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Steuerrecht
04.05.2023
Steuerrecht
EuGH: Unrechtmäßiger Verbrauch von Elektrizität – regionale Regelung eines Mitgliedstaats – von Gemeinden betraute Einrichtung sui generis – Begriff „unbedeutender Umfang der Tätigkeit“

EuGH, Urteil vom 27.4.2023 – C-677/21, Fluvius Antwerpen gegen MX

ECLI:EU:C:2023:348

Volltext BB-Online BBL2023-1045-1

Tenor

1. Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2009/162/EU des Rates vom 22. Dezember 2009 geänderten Fassung in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 dieser Richtlinie

ist dahin auszulegen, dass

die Lieferung von Elektrizität durch einen Verteilernetzbetreiber, auch wenn sie unbeabsichtigt erfolgt und das Ergebnis des rechtswidrigen Handelns eines Dritten ist, eine Lieferung von Gegenständen gegen Entgelt darstellt, die die Übertragung der Befähigung, über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen, nach sich zieht.

2. Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 in der durch die Richtlinie 2009/162 geänderten Fassung

ist dahin auszulegen, dass

die Lieferung von Elektrizität durch einen Verteilernetzbetreiber, auch wenn sie unbeabsichtigt erfolgt und das Ergebnis des rechtswidrigen Handelns eines Dritten ist, eine wirtschaftliche Tätigkeit dieses Betreibers darstellt, da sie ein Risiko zum Ausdruck bringt, das seiner Tätigkeit als Elektrizitätsverteilernetzbetreiber innewohnt. Unter der Annahme, dass diese wirtschaftliche Tätigkeit von einer Einrichtung des öffentlichen Rechts im Rahmen der öffentlichen Gewalt ausgeübt wird, kann eine solche in Anhang I dieser Richtlinie aufgeführte Tätigkeit nur dann als unbedeutend im Sinne von Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie 2006/112 angesehen werden, wenn sie in räumlicher oder zeitlicher Hinsicht von minimalem Umfang und folglich von einer so geringen wirtschaftlichen Bedeutung ist, dass die Wettbewerbsverzerrungen, die sich daraus ergeben können, wenn schon nicht gleich null, so doch zumindest unerheblich wären.

Aus den Gründen

1          Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2009/162/EU des Rates vom 22. Dezember 2009 (ABl. 2010, L 10, S. 14) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2006/112) in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie sowie von Art. 9 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 dieser Richtlinie.

2          Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Fluvius Antwerpen (im Folgenden: Fluvius), einem Elektrizitätsverteilernetzbetreiber, und MX, einem Stromverbraucher, über die Zahlung einer Rechnung im Zusammenhang mit der unrechtmäßigen Entnahme von Elektrizität.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3          Art. 2 der Richtlinie 2006/112 sieht vor:

„(1) Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:

a) Lieferungen von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt tätigt;

…“

4          Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:

„Als ‚Steuerpflichtiger‘ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt.

Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit‘ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.“

5          Art. 13 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:

„Staaten, Länder, Gemeinden und sonstige Einrichtungen des öffentlichen Rechts gelten nicht als Steuerpflichtige, soweit sie die Tätigkeiten ausüben oder Umsätze bewirken, die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen, auch wenn sie im Zusammenhang mit diesen Tätigkeiten oder Umsätzen Zölle, Gebühren, Beiträge oder sonstige Abgaben erheben.

Die Einrichtungen des öffentlichen Rechts gelten in Bezug auf die in Anhang I genannten Tätigkeiten in jedem Fall als Steuerpflichtige, sofern der Umfang dieser Tätigkeiten nicht unbedeutend ist.“

6          In Art. 14 der Richtlinie heißt es:

„(1) Als ‚Lieferung von Gegenständen‘ gilt die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen.

(2) Neben dem in Absatz 1 genannten Umsatz gelten folgende Umsätze als Lieferung von Gegenständen:

a) die Übertragung des Eigentums an einem Gegenstand gegen Zahlung einer Entschädigung auf Grund einer behördlichen Anordnung oder kraft Gesetzes;

…“

7          Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 bestimmt:

„Einem körperlichen Gegenstand gleichgestellt sind Elektrizität, Gas, Wärme oder Kälte und ähnliche Sachen.“

8          Anhang I („Verzeichnis der Tätigkeiten im Sinne des Artikels 13 Absatz 1 Unterabsatz 3“) dieser Richtlinie bezieht sich in Nr. 2 auf die „Lieferung von Wasser, Gas, Elektrizität und thermischer Energie“.

