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Steuerrecht
10.04.2025
Steuerrecht
BFH: Verfassungsmäßigkeit der Säumniszuschläge ab dem durch den russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 ausgelösten Anstieg der Marktzinsen

BFH, Beschluss vom 21.3.2025 – X B 21/25 (AdV)

ECLI:DE:BFH:2025:BA.210325.XB21.25.0

Volltext:BB-ONLINE BBL2025-918-6

Amtliche Leitsätze

1. Aufgrund des deutlichen und nachhaltigen Anstiegs der Marktzinsen, der seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 zu verzeichnen ist, bestehen jedenfalls seit März 2022 keine ernstlichen Zweifel mehr an der Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Regelung über die Höhe der Säumniszuschläge.

2. Wenn das Finanzamt (FA) zwar Aussetzung der Vollziehung (AdV) gewährt, deren Wirkung aber von der Erbringung einer Sicherheitsleistung abhängig macht, bewirkt die spätere Leistung der Sicherheit im Regelfall, dass die AdV mit (Rück-)Wirkung ab dem Zeitpunkt der Wirksamkeit der Verfügung eintritt und zuvor etwaig entstandene Säumniszuschläge entfallen. Das FA kann allerdings ausdrücklich anordnen, dass die Wirkung der AdV erst im Zeitpunkt der tatsächlichen Leistung der Sicherheit beginnt (Anschluss an den Beschluss des Bundesfinanzhofs vom 10.12.1986 - I B 121/86, BFHE 149, 6, BStBl II 1987, 398, unter II.3.d).

Sachverhalt

Gegen die Antragstellerin und Beschwerdegegnerin (Antragstellerin) erließ der Antragsgegner und Beschwerdeführer (Finanzamt ‑‑FA‑‑) am 19.08.2020 einen geänderten Einkommensteuerbescheid für 2017. Aufgrund des erhöhten Ansatzes des Gewinnanteils an einer gewerblichen Personengesellschaft ergab sich eine Nachzahlung von 182.382 € Einkommensteuer und 9.945,81 € Solidaritätszuschlag zur Einkommensteuer.

Da die Personengesellschaft ein Rechtsbehelfsverfahren gegen den ergangenen Gewinnfeststellungsbescheid führte, gewährte das FA der Antragstellerin am 01.09.2020 Aussetzung der Vollziehung (AdV) für die Steuernachzahlung, zunächst ohne Sicherheitsleistung. Am 15.02.2022 erließ es aufgrund des in der AdV-Verfügung enthaltenen Widerrufsvorbehalts einen geänderten AdV-Bescheid. Darin heißt es unter anderem:

"Sicherheitsleistung:

Die Aussetzung der Vollziehung wird von einer Sicherheitsleistung in Höhe von 108.000 € abhängig gemacht (Rechtsgrundlage: § 361 Absatz 2 Satz 5 AO).

Die Aussetzung der Vollziehung ist nur dann weiter wirksam, wenn die Sicherheit erbracht ist. Die möglichen Sicherheitsleistungen sind in §§ 241 bis 248 AO genannt (z.B. Wertpapiere, Sparbücher, Hypotheken, Grundbucheintragungen). Um Ihnen Gelegenheit zu geben, geeignete Sicherheiten zu stellen, werde ich bis zum 18.03.2022 von Vollstreckungsmaßnahmen absehen.

Die Anordnung der Sicherheitsleistung ist aus folgenden Gründen erforderlich: (…)

Beginn der Aussetzung der Vollziehung:

Die Vollziehung wird weiterhin ab Fälligkeit ausgesetzt (sofern die Sicherheitsleistung erbracht wird)."

