EuGH/GA-SA: Treueprogramm mit umsatzabhängig erworbenen Punkten – Besteuerung der Ausgabe der Punkte – Besteuerung der Einlösung der Punkte – Besteuerung der verfallenen Punkte (Schwedisches Vorabentscheidungsersuchen)
GAin Kokott, Schlussanträge vom 11.9.2025 – C-436/24, Skatteverket gegen Lyko Operations AB
ECLI:EU:C:2025:704
Volltext BB-Online BBL2025-2261-1
Schlussanträge
Die Ausgabe von Punkten im Rahmen eines Kundentreueprogramms, das so ausgestaltet ist, dass ein Kunde, der Gegenstände kauft, Punkte in Abhängigkeit von der Höhe des Einkaufs erhält und danach in Verbindung mit einem künftigen Kauf berechtigt ist, die Punkte zu nutzen, um weitere Gegenstände aus dem Sortiment des Verkäufers zu erhalten, stellt keinen Gutschein im Sinne von Art. 30a der Richtlinie 2006/112 dar. Es fehlt an der (eigenständigen) Verpflichtung, diese Punkte als Gegenleistung für eine Lieferung eines Gegenstandes anzunehmen. Daher stellt ein solches Punktesystem nur einen Preisnachlass bezüglich des künftigen Kaufs dar.
Aus den Gründen
I. Einleitung
1. Ben Terra, ein in Mehrwertsteuerkreisen sehr bekannter und hochgeschätzter, leider früh verstorbener Steuerrechtswissenschaftler, schrieb in einem seiner zahlreichen Aufsätze: „There are certain things that get better with age. Regretfully, the Voucher Directive, in respect of which it has taken the Member States so long to agree to the content, is not one of them.“(2)
2. Offenbar hat er recht gehabt, denn die angesprochene Richtlinie(3) hat trotz ihrer recht langen Entstehungsgeschichte (der Vorschlag der Kommission stammt aus dem Jahr 2012) und ihrer recht kurzen Existenz (die Umsetzungsfrist der 2016 in Kraft getretenen Richtlinie endete am 31. Dezember 2018) bereits mehrere Verfahren in Luxemburg hervorgerufen.(4) In diesem Vorabentscheidungsersuchen muss der Gerichtshof erneut Fragen beantworten, die sich aufgrund der neuen Art. 30a und 30b der Mehrwertsteuerrichtlinie(5) zur mehrwertsteuerrechtlichen Behandlung von Gutscheinen stellen.
3. Hier geht es um ein in der Praxis übliches Kundentreueprogramm, bei dem die Kunden mit ihren Einkäufen Punkte sammeln, die sie bei einem späteren Einkauf verwenden können. Im Ergebnis führen die Punkte dazu, dass der nächste Einkauf „billiger“ für den Kunden wird, sei es, dass die Punkte vom Preis abgezogen werden können, sei es, dass – so wie hier – zusätzlich noch eine weitere Ware aus einem Prämienshop erworben wird. Die laut dem vorlegenden Gericht entscheidende Frage ist, ob bereits die Ausgabe solcher Punkte als ein Gutschein im Sinne der Mehrwertsteuerrichtlinie zu behandeln ist.
