EuGH: Verspätete Verbuchung und verspäteter Ausweis der Annullierung einer Rechnung
EuGH, Urteil vom 20.6.2013 - C-259/12, Teritorialna direktsia na Natsionalnata agentsia za prihodite - Plovdiv gegen Rodopi-M 91 OOD
Tenor
Es läuft nicht dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität zuwider, dass die Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats gegen einen Steuerpflichtigen, der seine Verpflichtung, Umstände, die für die Berechnung der von ihm geschuldeten Mehrwertsteuer von Bedeutung sind, zu verbuchen und auszuweisen, nicht innerhalb der in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehenen Frist erfüllt hat, eine Verwaltungsgeldstrafe verhängt, die dem Betrag der nicht rechtzeitig entrichteten Mehrwertsteuer entspricht, wenn dieser Steuerpflichtige das Versäumnis in der Folge behoben und die geschuldete Steuer in voller Höhe zuzüglich Zinsen entrichtet hat. Es ist Sache des nationalen Gerichts, unter Berücksichtigung der Art. 242 und 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem zu prüfen, ob angesichts der Umstände des Ausgangsverfahrens, insbesondere angesichts der Zeitspanne, in der die Unregelmäßigkeit berichtigt wurde, der Schwere dieser Unregelmäßigkeit und einer etwaig vorliegenden Steuerhinterziehung oder Umgehung der geltenden Gesetze, die dem Steuerpflichtigen anzulasten wäre, die Höhe der verhängten Verwaltungsstrafe nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung der Ziele erforderlich ist, die in der Sicherstellung der genauen Erhebung der Steuer und in der Vermeidung von Steuerhinterziehung bestehen.
Aus den Gründen
1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
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Dieses Ersuchen ergeht in einem Rechtsstreit zwischen der Teritorialna direktsia na Natsionalnata agentsia za prihodite - Plovdiv (Gebietsdirektion der Nationalen Agentur für Einnahmen für die Stadt Plovdiv - im Folgenden: Teritorialna direktsia) und der Rodopi-M 91 OOD (im Folgenden: Rodopi) über eine gegen Rodopi verhängte Geldstrafe wegen verspäteter Verbuchung und verspäteten Ausweises der Annullierung einer Rechnung.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3
Art. 184 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„Der ursprüngliche Vorsteuerabzug wird berichtigt, wenn der Vorsteuerabzug höher oder niedriger ist als der, zu dessen Vornahme der Steuerpflichtige berechtigt war."
4
Art. 186 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten legen die Einzelheiten für die Anwendung der Artikel 184 und 185 fest."
5
Art. 242 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„Jeder Steuerpflichtige hat Aufzeichnungen zu führen, die so ausführlich sind, dass sie die Anwendung der Mehrwertsteuer und die Überprüfung durch die Steuerverwaltung ermöglichen."
6
Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.
Die Möglichkeit nach Absatz 1 darf nicht dazu genutzt werden, zusätzlich zu den in Kapitel 3 genannten Pflichten weitere Pflichten in Bezug auf die Rechnungsstellung festzulegen."
Bulgarisches Recht
7
Art. 72 Abs. 1 des Zakon za danak varhu dobavenata stoynost (Mehrwertsteuergesetz, im Folgenden: ZDDS) bestimmt:
„Eine nach diesem Gesetz registrierte Person kann ihr Recht auf Vorsteuerabzug in dem Steuerzeitraum ausüben, in dem dieses Recht entstanden ist, oder in einem der zwölf nachfolgenden Steuerzeiträume."
8
Art. 78 ZDDS lautet:
„(1) Die registrierte Person ist verpflichtet, den Umfang des in Anspruch genommenen Vorsteuerabzugs bei einer Änderung der Besteuerungsgrundlage, einer Rückgängigmachung eines Umsatzes und einer Änderung der Art des Umsatzes zu berichtigen.
(2) Die Berichtigung erfolgt in dem Steuerzeitraum, in dem die Umstände nach Abs. 1 eingetreten sind, indem der Beleg nach Art. 115 oder ein neuer Beleg nach Art. 116, mit dem die Berichtigung erfolgt, in das Kreditorenbuch und in die Steuererklärung für den entsprechenden Steuerzeitraum eingetragen wird."