Am 09.03.2022 legte die Antragstellerin Einspruch gegen den geänderten AdV-Bescheid ein. Zur Begründung führte sie aus, die Adressaten ‑‑neben der Antragstellerin führten mehrere weitere Mitglieder der Familie der Antragstellerin gleichgelagerte Verfahren‑‑ könnten die geforderten Sicherheiten mangels Liquidität nicht aufbringen. Sie bot ‑‑für alle betroffenen Familienmitglieder zusammen‑‑ die Eintragung einer Grundschuld auf dem Grundstück A an. Dieses Grundstück stand im Eigentum einer Erbengemeinschaft, der die Antragstellerin nicht angehörte. Das FA lehnte mit Schreiben vom 22.04.2022 die Annahme der Grundschuld als Sicherheit ab, da § 241 Abs. 1 Nr. 5 Buchst. a der Abgabenordnung (AO) nur erstrangige Hypotheken, Grund- oder Rentenschulden als Sicherheit vorsehe, das Grundstück A aber bereits belastet sei, die angebotene Sicherheit also nicht erstrangig sein könne. Zudem sei weder der Wert des Grundstücks noch die Höhe der Belastungen belegt worden. Es bat die Antragstellerin um Vorlage einer Vermögensauskunft.

Am 23.05.2022 legte die Antragstellerin die Vermögensauskunft vor. Daraus ergab sich, dass sie Eigentümerin des Grundstücks B war. Hierzu reichte sie ein auf den 14.11.2017 erstelltes Wertgutachten über einen Verkehrswert von 1,2 Mio. € ein.

Dieses Grundstück war bereits mit zwei Grundschulden belastet. Deren Nennbeträge werden in den Akten teils mit 700.000 € und 150.000 € angegeben (Gesprächsnotiz des FA vom 30.06.2022 und Schreiben der Antragstellerin vom 07.11.2024), teils mit 700.000 DM und 150.000 DM (Schreiben des FA vom 18.09.2024). Am 30.06.2022 trug die Antragstellerin dem FA telefonisch vor, die erste Grundschuld valutiere nur noch mit 340.000 €; der Sachverhalt zur zweiten Grundschuld müsse noch geprüft werden. Das FA ließ das Wertgutachten durch seinen Bausachverständigen überprüfen.

Am 08.08.2022 wies das FA den Einspruch gegen den AdV-Widerrufsbescheid vom 15.02.2022 zurück. Es setzte eine Nachfrist für die Zahlung der sich hieraus ergebenden Gesamtbeträge bis zum 18.08.2022. Am 15.08.2022 bot die Antragstellerin dem FA konkret die Eintragung einer Grundschuld auf dem Grundstück B an, was das FA am 19.08.2022 ablehnte. Hiergegen wandte sich die Antragstellerin mit Schreiben vom 25.08.2022. Sie wies darauf hin, dass eine Grundschuld angesichts der hohen Kosten erst eingetragen werden könne, wenn klar sei, dass das FA sie als Sicherheit akzeptieren werde. In der Folgezeit kam es zu mehreren Telefongesprächen zwischen der Antragstellerin und dem FA. Am 27.09.2022 und 06.10.2022 übermittelte die Antragstellerin dem FA Entwürfe zur Grundschuldbestellung. Am 10.10.2022 erklärte das FA telefonisch gegenüber der Antragstellerin, dass der Text laut dem Schreiben vom 06.10.2022 akzeptiert werde.

Am 20.12.2022 wurde die Belastung des Grundstücks B mit einer Grundschuld zugunsten des FA im Grundbuch eingetragen. Daraufhin gewährte das FA mit Bescheid vom 09.01.2023 erneut AdV mit Wirkung ab dem 20.12.2022.

In der Folgezeit vertrat das FA die Auffassung, für die Zeit vom 19.03.2022 bis zum 19.12.2022 seien Säumniszuschläge entstanden (16.411,50 € Säumniszuschläge zur Einkommensteuer 2017 und 891,00 € Säumniszuschläge zum Solidaritätszuschlag zur Einkommensteuer 2017). Auf Antrag der Antragstellerin erließ das FA einen Abrechnungsbescheid, in dem unter anderem die genannten Säumniszuschläge ausgewiesen sind.