II. Rechtlicher Rahmen
A. Unionsrecht
4. Den rechtlichen Rahmen bildet die Mehrwertsteuerrichtlinie. Deren Art. 30a lautet wie folgt:
„Für die Zwecke dieser Richtlinie gelten folgende Begriffsbestimmungen:
1. ‚Gutschein‘ ist ein Instrument, bei dem die Verpflichtung besteht, es als Gegenleistung oder Teil einer solchen für eine Lieferung von Gegenständen oder eine Erbringung von Dienstleistungen anzunehmen und bei dem die zu liefernden Gegenstände oder zu erbringenden Dienstleistungen oder die Identität der möglichen Lieferer oder Dienstleistungserbringer entweder auf dem Instrument selbst oder in damit zusammenhängenden Unterlagen, einschließlich der Bedingungen für die Nutzung dieses Instruments, angegeben sind;
2. ‚Einzweck-Gutschein‘ ist ein Gutschein, bei dem der Ort der Lieferung der Gegenstände oder der Erbringung der Dienstleistungen, auf die sich der Gutschein bezieht, und die für diese Gegenstände oder Dienstleistungen geschuldete Mehrwertsteuer zum Zeitpunkt der Ausstellung des Gutscheins feststehen;
3. ‚Mehrzweck-Gutschein‘ ist ein Gutschein, bei dem es sich nicht um einen Einzweck-Gutschein handelt.“
5. Art. 30b der Mehrwertsteuerrichtlinie regelt:
„(1) Jede Übertragung eines Einzweck-Gutscheins durch einen Steuerpflichtigen, der im eigenen Namen handelt, gilt als eine Lieferung der Gegenstände oder Erbringung der Dienstleistungen, auf die sich der Gutschein bezieht. Die tatsächliche Übergabe der Gegenstände oder die tatsächliche Erbringung der Dienstleistungen, für die ein Einzweck-Gutschein als Gegenleistung oder Teil einer solchen von dem Lieferer oder Dienstleistungserbringer angenommen wird, gilt nicht als unabhängiger Umsatz. …
(2) Die tatsächliche Übergabe der Gegenstände oder die tatsächliche Erbringung der Dienstleistungen, für die der Lieferer der Gegenstände oder Erbringer der Dienstleistungen einen Mehrzweck-Gutschein als Gegenleistung oder Teil einer solchen annimmt, unterliegt der Mehrwertsteuer gemäß Artikel 2, wohingegen jede vorangegangene Übertragung dieses Mehrzweck-Gutscheins nicht der Mehrwertsteuer unterliegt. …“
6. Die Art. 30a und 30b der Mehrwertsteuerrichtlinie wurden durch die Gutscheinrichtlinie eingefügt. Die Erwägungsgründe 1, 4 und 6 der Gutscheinrichtlinie lauten:
„(1) Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates regelt …. Diese Vorschriften sind jedoch nicht hinreichend klar oder umfassend, um eine einheitliche steuerliche Behandlung von Gutscheine betreffenden Umsätzen zu gewährleisten, so dass das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts beeinträchtigt wird.“
„(4) Diese Vorschriften sollten nur Gutscheine betreffen, die zur Einlösung gegen Gegenstände oder Dienstleistungen verwendet werden können. Sie sollten dagegen nicht für Instrumente gelten, die den Inhaber zu einem Preisnachlass beim Erwerb von Gegenständen oder Dienstleistungen berechtigen, aber nicht das Recht verleihen, solche Gegenstände oder Dienstleistungen zu erhalten.“
„(6) Um eindeutig zu bestimmen, was einen Gutschein für mehrwertsteuerliche Zwecke ausmacht, und um Gutscheine von Zahlungsinstrumenten zu unterscheiden, müssen Gutscheine – die gegenständlich sein oder eine elektronische Form haben können – definiert werden, so dass ihre wesentlichen Merkmale und insbesondere die Art des durch einen Gutschein verkörperten Rechts und der Pflicht, ihn als Gegenleistung für die Lieferung von Gegenständen oder die Erbringung von Dienstleistungen anzunehmen, erfasst werden.“
7. Titel VII der Mehrwertsteuerrichtlinie trägt die Überschrift „Steuerbemessungsgrundlage“. Der dort befindliche Art. 73 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt als Grundsatz:
„Bei der Lieferung von Gegenständen und Dienstleistungen, die nicht unter die Artikel 74 bis 77 fallen, umfasst die Steuerbemessungsgrundlage alles, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistungserbringer für diese Umsätze vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger oder einem Dritten erhält oder erhalten soll, einschließlich der unmittelbar mit dem Preis dieser Umsätze zusammenhängenden Subventionen.“
8. Art. 73a der Mehrwertsteuerrichtlinie regelt die Bemessungsgrundlage bei einem Mehrzweck-Gutschein gesondert:
„Bei der Lieferung von Gegenständen oder bei der Erbringung von Dienstleistungen, die in Bezug auf einen Mehrzweck-Gutschein erfolgt, entspricht die Steuerbemessungsgrundlage unbeschadet des Artikels 73 der für den Gutschein gezahlten Gegenleistung oder, in Ermangelung von Informationen über diese Gegenleistung, dem auf dem Mehrzweck-Gutschein selbst oder in den damit zusammenhängenden Unterlagen angegebenen Geldwert, abzüglich des Betrags der auf die gelieferten Gegenstände oder die erbrachten Dienstleistungen erhobenen Mehrwertsteuer.“
B. Schwedisches Recht
9. In Schweden wurde die Mehrwertsteuerrichtlinie durch das Mervärdesskattelag 2023:200 (Gesetz [2023:200] über die Mehrwertsteuer) in nationales Recht umgesetzt.