Belgisches Recht

Mehrwertsteuergesetzbuch

9          Art. 6 Abs. 1 und 3 der wet tot invoering van de belasting over de toegevoegde waarde (Gesetz zur Einführung des Mehrwertsteuergesetzbuchs) vom 3. Juli 1969 (Belgisch Staatsblad, 17. Juli 1969, S. 7046) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetzbuch) bestimmt:

„Der Staat, die Gemeinschaften und die Regionen des Belgischen Staates, die Provinzen, die Agglomerationen, die Gemeinden und die öffentlichen Einrichtungen gelten nicht als Steuerpflichtige, soweit sie Tätigkeiten ausüben oder Verrichtungen erbringen, die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen, auch nicht, wenn sie im Zusammenhang mit diesen Tätigkeiten oder Verrichtungen Zölle, Gebühren, Beiträge oder sonstige Abgaben erheben.

Sie gelten in jedem Fall als Mehrwertsteuerpflichtige in Bezug auf folgende Tätigkeiten oder Verrichtungen, sofern der Umfang dieser Tätigkeiten oder Verrichtungen nicht unbedeutend ist:

2. Lieferung und Verteilung von Wasser, Gas, Elektrizität und thermischer Energie;

…“

10        In Art. 9 Unterabs. 1 und 2 des Mehrwertsteuergesetzbuchs heißt es:

„Für die Anwendung des [Mehrwertsteuergesetzbuchs] sind unter Gütern körperliche Güter zu verstehen.

Als körperliche Güter gelten:

1. Elektrizität, Gas, Wärme und Kälte;

…“

11        Art. 10 §§ 1 und 2 des Mehrwertsteuergesetzbuchs sieht vor:

§ 1 Als Lieferung eines Gutes gilt die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über ein körperliches Gut zu verfügen.

Es betrifft unter anderem die Zur-Verfügung-Stellung eines Gutes an den Erwerber oder Zessionar in Ausführung eines Übertragungs- oder Feststellungsvertrags.

§ 2 Als Lieferung eines Gutes gilt ebenfalls:

a) die Übertragung gegen Zahlung einer Entschädigung des Eigentums an einem Gut aufgrund einer Anforderung durch oder im Namen einer öffentlichen Behörde und allgemein aufgrund eines Gesetzes, eines Dekrets, einer Ordonnanz, eines Erlasses oder einer Verwaltungsverordnung,

…“

Energiedekret

12        Art. 1.1.3 des decreet houdende algemene bepalingen betreffende het energiebeleiden (Dekret mit allgemeinen Bestimmungen im Bereich der Energiepolitik) vom 8. Mai 2009 (Belgisch Staatsblad, 7. Juli 2009, S. 46192) der flämischen Regierung in der durch das decreet tot wijziging van het Energiedecreet van 8 mei 2009, wat betreft het voorkomen, detecteren, vaststellen en bestraffen van energiefraude (Dekret zur Änderung des Energiedekrets vom 8. Mai 2009 in Bezug auf die Verhütung, Aufdeckung, Feststellung und Ahndung von Energiebetrug) vom 24. Februar 2017 (Belgisch Staatsblad, 22. März 2017, S. 38694) geänderten Fassung (im Folgenden: Energiedekret) bestimmt:

„…

40°/1 Energiebetrug: jede rechtswidrige Handlung einer Person, ob aktiv oder passiv, die mit der Erlangung eines ungerechtfertigten Vorteils einhergeht. Als Energiebetrug gelten:

a) die unbefugte Ausführung von Tätigkeiten am Verteilernetz oder am lokalen Stromübertragungsnetz;

b) Manipulation des Anschlusses oder der Messanlage;

c) Nichteinhaltung der Meldepflichten, die sich aus der Anwendung des vorliegenden Dekrets, seiner Durchführungserlässe, der Anschlussverordnung, des Anschlussvertrags oder der technischen Verordnung ergeben;

…“

13        Nach Art. 4.1.1 des Energiedekrets benennt der Vlaamse Regulator van de Elektriciteits- en Gasmarkt (Flämische Regulierungsbehörde für den Elektrizitäts- und Gasmarkt, im Folgenden: VREG), eine autonome und externe Anstalt öffentlichen Rechts, für ein geografisch abgegrenztes Gebiet eine juristische Person, die mit dem Betrieb des Elektrizitäts- oder Erdgasverteilernetzes in diesem Gebiet betraut ist.

14        Art. 5.1.2 des Energiedekrets sieht vor:

„…

Die Kosten, die dem Netzbetreiber entstehen, um den in Art. 1.1.3, 40/1 Buchst. a, b, c, d und g angeführten Energiebetrug rückgängig zu machen, die Kosten für die Abschaltung …, die Regularisierung des Anschlusses oder der Messeinrichtung, der Wiederanschluss, die Kosten für den unrechtmäßig erlangten Vorteil und die Zinsen sind vom betreffenden Netznutzer zu tragen.