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Art. 112 Abs. 1 ZDDS bestimmt:
„Steuerbeleg im Sinne dieses Gesetzes ist
1. eine Rechnung;
2. eine Anzeige zur Rechnung;
3. das Protokoll."
Art. 115 ZDDS lautet:
„(1) Im Fall einer Änderung der Steuerbemessungsgrundlage eines Umsatzes und im Fall der Rückgängigmachung eines Umsatzes, für den eine Rechnung ausgestellt wurde, ist der Lieferer oder Dienstleistende verpflichtet, eine Anzeige zur Rechnung zu erstellen.
(2) Die Anzeige ist zwingend binnen fünf Tagen nach Eintritt des entsprechenden Umstands nach Abs. 1 zu erstellen.
(3) Bei einer Erhöhung der Steuerbemessungsgrundlage ist eine Belastungsanzeige zu erstellen, bei einer Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage oder einer Rückgängigmachung von Umsätzen eine Gutschrift zu erteilen.
..."
Art. 116 Abs. 1 ZDDS bestimmt:
„Berichtigungen und Zusätze in Rechnungen und Anzeigen zu diesen sind nicht zulässig. Unrichtig ausgestellte oder berichtigte Belege sind zu annullieren, und es sind neue Belege auszustellen."
Art. 124 Abs. 4 ZDDS sieht vor:
„Die registrierte Person ist verpflichtet, die von ihr empfangenen Steuerbelege im Kreditorenbuch spätestens bis zum zwölften Steuerzeitraum auszuweisen, der auf den Steuerzeitraum folgt, in dem sie ausgestellt wurden, nicht aber später als im letzten Steuerzeitraum nach Art. 72 Abs. 1 ZDDS."
Art. 182 ZDDS lautet:
„(1) Gegen eine registrierte Person, die es unterlässt, einen Steuerbeleg auszustellen, oder die den ausgestellten oder empfangenen Steuerbeleg nicht in den Rechnungsregistern für den entsprechenden Steuerzeitraum ausweist, was zu einer Steuerfestsetzung in niedrigerer Höhe führt, ist eine Geldbuße (bei natürlichen Personen ohne Kaufmanneigenschaft) oder eine Verwaltungsgeldstrafe (bei juristischen Personen und Einzelkaufleuten) in Höhe des Betrags zu verhängen, um den die Steuer niedriger festgesetzt wurde, mindestens jedoch in Höhe von 1 000 [bulgarischer Lewa (BGN)].
(2) Hat der Steuerpflichtige im Fall einer Zuwiderhandlung nach Abs. 1 den Steuerbeleg in dem Zeitraum ausgestellt oder ausgewiesen, der dem Steuerzeitraum folgt, in dem er hätte ausgestellt oder ausgewiesen werden müssen, beläuft sich die Geldbuße oder die Verwaltungsstrafe auf 25 % des nicht entrichteten Steuerbetrags, mindestens aber auf 250 BGN."
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Rodopi ist eine mehrwertsteuerpflichtige bulgarische Gesellschaft.
In dem Dezember 2009 entsprechenden Steuerzeitraum nahm Rodopi eine von der Moda Shport EOOD am 30. Dezember 2009 ausgestellte Rechnung in ihr Kreditorenbuch und in die von ihr abgegebene Steuererklärung auf. Der in dieser Rechnung ausgewiesene Mehrwertsteuerbetrag betrug 161 571,12 BGN (etwa 82 800 Euro).
Diese Rechnung hätte nicht erteilt werden dürfen. Sie wurde durch Protokoll vom 15. Oktober 2010 nach Maßgabe der nationalen Rechtsvorschriften annulliert.