Hiergegen legte die Antragstellerin Einspruch ein. Sie führte aus, die Steuernachforderungen könnten angesichts der gesetzten Nachfrist erst am 19.08.2022 fällig geworden sein. Bis zum Erlass der Einspruchsentscheidung vom 08.08.2022 sei unklar gewesen, ob das FA an der Forderung nach einer Sicherheitsleistung festhalten würde. Auch in der Folgezeit habe das FA die Frist zur Bestellung der Sicherheit zumindest konkludent verlängert, da es deren Annahme nicht endgültig abgelehnt habe. Zudem sei die Höhe der Säumniszuschläge verfassungswidrig. Im Hinblick auf den letztgenannten Gesichtspunkt ruht das Einspruchsverfahren mit Zustimmung der Antragstellerin nach § 363 Abs. 2 AO.

Nachdem das FA einen AdV-Antrag hinsichtlich der Säumniszuschläge abgelehnt hatte, beantragte die Antragstellerin beim Finanzgericht (FG) die Gewährung von AdV. Zur Begründung führte sie ergänzend aus, angesichts des Wortlauts des Bescheids vom 15.02.2022 habe sie davon ausgehen dürfen, dass die AdV ab Fälligkeit gewährt werde, sofern die Sicherheitsleistung erbracht werde. Das in diesem Bescheid genannte Datum 18.03.2022 könne nicht als Ausschlussfrist für die rechtswirksame Umsetzung einer Sicherheitsleistung verstanden werden. Vielmehr habe die Antragstellerin davon ausgehen können, dass bis zu diesem Datum in Betracht kommende Sicherheiten zunächst genannt werden sollten. Anschließend hätte die Abstimmung zur konkreten Umsetzung vorgenommen werden können. Selbst wenn es sich um eine Ausschlussfrist gehandelt haben sollte, wäre sie nach § 125 Abs. 2 Nr. 2 AO nichtig, da sie aus tatsächlichen Gründen von niemandem hätte befolgt werden können. Die Antragstellerin habe innerhalb der genannten Frist eine Sicherheit angeboten, die das FA erst nach langer Verzögerung abgelehnt habe. Bis zum Fristablauf hätte die Antragstellerin daher schon mangels Rückmeldung des FA keine Sicherheit erbringen können.

Das FG setzte mit seinem angefochtenen Beschluss die Vollziehung des Abrechnungsbescheids in voller Höhe aus. Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestünden schon deshalb, weil mehrere Senate des Bundesfinanzhofs (BFH) in vergleichbaren Fällen AdV wegen Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit der Höhe der Säumniszuschläge gewährt hätten. Es sei nicht erkennbar, dass diese Senate ihre Zweifel aufgegeben hätten oder ihre Rechtsprechung durch Entscheidungen anderer Senate des BFH überholt sei.

Die Antragstellerin habe auch ein berechtigtes Interesse an der AdV-Gewährung, so dass dahinstehen könne, ob ein solches Interesse in Fällen, in denen AdV wegen verfassungsrechtlicher Zweifel an der Gültigkeit einer Norm begehrt werde, überhaupt verlangt werden könne. Zum einen gingen die Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts vorliegend über dasjenige hinaus, was üblicherweise für eine AdV-Gewährung für erforderlich gehalten werde. Zum anderen sei weder dargelegt noch sonst ersichtlich, dass eine AdV im Streitfall das öffentliche Interesse an einer geordneten Haushaltsführung verletzen könne.

Mit seiner vom FG zugelassenen Beschwerde, der das FG nicht abgeholfen hat, bringt das FA vor, der X. Senat des BFH habe in einer Entscheidung, die in einem Hauptsacheverfahren ergangen sei, ausdrücklich ausgeführt, dass damit die divergierenden Entscheidungen anderer Senate überholt seien. Auch fehle das erforderliche besondere Aussetzungsinteresse. Auf Seiten der Antragstellerin sei kein besonderes Interesse über den bloßen Zahlungsaufschub hinaus erkennbar. Demgegenüber würde eine AdV-Gewährung zur faktischen Nichtanwendung des § 240 AO führen.

