwerber weder im MIAS registriert noch von einem Besteuerungssystem für den innergemeinschaftlichen Erwerb erfasst ist.

38        Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs gibt es nur zwei Fälle, in denen die Nichteinhaltung einer formellen Anforderung den Verlust des Rechts auf Mehrwertsteuerbefreiung nach sich ziehen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Oktober 2016, Plöckl, C24/15, EU:C:2016:791, Rn. 43).

39        Zum einen kann sich ein Steuerpflichtiger, der sich vorsätzlich an einer Steuerhinterziehung beteiligt hat, die das Funktionieren des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems gefährdet, für die Zwecke der Mehrwertsteuerbefreiung nicht auf den Grundsatz der Steuerneutralität berufen (vgl. Urteil vom 20. Oktober 2016, Plöckl, C24/15, EU:C:2016:791, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40        Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs verstößt es nicht gegen das Unionsrecht, von einem Wirtschaftsteilnehmer zu fordern, dass er in gutem Glauben handelt und alle Maßnahmen ergreift, die vernünftigerweise verlangt werden können, um sicherzustellen, dass der von ihm getätigte Umsatz nicht zu seiner Beteiligung an einer Steuerhinterziehung führt (Urteil vom 6. September 2012, Mecsek-Gabona, C273/11, EU:C:2012:547, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung). Sollte der betreffende Steuerpflichtige gewusst haben oder hätte er wissen müssen, dass der von ihm bewirkte Umsatz mit einer Steuerhinterziehung des Erwerbers verknüpft war, und hat er nicht alle ihm zur Verfügung stehenden zumutbaren Maßnahmen ergriffen, um diese zu verhindern, müsste ihm der Anspruch auf Mehrwertsteuerbefreiung versagt werden (Urteil vom 6. September 2012, Mecsek-Gabona, C273/11, EU:C:2012:547, Rn. 54).

41        Im vorliegenden Fall erlaubt es allein der von dem vorlegenden Gericht dargelegte Umstand, dass der Verkäufer zum einen wusste, dass der Erwerber zum Zeitpunkt der Umsätze weder im MIAS registriert noch von einem Besteuerungssystem für den innergemeinschaftlichen Erwerb erfasst war, und zum anderen davon überzeugt war, dass der Erwerber zu einem späteren Zeitpunkt rückwirkend als innergemeinschaftlicher Marktteilnehmer registriert werden würde, der nationalen Steuerbehörde nicht, die Mehrwertsteuerbefreiung zu versagen. Aus den in Rn. 20 des vorliegenden Urteils erwähnten Angaben in den von dem vorlegenden Gericht übermittelten Akten geht nämlich hervor, dass Euro Tyre in diesem Fall weder eine Steuerhinterziehung noch eine Steuerumgehung begangen hat.

42        Zum anderen kann der Verstoß gegen eine formelle Anforderung zur Versagung der Mehrwertsteuerbefreiung führen, wenn er den sicheren Nachweis verhindert, dass die materiellen Anforderungen erfüllt wurden (vgl. Urteil vom 20. Oktober 2016, Plöckl, C24/15, EU:C:2016:791, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43        Im vorliegenden Fall beruhen die vorgelegten Fragen, wie im Wesentlichen aus Rn. 26 des vorliegenden Urteils hervorgeht, auf der Prämisse, dass die materiellen Voraussetzungen einer innergemeinschaftlichen Lieferung im Sinne von Art. 138 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie erfüllt waren. Überdies lässt in den Akten, die dem Gerichtshof übermittelt wurden, nichts darauf schließen, dass der Verstoß gegen die im Ausgangsverfahren in Rede stehende formelle Anforderung die Feststellung der Erfüllung der materiellen Voraussetzungen verhindert hat. Es ist allerdings Sache des vorlegenden Gerichts, die insoweit notwendigen Prüfungen vorzunehmen.

44        Nach alledem ist auf die vorgelegten Fragen zu antworten, dass Art. 131 und Art. 138 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass sie die Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats daran hindern, die Mehrwertsteuerbefreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung nur aus dem Grund zu versagen, dass der im Bestimmungsmitgliedstaat ansässige Erwerber, der eine für die Umsätze in diesem Staat gültige Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer besitzt, zum Zeitpunkt der Lieferung weder im MIAS registriert noch von einem Besteuerungssystem für den innergemeinschaftlichen Erwerb erfasst ist, obwohl keine ernsthaften Anhaltspunkte für eine Steuerhinterziehung bestehen und feststeht, dass die materiellen Voraussetzungen der Befreiung erfüllt sind. In diesem Fall steht Art. 138 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie bei einer Auslegung im Licht des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes einer solchen Versagung ebenfalls entgegen, wenn der Verkäufer von der mehrwertsteuerlichen Situation des Erwerbers Kenntnis hatte und davon überzeugt war, dass dieser zu einem späteren Zeitpunkt rückwirkend als innergemeinschaftlicher Marktteilnehmer registriert werden würde.

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