…“

Energieerlass

15        In Art. 4.1.2 des besluit van de Vlaamse Regering houdende algemene bepalingen over het energiebeleid (Erlass der flämischen Regierung mit allgemeinen Bestimmungen im Bereich der … Energiepolitik) vom 19. November 2010 (Belgisch Staatsblad, 8. Dezember 2010, S. 74551) in der durch den besluit van de Vlaamse Regering tot wijziging van het Energiebesluit van 19 november 2010 wat betreft het voorkomen, detecteren, vaststellen en bestraffen van energiefraude (Erlass der flämischen Regierung zur Änderung des Erlasses vom 19. November 2010 in Bezug auf die Verhütung, Aufdeckung, Feststellung und Ahndung von Energiebetrug) vom 26. Januar 2018 (Belgisch Staatsblad, 30. März 2018, S. 31178) geänderten Fassung (im Folgenden: Energieerlass) heißt es:

„§ 1 Der unrechtmäßig erlangte Vorteil im Sinne der Art. 5.1.2 und 5.1.3 des [Energiedekrets] wird je nach Fall als Produkt eines oder mehrerer der folgenden Faktoren berechnet:

1° der Pauschalpreis;

2° das geschätzte Verbrauchs‑, Einspeise- oder Produktionsvolumen;

3° die Dauer des Energiebetrugs.

Die in Absatz 1 genannte Berechnung wird stets auf der Grundlage des Verbraucherpreisindexes indexiert. Zu diesem Zweck wird der errechnete unrechtmäßig erlangte Vorteil mit dem Verhältnis des Verbraucherpreisindexes am 1. Januar des Jahres, in dem der Energiebetrug festgestellt wurde, und des Verbraucherpreisindexes am 1. Januar des Jahres, in dem der Energiebetrug stattfand, multipliziert.

Der unrechtmäßig erlangte Vorteil kann sich auf eine oder mehrere der folgenden Bereiche beziehen:

1° die durch missbräuchliche Nutzung des Verteilernetzes oder des lokalen Stromübertragungsnetzes umgangenen Kosten;

2° die durch die Nutzung des Verteilernetzes oder des lokalen Stromübertragungsnetzes umgangenen Kosten;

3° die durch den Anschluss an das Verteilernetz oder die Änderung des Anschlusses umgangenen Kosten;

4° die für die gelieferte Energie umgangenen Kosten;

§ 2 In dem in § 1 Abs. 3 Nrn. 1°, 2° und 3° erwähnten Fall beruht die Berechnung auf den Tarifen für den Anschluss an das Verteilernetz oder für die Nutzung des Verteilernetzes oder des lokalen Stromübertragungsnetzes, die nach der anwendbaren Preisberechnungsmethode bestimmt werden, und zwar einschließlich Steuern, Abgaben und Mehrwertsteuer.

Die Berechnung nach Absatz 1 stützt sich auf die Gesamtdauer des Energiebetrugs, wobei der Anfangszeitpunkt anhand vom Netzbetreiber festgestellter objektiver Faktoren bestimmt wird.

§ 3 In dem in § 1 Abs. 3 Nr. 4° genannten Fall wird die gelieferte Energiemenge nach der in den technischen Vorschriften vorgesehenen Schätzmethode geschätzt.

Der Preis, der bei der Berechnung des unrechtmäßig verbrauchten Stroms oder Erdgases verwendet wird, ist der Preis für Elektrizität oder Erdgas in Betrugsfällen, wie er von der zuständigen Regulierungsbehörde genehmigt und gemäß Art. 20 § 1 des Gesetzes vom 29. April 1999 über die Organisation des Elektrizitätsmarkts oder gemäß Art. 15/10 § 1 des Gesetzes vom 12. April 1965 über die Beförderung gasförmiger und anderer Erzeugnisse über Rohrleitungen einschließlich Steuern, Abgaben und Mehrwertsteuer bestimmt wird.

…“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

16        Die Lieferung von Energie an Privatpersonen wird in der Flämischen Region (Belgien) durch das Energiedekret geregelt, das seinerseits durch den Energieerlass ergänzt und durchgeführt wird.

17        Nach Art. 4.1.1 des Energiedekrets benannte der VREG Fluvius als juristische Person, die mit dem Betrieb des Elektrizitäts- oder Erdgasverteilernetzes im Gebiet einer Reihe von Gemeinden dieser Region betraut ist.

18        Fluvius ist eine Vereinigung zur interkommunalen Zusammenarbeit, der 38 flämische Gemeinden angehören. Nach Art. 2 ihrer Satzung ist sie eine juristische Person des öffentlichen Rechts mit einem Status sui generis.

19        Fluvius wird von einigen ihr angehörenden Gemeinden mit der Durchführung einer oder mehrerer Aufgaben betraut, die zu einem oder mehreren Tätigkeitsbereichen gehören, im vorliegenden Fall der Energieverteilung. Ihr Verwaltungsrat besteht aus Beratern und Bediensteten der Gemeinden, die Mitglieder der Vereinigung sind. Als Verteilernetzbetreiber hat sie u. a. die Aufgabe, Strom bis zu den einzelnen Anlagen zu transportieren, und ist für die Installation, Inbetriebnahme und Ablesung der Zähler verantwortlich.