10. Nach Kapitel 2 § 26 dieses Gesetzes ist ein Gutschein ein Instrument, bei dem die Verpflichtung besteht, es als Gegenleistung oder Teil einer solchen u. a. für die Lieferung von Gegenständen anzunehmen. Die zu liefernden Gegenstände oder die Identität der möglichen Lieferer müssen entweder auf dem Instrument oder in damit zusammenhängenden Unterlagen, einschließlich der Bedingungen für die Nutzung des Instruments, angegeben sein. Kapitel 2 § 27 regelt, was unter einem Einzweck- bzw. einem Mehrzweck-Gutschein zu verstehen ist. Kapitel 5 §§ 40 bis 44 und Kapitel 8 §§ 2 bis 4 dieses Gesetzes enthalten Vorschriften, die den Art. 30b, 73 und 73a der Mehrwertsteuerrichtlinie entsprechen.
III. Sachverhalt
11. Die Lyko Operations AB (im Folgenden: Lyko) verkauft Haarpflege- und Schönheitsprodukte in Ladengeschäften und online. Lyko will ein Kundentreueprogramm ausarbeiten und beantragte beim Skatterättsnämnd (Steuerrechtsausschuss, Schweden) einen Mehrwertsteuervorbescheid, um zu erfahren, wie das Programm hinsichtlich der Mehrwertsteuer zu behandeln ist.
12. Nach dem Antrag sollen die Kunden (alles Privatpersonen) von Lyko ohne zusätzliche Kosten an dem eigenen Kundentreueprogramm teilnehmen können. Das Programm beinhaltet, dass die Kunden bei jedem regulären Einkauf Punkte erhalten, die sie anschließend – d. h. bei einem weiteren Einkauf – gegen Gegenstände im Punkteshop einlösen können. Die Einlösung kann nur in Verbindung mit einem neuen regulären Kauf geschehen. Das Produktangebot im Punkteshop besteht aus Gegenständen aus dem regulären Sortiment. Die Gegenstände werden hauptsächlich von geringerem Wert sein, können aber verschiedenen Mehrwertsteuersätzen unterliegen.
13. Jedem dieser Produkte wird ein Preis in Punkten beigemessen, und die Preise werden so festgesetzt, dass die Kunden im Punkteshop Gegenstände erhalten, die ca. 2 % bis 10 % ihrer ursprünglichen Einkäufe entsprechen. Jeder Punkt, den ein Kunde einlöst, kann mit den gesamten Einkäufen eines bestimmten Monats, die Punkte begründet haben, verbunden werden, und die ältesten Punkte werden stets zuerst verwendet. Man kann die Punkte nicht gegen Geld einlösen und auch nicht kaufen. Sie sind persönlich und nicht übertragbar. Die Gegenstände im Punkteshop sind auch nicht für eine Kombination von Punkten und Geldzahlung erhältlich. Erworbene Punkte verfallen, wenn sie nicht binnen zwei Jahren genutzt werden.
14. Die Punkte, die im Rahmen des Kundentreueprogramms ausgegeben werden, begründen eine Verpflichtung für Lyko, Gegenstände an den Kunden zu liefern – wenn der Kunde eine ausreichende Anzahl Punkte erhalten hat und diese bei seinem nächsten Kauf einlösen will. Die näheren Bedingungen für die Verwendung der Punkte werden den Kunden, die sich entscheiden, an dem Programm teilzunehmen, mitgeteilt.
15. Lyko fragte, ob das Treueprogramm bedeute, dass sie ihren Kunden mit den Punkten einen Gutschein zur Verfügung stelle (Mehrzweck-Gutschein). Für diesen Fall wollte sie auch wissen, wie die Steuerbemessungsgrundlage zu berechnen sei, wenn die Punkte im Punkteshop für Gegenstände eingelöst würden, da der Kunde keine gesonderte Zahlung für den Gutschein leiste und diesem auch kein Geldwert zugeordnet werde. Beide Fragen betreffen Fälle, in denen Lyko, sowohl in Verbindung mit dem ursprünglichen Vorgang als auch bei der Einlösung, Gegenstände innerhalb Schwedens an Kunden liefern wird.
16. Der Steuerrechtsausschuss beantwortete diese Fragen dahin gehend, dass das Treueprogramm nicht bedeute, dass Lyko Gutscheine an seine Kunden übertrage. Der Zweck eines Gutscheins bestehe darin, einen Wertnachweis darzustellen, d. h. einen Nachweis, dass der Inhaber im Voraus z. B. für die Lieferung eines Gegenstands bezahlt habe. Die Punkte in dem Treueprogramm hätten keinen bestimmten Geldwert.