Rodopi berücksichtigte dieses Protokoll weder bei ihrer Buchführung noch in ihrer Steuererklärung für Oktober 2010. Dies tat sie erst für den Zeitraum Dezember 2010, indem sie den nach der genannten Rechnung vorgenommenen Vorsteuerabzug dadurch berichtigte, dass sie den gesamten Mehrwertsteuerbetrag, den sie nach Maßgabe der annullierten Rechnung ursprünglich abgezogen hatte, zuzüglich entsprechender Zinsen entrichtete.
Am 22. Februar 2011 erging ein Bescheid über die Feststellung einer verwaltungsrechtlichen Zuwiderhandlung, in dem es im Wesentlichen hieß, dass die Zuwiderhandlung im November 2010 von der Teritorialna direktsia festgestellt worden sei. Am 17. Juni 2011 verhängte diese gegen Rodopi eine Verwaltungsstrafe in Höhe des in der fraglichen Rechnung ausgewiesenen Mehrwertsteuerbetrags.
Diese Sanktionsentscheidung wurde durch erstinstanzliche Klage vor dem Rayonen sad (Bezirksgericht) angefochten.
Vor diesem Gericht machte Rodopi geltend, Anhang Nr. 12 der Durchführungsverordnung zum ZDDS, wonach die Annullierung der fraglichen Rechnung im vorliegenden Fall im Oktober 2010 hätte eingetragen werden müssen, widerspreche Art. 124 Abs. 4 ZDDS, der vorsehe, dass der Steuerpflichtige die empfangenen Steuerbelege im Kreditorenbuch spätestens im zwölften Steuerzeitraum ausweisen müsse, der auf den Steuerzeitraum folge, in dem sie ausgestellt worden seien, jedenfalls aber nicht später als am Ende des letzten Steuerzeitraums, in dem er sein Recht auf Vorsteuerabzug ausüben könne, d. h. zwölf Monate nach dem Zeitraum, in dem dieses Recht entstanden sei.
Der Rayonen sad stellte fest, dass die Annullierung dieser Rechnung, die erst im Dezember 2010 eingetragen worden sei, von Rodopi im Oktober 2010 hätte eingetragen werden müssen. Er vertrat jedoch die Ansicht, dass die Entscheidung der Teritorialna direktsia, mit der die Strafe verhängt worden sei, gegen Sachvorschriften des Verfahrensrechts verstoße, da sie nicht die Frist eingehalten habe, die im Zakon za administrativnite narushenia i nakazania (Gesetz über verwaltungsrechtliche Zuwiderhandlungen und Sanktionen) für den die Zuwiderhandlung feststellenden Bescheid vorgesehen sei.
Die Teritorialna direktsia legte beim Administrativen sad Plovdiv Kassationsbeschwerde ein.
Vor diesem Gericht machte Rodopi geltend, dass die gegen sie verhängte Verwaltungsstrafe das Recht der Union, insbesondere die Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit, verletze.
Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts ist im vorliegenden Fall zu klären, ob die Verwaltungsstrafe, die Rodopi mit der Begründung auferlegt worden sei, sie habe die Annullierung der fraglichen Rechnung zu spät ausgewiesen, unter Berücksichtigung des Umstands, dass Rodopi die Steuer zuzüglich entsprechender Zinsen entrichtet habe, mit den Grundsätzen der Neutralität und der Verhältnismäßigkeit in Einklang stehe.
Unter diesen Umständen hat der Administrativen sad Plovdiv das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Gestattet der Grundsatz der steuerlichen Neutralität einem Mitgliedstaat, wegen nicht rechtzeitigen Ausweises der Annullierung einer Rechnung eine Verwaltungsstrafe zu verhängen, obwohl die Annullierung später buchmäßig ausgewiesen worden ist und die betreffende Person die sich aus der Annullierung ergebenden Steuern zuzüglich der entsprechenden Zinsen gezahlt hat?
Sind die folgenden Umstände im Zusammenhang mit der ersten Frage von Bedeutung:
- die Frist, innerhalb deren die Annullierung der Rechnung angeblich hätte ausgewiesen werden müssen, beträgt 14 Tage ab Ablauf des Kalendermonats, in dem die Annullierung erfolgt ist;
- tatsächlich wurde die Annullierung der Rechnung einen Monat nach Ablauf der Frist ausgewiesen, innerhalb deren sie angeblich hätte erfolgen sollen;
- die geschuldete Mehrwertsteuer zuzüglich der darauf entfallenden Zinsen ist an den Staatshaushalt abgeführt worden?