20        Im Zeitraum vom 7. Mai 2017 bis zum 7. August 2019 verbrauchte MX, eine Privatperson, unrechtmäßig Strom.

21        Nachdem Fluvius diesen unrechtmäßigen Verbrauch festgestellt hatte, stellte sie auf der Grundlage eines Vergleichs des Zählerstands am Ort des Verbrauchs zu Beginn und am Ende dieses Zeitraums eine Rechnung über 813,41 Euro, davon 131,45 Euro Mehrwertsteuer, zuzüglich Verzugszinsen und Prozesszinsen aus. MX bezahlte diese Rechnung nicht.

22        Am 22. Juni 2021 verklagte Fluvius MX daher vor dem vredegerecht te Antwerpen (Friedensgericht Antwerpen, Belgien), dem vorlegenden Gericht, auf Zahlung dieser Rechnung. Dieses verurteilte MX mit der Vorlageentscheidung dazu, Fluvius die Kosten für die „unrechtmäßig entnommene Energie“ zu ersetzen. Es äußert jedoch Zweifel an der Entstehung des Mehrwertsteueranspruchs unter Umständen wie denen des bei ihm anhängigen Rechtsstreits.

23        Insoweit weist es darauf hin, dass vor dem 1. Mai 2018 keine Rechtsvorschrift ausdrücklich die Frage behandelt habe, ob auf die Entschädigung, die derjenige schulde, der rechtswidrig Energie entnommen habe, Mehrwertsteuer erhoben werden könne. Seit diesem Zeitpunkt hätten Art. 1.1.3 40°/1 und Art. 5.1.2 des Energiedekrets in Verbindung mit Art. 4.1.2 des Energieerlasses diese Lücke geschlossen, da die Stromentnahme aus dem Netz ohne Abschluss eines kommerziellen Vertrags, und ohne dies dem Verteilernetzbetreiber zu melden, als eine rechtswidrige aktive oder passive Handlung angesehen werden könne, die mit der Erlangung eines ungerechtfertigten Vorteils im Sinne von Art. 1.1.3 40°/1 des Energiedekrets verbunden sei. Außerdem sehe Art. 4.1.2 § 3 des Energieerlasses die Modalitäten vor, nach denen die Entschädigung, die dem unrechtmäßig erlangten Vorteil entspreche, bestimmt werde und dass diese Entschädigung Steuern, Abgaben und Mehrwertsteuer einschließe.

24        Das vorlegende Gericht fragt sich jedoch, ob diese Bestimmungen mit mehreren Artikeln der Richtlinie 2006/112 vereinbar sind.

25        Unter diesen Umständen hat das vredegerecht te Antwerpen (Friedensgericht Antwerpen) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Ist Art. 2 Abs. 1 Buchst. a in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen, dass die unrechtmäßige Entnahme von Energie eine Lieferung von Gegenständen darstellt, nämlich die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen?

2. Falls diese Frage verneint wird: Ist Art. 14 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen, dass die unrechtmäßige Entnahme von Energie eine Lieferung von Gegenständen darstellt, nämlich die Übertragung des Eigentums an einem Gegenstand gegen Zahlung einer Entschädigung aufgrund einer behördlichen Anordnung oder kraft Gesetzes?

3. Ist Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen, dass Fluvius, wenn sie einen Anspruch auf Entschädigung für unrechtmäßig entnommene Energie hat, als Steuerpflichtige anzusehen ist, weil die unrechtmäßige Entnahme die Folge einer „wirtschaftlichen Tätigkeit“ von Fluvius ist, nämlich der Nutzung eines körperlichen Gegenstands zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen?

4. Wenn Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass die unrechtmäßige Entnahme von Energie eine wirtschaftliche Tätigkeit darstellt, ist Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2006/112 dann dahin auszulegen, dass Fluvius eine Behörde ist, und, wenn ja, ist Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 3 dahin auszulegen, dass die unrechtmäßige Entnahme von Energie das Ergebnis einer Tätigkeit von Fluvius ist, die keinen unbedeutenden Umfang hat?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten und zur zweiten Vorlagefrage

26        Mit seiner ersten und seiner zweiten Vorlagefrage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 oder Art. 14 Abs. 2 Buchst. a dieser Richtlinie dahin auszulegen ist, dass die Lieferung von Elektrizität durch einen Verteilernetzbetreiber, auch wenn sie unbeabsichtigt erfolgt und das Ergebnis des rechtswidrigen Handelns eines Dritten ist, eine Lieferung von Gegenständen im Sinne einer der beiden letztgenannten Bestimmungen darstellt.

27        Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/112, der die steuerbaren Umsätze betrifft, Lieferungen von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt tätigt, der Mehrwertsteuer unterliegen.