17. Sowohl das Skatteverk (Finanzbehörde, Schweden) als auch Lyko haben gegen den Vorbescheid Klage beim vorlegenden Gericht erhoben, wobei die Finanzbehörde beantragt, den Vorbescheid zu bestätigen. Im Verfahren vor dem vorlegenden Gericht betont die Finanzbehörde, dass die Punkte kein Gutschein seien, der einen bestimmten Wert habe und übertragen werden könne, sondern nur eine Möglichkeit, sich zusätzlich einen Gegenstand aussuchen zu dürfen, nachdem der Kunde andere Gegenstände für einen bestimmten Betrag gekauft habe.
18. Lyko hingegen ist der Ansicht, dass die Punkte sämtliche Anforderungen gemäß Art. 30a der Mehrwertsteuerrichtlinie erfüllen und somit Gutscheine darstellen, auch wenn die Kunden nicht gesondert für die Punkte bezahlt hätten. Wenn die Kunden, die am Treueprogramm teilnähmen, einen Kauf tätigten, erhielten sie für ihre Gegenleistung sowohl den ausgewählten Gegenstand als auch die Punkte für ihr Geld (Entgelt).
IV. Vorabentscheidungsverfahren
19. Der Högsta förvaltningsdomstol (Oberstes Verwaltungsgericht, Schweden) fragt sich vor allem, ob es für das Vorliegen eines Gutscheins im Sinne der Mehrwertsteuerrichtlinie erforderlich ist, dass die Kunden für die Punkte bezahlt und diese einen bestimmten Geldwert haben müssen. Daher hat er das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgenden zwei Fragen vorgelegt:
1. Stellt ein Instrument in Form von Punkten – wie das in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehende – einen Gutschein gemäß der Definition in Art. 30a der Mehrwertsteuerrichtlinie dar, wenn die Punkte im Rahmen eines Kundentreueprogramms gewährt werden, das so ausgestaltet ist, dass ein Kunde, der Gegenstände kauft, Punkte in Abhängigkeit von der Höhe des Einkaufs erhält und danach in Verbindung mit einem künftigen Kauf berechtigt ist, die Punkte zu nutzen, um weitere Gegenstände aus dem Sortiment des Verkäufers zu erhalten?
2. Falls Frage 1 bejaht wird, wie ist die Steuerbemessungsgrundlage gemäß Art. 73a der Mehrwertsteuerrichtlinie festzulegen, wenn die Punkte genutzt werden, um Gegenstände vom Verkäufer zu erhalten?
20. Im Verfahren vor dem Gerichtshof haben Lyko, die schwedische Finanzverwaltung, das Königreich Belgien und die Europäische Kommission schriftlich Stellung genommen. Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung hat der Gerichtshof gemäß Art. 76 Abs. 2 der Verfahrensordnung abgesehen.
V. Rechtliche Würdigung
A. Zum Verständnis der Vorlagefragen
21. Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen basiert auf einem Antrag auf einen Steuervorbescheid. Darin möchte Lyko wissen, wie das geplante Kundentreueprogramm mehrwertsteuerrechtlich zu behandeln ist. Im Streit steht dabei vor allem, ob der Erwerb von Punkten bereits als die Ausgabe eines Gutscheins anzusehen ist. Leider erläutert das vorlegende Gericht nicht, worin die unterschiedlichen mehrwertsteuerrechtlichen Folgen liegen, wenn von einem Gutschein ausgegangen wird und wenn nicht. Dies würde dem Gerichtshof das Verständnis der Vorlagefragen durchaus erleichtern, und er müsste sich keine Gedanken über die Entscheidungserheblichkeit der gestellten Fragen machen.
22. Wenn ich es richtig sehe, ist die eigentlich zu entscheidende Frage hier, wie mehrwertsteuerrechtlich mit den nicht eingelösten Punkten umzugehen ist. Dies könnte je nach Vorliegen eines Gutscheins unterschiedlich zu betrachten sein. Nach der Änderung der Mehrwertsteuerrichtlinie durch die Gutscheinrichtlinie sind die „Anzahlungen“ für einen Mehrzweck-Gutschein (anders als bei einem Einzweck-Gutschein) erst zu versteuern, wenn der Gutschein eingelöst wird. Wird er nie eingelöst, fällt auf diesen Betrag auch keine Mehrwertsteuer an. Daher haben alle Unternehmen ein gesteigertes Interesse, das Vorliegen eines Einzweck-Gutscheins zu vermeiden. Dies kann relativ einfach erreicht werden,(6) indem man einen Gutschein ausgibt, der für Produkte mit unterschiedlichen Steuersätzen verwendet werden kann. Das ist auch hier bei den Punkten der Fall.