Das FA beantragt sinngemäß,

den angefochtenen Beschluss aufzuheben und den AdV-Antrag abzulehnen.

Die Antragstellerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie wiederholt und vertieft ihr bisheriges Vorbringen.

Aus den Gründen

17        II. Das FG hat zu Unrecht ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Regelung über die Höhe der Säumniszuschläge (§ 240 Abs. 1 Satz 1 AO) für die hier in Rede stehende Zeit ab März 2022 bejaht (dazu unten 1.). Gleichwohl stellt sich die vom FG ausgesprochene AdV-Gewährung aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig dar, da ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Entscheidung des FA bestehen, die Vollziehung abweichend von dem Wortlaut des geänderten AdV-Bescheids vom 15.02.2022 trotz Erbringung der Sicherheitsleistung nicht weiterhin ab Fälligkeit auszusetzen (unten 2.).

 

18        1. Entgegen der Auffassung des FG bestehen aufgrund des ab Februar 2022 markant und nachhaltig gestiegenen Zinsniveaus jedenfalls ab März 2022 auch dann, wenn man auf einen teilweisen Gegenleistungscharakter der Säumniszuschläge abstellen wollte, keine ernstlichen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Höhe der Säumniszuschläge, hier in Gestalt eines Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes durch Vornahme einer nicht realitätsgerechten Typisierung.

 

19        a) Nach § 69 Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ist die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsakts ganz oder teilweise auszusetzen, wenn ernstliche Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige Härte zur Folge hätte.

 

20        Ernstliche Zweifel im Sinne von § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO liegen vor, wenn bei summarischer Prüfung des angefochtenen Bescheids neben für seine Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung entscheidungserheblicher Tatfragen bewirken. Die Entscheidung hierüber ergeht bei der im AdV-Verfahren gebotenen summarischen Prüfung aufgrund des Sachverhalts, der sich aus dem Vortrag der Beteiligten und der Aktenlage ergibt. Zur Gewährung der AdV ist es nicht erforderlich, dass die für die Rechtswidrigkeit sprechenden Gründe im Sinne einer Erfolgswahrscheinlichkeit überwiegen. Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts können auch auf verfassungsrechtlichen Zweifeln hinsichtlich einer dem angefochtenen Verwaltungsakt zugrunde liegenden Norm beruhen (ständige Rechtsprechung; vgl. aus jüngerer Zeit BFH-Beschluss vom 28.10.2022 - VI B 15/22 (AdV), BFHE 278, 27, BStBl II 2023, 12, Rz 15, m.w.N.).

 

21        b) Der VII. Senat des BFH hat in Entscheidungen zur Hauptsache die Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Regelung über die Höhe der Säumniszuschläge für Zeiträume bis einschließlich 2017 bejaht (BFH-Urteile vom 23.08.2022 - VII R 21/21, BFHE 278, 1, BStBl II 2023, 304 und vom 15.11.2022 - VII R 55/20, BFHE 278, 403, BStBl II 2023, 621). Da die tragenden Gründe dieser Entscheidungen gleichermaßen für die Zeit ab 2019 gelten, hat der beschließende Senat ‑‑ebenfalls in einer Hauptsacheentscheidung‑‑ die Verfassungsmäßigkeit auch für Zeiträume, die in den Jahren ab 2019 liegen, bejaht (BFH-Urteil vom 23.08.2023 - X R 30/21, BFHE 282, 195, BStBl II 2024, 215, Rz 48 ff.). Zudem haben mehrere Senate des BFH in zwischenzeitlichen AdV-Entscheidungen ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Höhe der Säumniszuschläge für Zeiträume ab 2019 verneint (BFH-Beschlüsse vom 28.10.2022 - VI B 15/22 (AdV), BFHE 278, 27, BStBl II 2023, 12, Rz 17 ff.; vom 13.09.2023 - X B 52/23 (AdV), BFHE 281, 500, BStBl II 2023, 1102; vom 13.09.2023 - XI B 38/22 (AdV), BFHE 282, 213, BStBl II 2024, 214; vom 13.09.2023 - XI B 52/22 (AdV), BFH/NV 2024, 273 und vom 16.10.2023 - V B 49/22 (AdV), BFHE 281, 509, BStBl II 2024, 97) und eine grundsätzliche Bedeutung der Frage der Verfassungsmäßigkeit sowie eine Divergenz innerhalb der BFH-Rechtsprechung verneint (Senatsbeschluss vom 17.07.2024 - X B 79/23, BFH/NV 2024, 1144).