28        In Bezug auf die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Tätigkeit, nämlich die Lieferung von Elektrizität, sei sie auch unbeabsichtigt und das Ergebnis des rechtswidrigen Handelns eines Dritten, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung der Grundsatz der steuerlichen Neutralität im Bereich der Mehrwertsteuererhebung eine allgemeine Differenzierung zwischen unerlaubten und erlaubten Geschäften verbietet (Urteil vom 10. November 2011, The Rank Group, C‑259/10 und C‑260/10, EU:C:2011:719, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung), da durch das Mehrwertsteuersystem der Endverbraucher von Gegenständen oder Dienstleistungen belastet werden soll (Urteil vom 1. Juli 2021, Tribunal Económico Administrativo Regional de Galicia, C‑521/19, EU:C:2021:527, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung), wenn diese Gegenstände oder Dienstleistungen im Rahmen steuerbarer Umsätze gemäß der Richtlinie 2006/112 geliefert oder erbracht wurden.

29        Zum anderen ist unter Hinweis darauf, dass Art. 15 Abs. 1 dieser Richtlinie Elektrizität einem körperlichen Gegenstand gleichstellt, klarzustellen, dass die Lieferung eines solchen Gegenstands im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie „gegen Entgelt“ erfolgen muss, was voraussetzt, dass zwischen der Lieferung von Gegenständen und einer tatsächlich vom Steuerpflichtigen empfangenen Gegenleistung ein unmittelbarer Zusammenhang besteht. Ein solcher unmittelbarer Zusammenhang liegt vor, wenn zwischen dem Erbringer der Lieferung und dem Empfänger ein Rechtsverhältnis besteht, in dessen Rahmen gegenseitige Leistungen ausgetauscht werden, wobei die vom Erbringer dieses Umsatzes empfangene Vergütung den tatsächlichen Gegenwert für die dem Leistungsempfänger erbrachte Lieferung bildet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. April 2021, Administration de l’Enregistrement, des Domaines et de la TVA, C‑846/19, EU:C:2021:277, Rn. 36).

30        Im vorliegenden Fall ergibt sich der unmittelbare Zusammenhang zwischen dem unrechtmäßig verbrauchten Strom und dem von Fluvius als Gegenleistung geforderten Betrag eindeutig aus den Angaben des vorlegenden Gerichts, da MX den Strom an seiner Wohnadresse entnommen hat und Fluvius die so entnommene Menge durch eine Aufstellung des Verbrauchs zwischen dem 7. Mai 2017 und dem 7. August 2019 durch Ablesen des an dieser Adresse befindlichen Zählers feststellen konnte. Der Betrag, der den Kosten für den unrechtmäßig verbrauchten Strom entspricht, wurde somit in den von MX geforderten Betrag einbezogen.

31        Im Übrigen ist das Kriterium, das an das Bestehen eines Rechtsverhältnisses anknüpft, in dessen Rahmen die Lieferung von Gegenständen und ihre Gegenleistung erfolgen, im Licht der in Rn. 28 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung unter Berücksichtigung aller Umstände jedes Einzelfalls so auszulegen, dass der Grundsatz der steuerlichen Neutralität nicht verletzt wird. In diesem Zusammenhang muss dieses Kriterium weit verstanden werden.

32        Außerdem werden im vorliegenden Fall zum einen, wie Fluvius hervorhebt, die Beziehungen zwischen dem heimlichen Verbraucher und dem Elektrizitätsverteilernetzbetreiber, auch wenn die Stromlieferung ohne Abschluss eines Vertrags erfolgt, durch die auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbare Anschlussverordnung geregelt, die den Begriff „unrechtmäßige Entnahme“ definiert und vorsieht, dass der Verteilernetzbetreiber den daraus resultierenden Verbrauch der Person, die die Entnahme vorgenommen hat, zurechnet. Zum anderen regeln, wie in Rn. 23 des vorliegenden Urteils ausgeführt, sowohl das Energiedekret als auch der Energieerlass den Fall der Entnahme von Elektrizität ohne Abschluss eines kommerziellen Vertrags und ohne vorherige Meldung beim Verteilernetzbetreiber und legen die Modalitäten fest, nach denen die Entschädigung festgesetzt wird, die dem von diesem Verbraucher rechtswidrig erlangten Vorteil entspricht.

33        Eine Lieferung von Gegenständen mit solchen Merkmalen, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen sein wird, entspricht somit einer Lieferung von Gegenständen gegen Entgelt im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/112.

34        Es bleibt zu klären, ob eine solche Lieferung von Gegenständen als Übertragung der Befähigung, über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen, im Sinne von Art. 14 Abs. 1 dieser Richtlinie definiert werden kann oder ob es sich um eine Übertragung des Eigentums an einem Gegenstand gegen Zahlung einer Entschädigung handelt, die aufgrund einer behördlichen Anordnung oder kraft Gesetzes gemäß Art. 14 Abs. 2 Buchst. a dieser Richtlinie erfolgt.