2. Gestatten die Art. 242 und 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie den Mitgliedstaaten, gegen einen Steuerpflichtigen, der angeblich nicht rechtzeitig seine Pflicht erfüllt hat, Umstände buchmäßig auszuweisen, die eine Bedeutung für die Mehrwertsteuerberechnung haben, eine Verwaltungsgeldstrafe in Höhe der nicht rechtzeitig entrichteten Mehrwertsteuer zu verhängen, wenn in der Folge das Versäumnis behoben und die geschuldete Steuer in voller Höhe zuzüglich der entsprechenden Zinsen entrichtet worden ist?
3. Hat der Umstand eine Bedeutung, dass der Staatshaushalt nicht geschädigt worden ist, da die betreffende Person in der Folge die Annullierung der Rechnung ausgewiesen und die gesamte Steuer zuzüglich der entsprechenden Zinsen entrichtet hat?
4. Verstößt die Verhängung einer Verwaltungsstrafe in Höhe des Gesamtbetrags der bereits zusammen mit den Zinsen entrichteten Steuer gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit?
Zu den Vorlagefragen
Zur Zulässigkeit
Nach Ansicht der Teritorialna direktsia ist das Vorabentscheidungsersuchen unzulässig, da es für den Ausgang des Ausgangsrechtsstreits irrelevant sei, denn nur Antworten auf Fragen, die der Klärung des Sachverhalts dienten, seien für die Entscheidung dieses Rechtsstreits von Bedeutung.
Nach ständiger Rechtsprechung kann der Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen eines nationalen Gerichts indessen nur zurückweisen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 11. September 2008, Eckelkamp u. a., C‑11/07, Slg. 2008, I‑6845, Randnr. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Das ist hier jedoch nicht der Fall. Die erbetene Auslegung der Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit sowie der Art. 242 und 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie steht nämlich in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens, dessen realer Charakter unbestreitbar erscheint. Außerdem enthält die Vorlageentscheidung ausreichende tatsächliche und rechtliche Angaben, die dem Gerichtshof eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen ermöglichen. Das Vorabentscheidungsersuchen ist daher für zulässig zu erklären.
Zur Begründetheit
Mit diesen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit sowie die Art. 242 und 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass es ihnen zuwiderläuft, dass die Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats gegen einen Steuerpflichtigen, der seine Verpflichtung, Umstände, die für die Berechnung der von ihm geschuldeten Mehrwertsteuer von Bedeutung sind, zu verbuchen und auszuweisen, nicht innerhalb der in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehenen Frist erfüllt hat, eine Verwaltungsgeldstrafe verhängt, die dem Betrag der nicht rechtzeitig entrichteten Mehrwertsteuer entspricht, wenn dieser Steuerpflichtige das Versäumnis in der Folge behoben und die geschuldete Steuer in voller Höhe zuzüglich Zinsen entrichtet hat.
Nach Art. 242 der Mehrwertsteuerrichtlinie hat jeder Steuerpflichtige Aufzeichnungen zu führen, die so ausführlich sind, dass sie die Anwendung der Mehrwertsteuer und die Überprüfung durch die Steuerverwaltung ermöglichen. Außerdem können die Mitgliedstaaten nach Art. 273 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie über die in dieser Richtlinie vorgesehenen Pflichten hinaus weitere Pflichten vorsehen, wenn sie diese für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden.
Die Mehrwertsteuerrichtlinie sieht nicht ausdrücklich ein System von Sanktionen für den Fall vor, dass die in ihr genannten Verpflichtungen der Steuerpflichtigen verletzt werden. Vielmehr können die Mitgliedstaaten nach ständiger Rechtsprechung dann, wenn eine Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Union auf dem Gebiet der Sanktionen nicht besteht, bei Nichtbeachtung der Voraussetzungen, die eine nach dem Unionsrecht geschaffene Regelung vorsieht, weiterhin die Sanktionen wählen, die ihnen sachgerecht erscheinen. Sie sind jedoch verpflichtet, bei der Ausübung dieser Befugnis das Unionsrecht und seine allgemeinen Grundsätze zu beachten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Juli 2012, Rēdlihs, C‑263/11, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).