 

22        c) Selbst wenn man aber ‑‑anders als der beschließende Senat‑‑ darauf abstellen wollte, dass Säumniszuschläge auch einen Gegenleistungscharakter haben und dann die Grundsätze des zur Höhe der Nachzahlungszinsen ergangenen Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 08.07.2021 - 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17 (BVerfGE 158, 282) für übertragbar hielte (so BFH-Beschluss vom 22.09.2023 - VIII B 64/22 (AdV), Deutsches Steuerrecht kurzgefaßt 2023, 335), wäre dies durch die zwischenzeitlich eingetretene Entwicklung auf den Geld- und Kapitalmärkten überholt. Denn mit dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine im Februar 2022 und den dadurch auch in der Bundesrepublik Deutschland ausgelösten wirtschaftlichen Verwerfungen hat sich die Lage auf den Geld- und Kapitalmärkten grundlegend verändert. Der Kriegsbeginn hat eine klare und sogleich für jeden erkennbare Ursache dafür gesetzt, dass die Zinssätze in der Folgezeit deutlich und sehr schnell gestiegen sind. Die ausgeprägte Niedrigzinsphase der Vorjahre hatte damit ein Ende gefunden. Dieses gestiegene Zinsniveau hat bis heute Bestand; es handelt sich also nicht um eine kurzfristige Schwankung des Marktzinses, sondern um eine grundlegende ‑‑und damit im Rahmen einer etwaigen Prüfung der Angemessenheit der gesetzlichen Typisierung eines Zinssatzes zu berücksichtigende‑‑ Änderung der Verhältnisse.

 

23        Nach den Daten der Deutschen Bundesbank (www.bundesbank.de/de/statistiken) haben sich die nachfolgend genannten wesentlichen Marktzinssätze zwischen dem Monat, in dem der russische Überfall auf die Ukraine begonnen hat (Februar 2022) und dem Ende des Monats, für den das FA im Streitfall von der Verwirkung von Säumniszuschlägen ausgeht (Dezember 2022) wie folgt entwickelt, wobei die Zinssätze während dieses Zeitraums stetig angestiegen sind:

Zinsart

Februar 2022

       Dezember 2022

Zinssatz der Europäischen Zentralbank für die Einlagefazilität

./. 0,50 %

+ 2,00 %

        

        

        

Geldmarktsätze für Euribor Monatsgeld

./. 0,55 %

+ 1,72 %

        

        

        

Umlaufrenditen inländischer Inhaberschuldverschreibungen (Monatsdurchschnittswerte)

+ 0,43 %

+ 2,53 %

        

        

        

Effektivzinssätze deutscher Banken im Neugeschäft mit Wohnungsbaukrediten an private Haushalte

+ 1,45 %

+ 3,52 %

        

        

        

Effektivzinssätze deutscher Banken im Neugeschäft mit revolvierenden Krediten und Überziehungskrediten an private Haushalte      

+ 6,95 %

+ 8,53 %

 

24        Selbst wenn ein abgrenzbarer Teilbetrag der Säumniszuschläge als Gegenleistung für einen Liquiditätsgewinn des Steuerpflichtigen beziehungsweise einen Liquiditätsverlust des Fiskus anzusehen sein sollte, könnte die Bemessung dieses Teilbetrags daher jedenfalls für den hier streitgegenständlichen Zeitraum ab März 2022 nicht mehr als realitätsfremd angesehen werden.