35        Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass sich Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 nicht auf die Eigentumsübertragung in den im anwendbaren nationalen Recht vorgesehenen Formen bezieht, sondern jede Übertragung eines körperlichen Gegenstands durch eine Partei umfasst, die die andere Partei ermächtigt, über diesen Gegenstand faktisch so zu verfügen, als wäre sie sein Eigentümer (Urteil vom 25. Februar 2021, Gmina Wrocław [Umwandlung des Nießbrauchsrechts], C‑604/19, EU:C:2021:132, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36        Dieser Begriff hat einen objektiven Charakter und ist unabhängig von Zweck und Ergebnis der betroffenen Umsätze anwendbar (Urteil vom 15. Mai 2019, Vega International Car Transport and Logistic, C‑235/18, EU:C:2019:412, Rn. 28).

37        Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass Fluvius im Zeitraum vom 7. Mai 2017 bis zum 7. August 2019, d. h. mehr als zwei Jahre, MX mit Strom versorgt hat. Sie ging also zwangsläufig davon aus, dass sie einen Kunden belieferte, und gleichzeitig verhielt MX sich Fluvius gegenüber wie ein Kunde und handelte „als Eigentümer“, d. h., er verbrauchte den von Fluvius gelieferten Strom. Wie die belgische Regierung zu Recht ausgeführt hat, führen die Eigenschaften der Elektrizität dazu, dass die Entnahme aus dem Verteilernetz mit dem Verbrauch des Gegenstands zusammenfällt und dass dieser Verbrauch nicht nur der Nutzung dieses Gegenstands, sondern auch seiner Veräußerung entspricht. Diese ist aber das äußerste Merkmal des Eigentumsrechts. Eine Lieferung von Gegenständen unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens ist daher als Übertragung der Befähigung, über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen, im Sinne von Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 anzusehen.

38        Da sich aus dem Wortlaut und der Struktur von Art. 14 dieser Richtlinie ergibt, dass Abs. 2 dieses Artikels gegenüber der allgemeinen Definition in Abs. 1 dieses Artikels eine lex specialis darstellt, deren Anwendungsvoraussetzungen gegenüber denen von Abs. 1 autonomen Charakter haben (Urteil vom 25. Februar 2021, Gmina Wrocław [Umwandlung des Nießbrauchsrechts], C‑604/19, EU:C:2021:132, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung), schließt die in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils getroffene Feststellung die Anwendung von Art. 14 Abs. 2 Buchst. a dieser Richtlinie auf das Ausgangsverfahren aus.

39        Nach alledem ist auf die erste und die zweite Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 dieser Richtlinie dahin auszulegen ist, dass die Lieferung von Elektrizität durch einen Verteilernetzbetreiber, auch wenn sie unbeabsichtigt erfolgt und das Ergebnis des rechtswidrigen Handelns eines Dritten ist, eine Lieferung von Gegenständen gegen Entgelt darstellt, die die Übertragung der Befähigung, über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen, nach sich zieht.

Zur dritten und zur vierten Vorlagefrage

40        Mit seiner dritten und seiner vierten Vorlagefrage, die zusammen zu behandeln sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass die Lieferung von Elektrizität durch einen Verteilernetzbetreiber, auch wenn sie unbeabsichtigt erfolgt und das Ergebnis des rechtswidrigen Handelns eines Dritten ist, eine wirtschaftliche Tätigkeit darstellt und, falls ja, ob erstens ein Wirtschaftsteilnehmer, der eine solche Tätigkeit ausübt, wie Fluvius, somit im Rahmen der öffentlichen Gewalt im Sinne von Art. 13 Abs. 1 dieser Richtlinie handelt und, wenn ja, ob zweitens diese Bestimmung dahin auszulegen ist, dass eine solche Entnahme in einem nicht unbedeutenden Umfang der Tätigkeit dieses Wirtschaftsteilnehmers entspricht.

41        Hervorzuheben ist, dass die Prüfung des Wortlauts von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 zum einen den Umfang des Anwendungsbereichs des Begriffs „wirtschaftliche Tätigkeit“ und zum anderen dessen objektiven Charakter deutlich zeigt, da die Tätigkeit an sich, unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis, betrachtet wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Februar 2021, Gmina Wrocław [Umwandlung des Nießbrauchsrechts], C‑604/19, EU:C:2021:132, Rn. 69 und die dort angeführte Rechtsprechung).