So dürfen erstens die Sanktionen, die die Mitgliedstaaten verhängen können, um die genaue Erhebung der Mehrwertsteuer sicherzustellen und Steuerhinterziehung zu vermeiden und um insbesondere zu gewährleisten, dass die Steuerpflichtigen ihre Verpflichtungen auf dem Gebiet der Berichtigung ihrer Buchführung erfüllen, nachdem eine Rechnung annulliert wurde, auf deren Grundlage sie einen Vorsteuerabzug vorgenommen haben, nicht die Neutralität der Mehrwertsteuer in Frage stellen, die ein Grundprinzip des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems darstellt und es verbietet, dass Wirtschaftsteilnehmer, die gleichartige Umsätze tätigen, bei der Erhebung der Mehrwertsteuer unterschiedlich behandelt werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 29. Juli 2010, Profaktor Kulesza, Frankowski, Jóźwiak, Orłowski, C‑188/09, Slg. 2010, I‑7639, Randnr. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 29. März 2012, Belvedere Costruzioni, C‑500/10, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 22).
Hierzu ist daran zu erinnern, dass die Regelung über die Berichtigung der Abzüge ein wesentlicher Bestandteil des durch die Mehrwertsteuerrichtlinie eingeführten Systems ist, da mit ihr die Richtigkeit der Abzüge und damit die Neutralität der steuerlichen Belastung gewährleistet werden soll (Urteil vom 30. März 2006, Uudenkaupungin kaupunki, C‑184/04, Slg. 2006, I‑3039, Randnr. 26).
Wie im vorliegenden Fall aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten hervorgeht, hat die Sanktion, um die es im Ausgangsverfahren geht und die die Steuerpflichtigen anhält, den Betrag der geschuldeten Steuer frühestmöglich zu berichtigen, wenn ein dem Vorsteuerabzug zugrunde gelegter Umsatz annulliert worden ist, den Zweck, die genaue Erhebung der Steuer, insbesondere die Genauigkeit der Abzüge, sicherzustellen und Steuerhinterziehung zu vermeiden, ohne dass sie in irgendeiner Weise den Grundsatz des Rechts auf Vorsteuerabzug beeinträchtigt.
Außerdem befindet sich, wie die Kommission ausgeführt hat, zum einen der Steuerpflichtige, der eine Unregelmäßigkeit wie die im Ausgangsverfahren fragliche begeht, im Hinblick auf das Ziel der Gewährleistung einer genauen Erhebung der Mehrwertsteuer und der Vermeidung von Steuerhinterziehung in einer anderen Lage als der Steuerpflichtige, der seine Buchführungspflichten erfüllt hat.
Zum anderen wird die im Ausgangsrechtsstreit fragliche Verwaltungsgeldstrafe nicht wegen irgendeines Umsatzes verhängt, sondern deshalb, weil der Steuerpflichtige einen von ihm vorgenommenen Vorsteuerabzug, dessen Grundlage entfallen ist, verspätet berichtigt hat. Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei um eine Steuer handelt, die zu einer dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität zuwiderlaufenden Doppelbesteuerung führt (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteile vom 11. September 2003, Cookies World, C‑155/01, Slg. 2003, I‑8785, Randnr. 60, und vom 15. Januar 2009, K-1, C‑502/07, Slg. 2009, I‑161, Randnrn. 17 bis 19).
Aus dem Vorstehenden folgt, dass der Grundsatz der steuerlichen Neutralität es nicht verbietet, unter Umständen, wie sie in Randnr. 29 des vorliegenden Urteils angeführt worden sind, eine Geldstrafe wie die im Ausgangsverfahren fragliche zu verhängen.