 

25        2. Auch wenn der Senat die gesetzliche Regelung über die Höhe der Säumniszuschläge danach für verfassungsgemäß hält, bestehen im Streitfall gleichwohl ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der im angefochtenen Abrechnungsbescheid dokumentierten Entscheidung des FA, die Antragstellerin habe für die Zeit vom 19.03.2022 bis zum 19.12.2022 Säumniszuschläge verwirkt.

 

26        a) Wird eine Steuer nicht bis zum Ablauf des Fälligkeitstages entrichtet, so ist für jeden angefangenen Monat der Säumnis ein Säumniszuschlag von 1 % des abgerundeten rückständigen Steuerbetrags zu entrichten; abzurunden ist auf den nächsten durch 50 € teilbaren Betrag (§ 240 Abs. 1 Satz 1 AO).

 

27        b) Die Fälligkeit der sich aus dem Bescheid vom 19.08.2020 ergebenden Nachzahlungen zur Einkommensteuer 2017 und zum Solidaritätszuschlag zur Einkommensteuer 2017 war durch die AdV-Verfügung vom 01.09.2020 zunächst aufgeschoben. Mit dem geänderten AdV-Bescheid vom 15.02.2022 ist die Fortdauer der AdV zwar unter die aufschiebende Bedingung der Erbringung einer Sicherheitsleistung in Höhe von 108.000 € nach näherer Maßgabe der Regelungen der §§ 241 bis 248 AO gestellt worden. Es heißt dort aber ausdrücklich: "Die Vollziehung wird weiterhin ab Fälligkeit ausgesetzt (sofern die Sicherheitsleistung erbracht wird)." Diese Formulierung ist für sich genommen eindeutig: Sofern die geforderte Sicherheitsleistung erbracht wird ‑‑was hier mit Eintragung der Grundschuld im Grundbuch am 20.12.2022 geschehen ist‑‑, wird die Vollziehung weiterhin ab Fälligkeit ausgesetzt. Säumniszuschläge sind dann bei rückblickender Betrachtung nicht entstanden.

 

28        c) Diese vom Wortlaut des Bescheids ausgehende Auslegung steht im Einklang mit den von der höchstrichterlichen Rechtsprechung aufgestellten Grundsätzen über den Zeitpunkt, zu dem eine AdV wirksam wird, die das FA von der Erbringung einer Sicherheitsleistung abhängig macht. So heißt es im BFH-Beschluss vom 10.12.1986 - I B 121/86 (BFHE 149, 6, BStBl II 1987, 389, unter II.3.d), wenn eine Sicherheit entsprechend der AdV-Verfügung geleistet werde, trete die AdV ‑‑soweit etwas anderes nicht verfügt worden sei‑‑ ab dem Zeitpunkt ein, in dem die Verfügung Rechtswirksamkeit erlangt habe. Für den Regelfall bedeute dies, dass die Sicherheitsleistung zuvor entstandene Säumniszuschläge in Wegfall geraten lasse (hierauf Bezug nehmend ferner BFH-Beschluss vom 30.08.1989 - I B 39/89, BFH/NV 1990, 161, unter II.1.).