42        Eine Tätigkeit wird im Allgemeinen also als wirtschaftlich angesehen, wenn sie nachhaltig ist und gegen ein Entgelt ausgeübt wird, das derjenige erhält, der die Leistung erbringt (Urteil vom 15. April 2021, Administration de l’Enregistrement, des Domaines et de la TVA, C‑846/19, EU:C:2021:277, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43        Im vorliegenden Fall fragt das vorlegende Gericht den Gerichtshof nicht nach der Einstufung der Tätigkeit eines wie Fluvius als Verteilernetzbetreiber handelnden Wirtschaftsteilnehmers, die offensichtlich den in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils genannten Kriterien entspricht, was im Übrigen durch den Wortlaut von Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit deren Anhang I bestätigt wird, wonach die Verteilung von Elektrizität grundsätzlich der Mehrwertsteuer unterliegt, auch wenn sie von einer Einrichtung des öffentlichen Rechts vorgenommen wird, die im Rahmen der öffentlichen Gewalt handelt. Mit dem Hinweis auf das Kriterium der Absicht des Betreibers, nachhaltig Einnahmen zu erzielen, weist das vorlegende Gericht den Gerichtshof darauf hin, dass die im vorliegenden Fall von MX vorgenommene unrechtmäßige Stromentnahme zum einen vom Betreiber nicht erwünscht und zum anderen ein isolierter Fall war.

44        Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich, dass für die Feststellung, ob ein Umsatz als wirtschaftliche Tätigkeit anzusehen ist, alle Umstände zu prüfen sind, unter denen er erfolgt ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. April 2021, Administration de l’Enregistrement, des Domaines et de la TVA, C‑846/19, EU:C:2021:277, Rn. 48 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

45        Dazu geht aus den dem Gerichtshof übermittelten Akten erstens hervor, dass Fluvius im Zuständigkeitsbereich der Gemeinden, die an der Vereinigung zur interkommunalen Zusammenarbeit beteiligt sind, verpflichtet ist, jeden zu beliefern, der nicht mehr über einen Vertrag mit einem kommerziellen Verteiler verfügt und sich zuvor bei einer Einrichtung wie Fluvius gemeldet hat. Folglich kann Fluvius, soweit sich dies als notwendig erweist, veranlasst sein, unmittelbar die Rolle eines Stromversorgers wahrzunehmen, so dass eine solche Tätigkeit nicht marginal ist und, da sie zudem keineswegs außerhalb der Tätigkeit als Elektrizitätsverteilernetzbetreiber liegt, nicht von ihren Aufgaben insgesamt abgesondert werden kann.

46        Zweitens haben sowohl die Flämische Region durch Art. 1.1.3, 40°/1 und Art. 5.1.2 des Energiedekrets sowie durch Art. 4.1.2 des Energieerlasses als auch Fluvius selbst durch die auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbare Anschlussverordnung den Fall der unrechtmäßigen Entnahme von Energie, insbesondere von Strom, vorgesehen und die sich daraus ergebenden administrativen und finanziellen Folgen geregelt, wodurch ausgeschlossen ist, dieses Phänomen als punktuell und isoliert anzusehen, da es sich als hinreichend präsent und wiederkehrend erwiesen hat, um ein normatives Handeln zu rechtfertigen.

47        Drittens stellt das Verlustrisiko infolge eines Diebstahls, im vorliegenden Fall das Risiko, die Kosten für die durch unrechtmäßige Stromentnahme durch einen Dritten verlorenen Strommengen tragen zu müssen, ein typisches Geschäftsrisiko für eine wirtschaftliche Tätigkeit, im vorliegenden Fall die des Elektrizitätsverteilernetzbetreibers, dar.

48        Folglich ist vorbehaltlich einer Prüfung der oben genannten tatsächlichen Umstände durch das vorlegende Gericht davon auszugehen, dass Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass die Lieferung von Elektrizität durch einen Verteilernetzbetreiber, auch wenn sie unbeabsichtigt erfolgt und das Ergebnis des rechtswidrigen Handelns eines Dritten ist, eine wirtschaftliche Tätigkeit dieses Betreibers darstellt, da sie ein Risiko zum Ausdruck bringt, das seiner Tätigkeit als Elektrizitätsverteilernetzbetreiber innewohnt.

49        Selbst unter der Annahme, dass Fluvius eine Einrichtung des öffentlichen Rechts im Sinne von Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 ist und dass sie bei der Lieferung von Elektrizität an MX im Rahmen der öffentlichen Gewalt gehandelt hat, müsste diese Lieferung von Gegenständen grundsätzlich der Mehrwertsteuer unterliegen (vgl. Rn. 43 des vorliegenden Urteils), es sei denn, die Tätigkeit von Fluvius in diesem Zusammenhang könnte als unbedeutend angesehen werden.

50        Vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Beurteilung, da allein das nationale Gericht für die Auslegung des Rechts des betreffenden Mitgliedstaats zuständig ist, ist darauf hinzuweisen, dass Fluvius in ihrer Satzung als juristische Person des öffentlichen Rechts mit einem Status sui generis eingestuft wird, was die belgische Regierung in ihren Erklärungen bestätigt. Außerdem wird Fluvius, wie in Rn. 19 des vorliegenden Urteils ausgeführt, als Vereinigung der interkommunalen Zusammenarbeit von gewählten Vertretern der an dieser Zusammenarbeit beteiligten Gemeinden verwaltet, und ihre Aufgaben sind die gemeinsam wahrgenommenen Aufgaben dieser Gemeinden. In Anbetracht dieses Akteninhalts scheint eine Einrichtung wie Fluvius ungeachtet der Bezeichnung „mit Aufgaben betraute Vereinigung“ (Opdrachthoudende vereniging) der Definition einer Einrichtung des öffentlichen Rechts im Sinne von Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 zu entsprechen.