Zweitens ist darauf zu verweisen, dass die in Randnr. 32 des vorliegenden Urteils genannten Sanktionen nicht über das hinausgehen dürfen, was notwendig ist, um die Ziele der Sicherstellung der genauen Erhebung der Mehrwertsteuer und der Vermeidung von Steuerhinterziehung zu erreichen. Bei der Beurteilung der Frage, ob die Sanktion mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist, sind u. a. die Art und die Schwere des Verstoßes, der mit dieser Sanktion bestraft werden soll, sowie die Methoden für die Bestimmung der Höhe dieser Sanktion zu berücksichtigen (vgl. Urteil Rēdlihs, Randnrn. 46 und 47 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
Es ist jedoch Sache des nationalen Gerichts, zu beurteilen, ob die Höhe der Sanktion nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung der in der vorstehenden Randnummer genannten Ziele erforderlich ist.
Zu den Methoden für die Bemessung der fraglichen Sanktion ist festzustellen, dass deren Höhe nach Art. 182 Abs. 1 und 2 ZDDS gestaffelt ist. Erfolgt die Berichtigung mit nur einem Monat Verspätung, beläuft sich die Geldbuße oder Verwaltungsstrafe nur auf 25 % der geschuldeten Mehrwertsteuer. Nur wenn die Verspätung über einen Monat hinausgeht, wird die Sanktion auf 100 % des geschuldeten Mehrwertsteuerbetrags erhöht. Eine solche Sanktion erscheint demnach geeignet, die Steuerpflichtigen dazu anzuhalten, die vorgenommenen Abzüge, deren Grundlage entfallen ist, zu berichtigen und damit das Ziel der Sicherstellung einer genauen Erhebung der Steuer zu erreichen.
Im Übrigen obliegt dem nationalen Gericht die Prüfung, ob der verspätete Ausweis der Annullierung der fraglichen Rechnung nicht die Merkmale einer Mehrwertsteuerhinterziehung hat. Nach ständiger Rechtsprechung ist eine betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das Unionsrecht nicht erlaubt. Ebenso kann die Anwendung des Unionsrechts nicht so weit gehen, dass Umsätze gedeckt werden, die zu dem Zweck getätigt wurden, missbräuchlich in den Genuss von im Unionsrecht vorgesehenen Vorteilen zu kommen (vgl. Urteil vom 27. September 2007, Collée, C‑146/05, Slg. 2007, I‑7861, Randnr. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Zu beachten ist jedoch, dass eine verspätete Zahlung der Mehrwertsteuer für sich genommen nicht einer Steuerhinterziehung gleichgesetzt werden kann (vgl. Urteil vom 12. Juli 2012, EMS-Bulgaria Transport, C‑284/11, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 74 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass es dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität nicht zuwiderläuft, dass die Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats gegen einen Steuerpflichtigen, der seine Verpflichtung, Umstände, die für die Berechnung der von ihm geschuldeten Mehrwertsteuer von Bedeutung sind, zu verbuchen und auszuweisen, nicht innerhalb der in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehenen Frist erfüllt hat, eine Verwaltungsgeldstrafe verhängt, die dem Betrag der nicht rechtzeitig entrichteten Mehrwertsteuer entspricht, wenn dieser Steuerpflichtige das Versäumnis in der Folge behoben und die geschuldete Steuer in voller Höhe zuzüglich Zinsen entrichtet hat. Es ist Sache des nationalen Gerichts, unter Berücksichtigung der Art. 242 und 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie zu prüfen, ob angesichts der Umstände des Ausgangsverfahrens, insbesondere angesichts der Zeitspanne, in der die Unregelmäßigkeit berichtigt wurde, der Schwere dieser Unregelmäßigkeit und einer etwaig vorliegenden Steuerhinterziehung oder Umgehung der geltenden Gesetze, die dem Steuerpflichtigen anzulasten wäre, die Höhe der verhängten Verwaltungsstrafe nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung der Ziele erforderlich ist, die in der Sicherstellung der genauen Erhebung der Steuer und in der Vermeidung von Steuerhinterziehung bestehen.
Kosten
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.