 

29        d) Dem steht nicht entgegen, dass die vom Gesetzgeber in § 361 Abs. 2 Satz 5 AO gewählte Formulierung, wonach die AdV von einer Sicherheitsleistung "abhängig gemacht werden" kann, eine aufschiebende Bedingung im Sinne des § 120 Abs. 2 Nr. 2 AO bedeutet (BFH-Beschlüsse vom 20.06.1979 - IV B 20/79, BFHE 128, 306, BStBl II 1979, 666, unter 2.b und vom 12.05.2000 - VI B 266/98, BFHE 192, 1, BStBl II 2000, 536, unter II.10.), die Wirkungen der AdV damit nur und erst dann eintreten, wenn der Steuerpflichtige die Sicherheit leistet und die getroffene Verfügung ins Leere geht, wenn der Steuerpflichtige die Sicherheitsleistung nicht innerhalb der von der Finanzbehörde gesetzten Frist erbringt (BFH-Beschluss vom 19.02.2018 - II B 75/16, BFH/NV 2018, 706, Rz 24). Denn eine aufschiebende Bedingung hat zwar im Regelfall zur Folge, dass die von der Bedingung abhängig gemachte Wirkung (erst) mit dem Eintritt der Bedingung beginnt (§ 158 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs ‑‑BGB‑‑). § 159 BGB sieht aber ausdrücklich vor, dass die Beteiligten, wenn nach dem Inhalt des Rechtsgeschäfts die an den Eintritt der Bedingung geknüpften Folgen auf einen früheren Zeitpunkt zurückbezogen werden sollen, im Fall des Eintritts der Bedingung verpflichtet sind, einander zu gewähren, was sie haben würden, wenn die Folgen in dem früheren Zeitpunkt eingetreten wären. So liegt es hier, da das FA in dem geänderten AdV-Bescheid ausgesprochen hat, im Fall der Erbringung der Sicherheitsleistung werde die Vollziehung "weiterhin" ab Fälligkeit ausgesetzt. Damit hat das FA ausgesprochen, dass die Folgen des Eintritts der Bedingung (Erbringung der Sicherheitsleistung) auf einen früheren Zeitpunkt zurückbezogen werden sollen.

 

30        e) Nach den Grundsätzen der vorstehend unter c angeführten BFH-Rechtsprechung hat das FA zwar die Möglichkeit, im Einzelfall einen anderen Wirksamkeitszeitpunkt der AdV zu verfügen (Ende der zuvor gewährten AdV einen Monat nach Bekanntgabe des geänderten AdV-Bescheids; Wirksamwerden einer erneuten AdV erst mit Erbringung der Sicherheitsleistung). Bei Anwendung des im summarischen Verfahren gebotenen Maßstabs bestehen aber jedenfalls ernstliche Zweifel daran, ob dies vorliegend mit der erforderlichen Eindeutigkeit geschehen ist. Denn der Ausspruch, die Vollziehung werde weiterhin ab Fälligkeit ausgesetzt, sofern die Sicherheitsleistung erbracht werde, ist für sich genommen eindeutig. Hieran ändert sich nichts dadurch, dass es im vorangehenden Text des Bescheids heißt, das FA werde bis zum 18.03.2022 von Vollstreckungsmaßnahmen absehen. Denn für den Fall, dass eine Sicherheitsleistung bis zum genannten Termin 18.03.2022 nicht erbracht sein würde, trat zunächst ein Schwebezustand ein, für dessen Dauer Vollstreckungsmaßnahmen ‑‑mangels Erbringung der Sicherheitsleistung und daher aktuell nicht gegebener AdV‑‑ zwar zulässig waren. Dieser Schwebezustand war aber darauf angelegt, durch Erbringung der geforderten Sicherheitsleistung beendet zu werden. Für diesen Fall hatte das FA ausgesprochen, dass die Vollziehung "weiterhin ab Fälligkeit ausgesetzt" werde. Damit sind die beiden im Bescheid getroffenen Aussagen ‑‑einerseits die Ankündigung, dass ab dem 18.03.2022 Vollstreckungsmaßnahmen möglich sind, sofern keine Sicherheitsleistung erbracht werde; andererseits die Zusage, dass im Fall der Leistung einer Sicherheit weiterhin AdV ab Fälligkeit gewährt werde‑‑ widerspruchslos miteinander vereinbar.

 

31        3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.

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