51        Im Übrigen scheint die in Rn. 45 des vorliegenden Urteils angeführte Verpflichtung von Fluvius einer Gemeinwohlverpflichtung zu entsprechen, da sie verhindern soll, dass Personen, die z. B. aus Gründen wirtschaftlicher Unsicherheit keinen kommerziellen Vertrag mit einem Energieversorger haben, die Stromversorgung vorenthalten wird.

52        Demnach ist zu ermitteln, was unbedeutende Leistungen im Sinne von Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie 2006/112 sein können und ob die Lieferung von Elektrizität durch einen Energieverteilernetzbetreiber im Zusammenhang mit der unrechtmäßigen Entnahme von Elektrizität darunterfallen kann.

53        Der Gesetzgeber der Europäischen Union wollte bestimmte Wettbewerbsverzerrungen vermeiden, indem er in dieser Bestimmung vorgesehen hat, dass die in Anhang I dieser Richtlinie aufgeführten Tätigkeiten, wie die Lieferung von Elektrizität, in jedem Fall mehrwertsteuerpflichtig sind, sofern ihr Umfang nicht unbedeutend ist, auch wenn sie von einer Einrichtung des öffentlichen Rechts ausgeübt werden, die im Rahmen der öffentlichen Gewalt handelt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2009, Kommission/Irland, C‑554/07, EU:C:2009:464, Rn. 72 und 73 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

54        Daraus folgt, dass der Begriff „unbedeutender Umfang der Tätigkeit“ eine Ausnahme von der allgemeinen Regel ist, dass jede Tätigkeit wirtschaftlicher Art der Mehrwertsteuer unterliegt. Daher ist dieser Begriff eng auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Februar 2021, Gmina Wrocław [Umwandlung des Nießbrauchsrechts], C‑604/19, EU:C:2021:132, Rn. 77 und die dort angeführte Rechtsprechung).

55        Daher unterliegt die in Anhang I der Richtlinie 2006/112 aufgeführte Tätigkeit nur dann nicht der Mehrwertsteuer, wenn diese Tätigkeit, die von einer Einrichtung des öffentlichen Rechts im Rahmen der öffentlichen Gewalt ausgeübt wird, als in räumlicher oder zeitlicher Hinsicht von minimalem Umfang und folglich von einer so geringen wirtschaftlichen Bedeutung angesehen werden kann, dass die Wettbewerbsverzerrungen, die sich daraus ergeben können, wenn schon nicht null, so doch zumindest unerheblich wären.

56        In Anbetracht der in den Rn. 45 und 46 des vorliegenden Urteils dargelegten Erwägungen ergibt sich, dass dies bei der Lieferung von Strom durch einen Verteilernetzbetreiber wie Fluvius auch im Zusammenhang mit einer unrechtmäßigen Entnahme von Elektrizität nicht der Fall ist, da sowohl die Flämische Region als auch Fluvius veranlasst waren, die administrativen und finanziellen Folgen unrechtmäßiger Entnahmen festzulegen, was ein Indiz für deren Erheblichkeit darstellt. Folglich erfolgt eine Lieferung von Elektrizität wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht im Rahmen einer Tätigkeit von unbedeutendem Umfang und muss daher der Mehrwertsteuer unterliegen.

57        Nach alledem ist auf die dritte und die vierte Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass die Lieferung von Elektrizität durch einen Verteilernetzbetreiber, auch wenn sie unbeabsichtigt erfolgt und das Ergebnis des rechtswidrigen Handelns eines Dritten ist, eine wirtschaftliche Tätigkeit dieses Betreibers darstellt, da sie ein Risiko zum Ausdruck bringt, das seiner Tätigkeit als Elektrizitätsverteilernetzbetreiber innewohnt. Unter der Annahme, dass diese wirtschaftliche Tätigkeit von einer Einrichtung des öffentlichen Rechts im Rahmen der öffentlichen Gewalt ausgeübt wird, kann eine solche in Anhang I dieser Richtlinie aufgeführte Tätigkeit nur dann als unbedeutend im Sinne von Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie 2006/112 angesehen werden, wenn sie in räumlicher oder zeitlicher Hinsicht von minimalem Umfang und folglich von einer so geringen wirtschaftlichen Bedeutung ist, dass die Wettbewerbsverzerrungen, die sich daraus ergeben können, wenn schon nicht gleich null, so doch zumindest unerheblich wären.

Kosten

58        Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

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