23. Wenn die Punkte wie ein Mehrzweck-Gutschein zu behandeln sind, dann müsste das Entgelt, das auf diese nicht verwendeten Punkte entfällt, im Grundsatz nicht versteuert werden. Sind die Punkte hingegen nur als eine Art Rabattsystem zu betrachten, dann haben sie erst dann einen steuermindernden Effekt, wenn und falls sie eingelöst werden. Denn dann würde bei dem ersten Erwerb der Waren die volle Mehrwertsteuer anfallen, und erst bei der Einlösung der Punkte würden Produkte zu reduzierten Preisen erworben, was dann auch die Steuer reduziert. Dies würde das Interesse von Lyko an der weiten Auslegung des Gutscheinbegriffs und an der Behandlung der Punkte des eigenen Kundentreueprogramms als Mehrzweck-Gutschein erklären.
B. Zur ersten Vorlagefrage
24. Die erste Frage bezieht sich auf die Definition eines Gutscheins im Sinne von Art. 30a der Mehrwertsteuerrichtlinie. Zu klären ist hier, ob der Erwerb von Punkten durch einen Kunden als Ausstellung eines Gutscheins betrachtet werden kann, auch wenn weder der Gegenstand noch der Wert des Gegenstandes, der mit diesen Punkten erworben werden kann, beim Erwerb der Punkte bekannt ist.
25. Die Definition eines Gutscheins in Art. 30a Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie enthält zwei kumulative Voraussetzungen. Zum einen muss sich entweder der zu liefernde Gegenstand oder der mögliche Lieferer aus dem Gutschein oder dessen Bedingungen ergeben. Zum anderen muss eine Verpflichtung bestehen, die Punkte als Gegenleistung für die Lieferung eines Gegenstandes anzunehmen. Letzteres grenzt den Gutschein von einem „bloßen“ Preisnachlass ab, welcher ausweislich des vierten Erwägungsgrundes der Gutscheinrichtlinie nicht von Art. 30a der Mehrwertsteuerrichtlinie erfasst wird. (dazu unter 1.).
26. Allerdings meinen einige Beteiligte, dass ein Gutschein nur etwas sein kann, das zu einem bestimmten Wert erworben wurde, den der Gutschein nachweist. Das sei bei den Punkten aber nicht der Fall. Insofern ist zu untersuchen, ob die Angabe eines bestimmten Wertes auf einem Gutschein eine ungeschriebene Voraussetzung ist oder ob es ausreicht, dass die Punkte im Rahmen eines entgeltlichen Vorgangs miterworben werden und sich der konkrete Wert erst bei ihrer Einlösung zeigt (dazu unter 2.).
27. Im Ergebnis scheint mir die gesamte Frage letztendlich jedoch auf die zutreffende steuerrechtliche Behandlung der nicht eingelösten Punkte hinauszulaufen. Diese kann bei einem Mehrzweck-Gutschein, der einen bestimmten Wert verkörpert, und einem Mehrzweck-Gutschein, der einen bloß bestimmbaren Wert verkörpert, meines Erachtens durchaus unterschiedlich ausfallen. Dafür muss man die Definition eines Gutscheins nicht um eine ungeschriebene Voraussetzung erweiterten (dazu unter 3.).
1. Geschriebene Voraussetzungen: bestimmte Angaben und die Verpflichtung, die Punkte als Gegenleistung anzunehmen
28. Damit die ausgegebenen Punkte als Gutschein im Sinne von Art. 30a Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie angesehen werden können, müssen zwei kumulative Voraussetzungen erfüllt sein.(7) Zum einen muss sich der zu liefernde Gegenstand oder der mögliche Lieferer aus dem Gutschein oder dessen Bedingungen ergeben. Dies scheint hier der Fall zu sein. Die näheren Bedingungen für die Verwendung der Punkte werden – ausweislich des Vorabentscheidungsersuchens – den Kunden, die sich entscheiden, an dem Programm teilzunehmen, mitgeteilt. Damit liegt diese Voraussetzung wohl vor. Wie die Kommission zutreffend vorträgt, ergibt sich dies allerdings nicht vollständig aus dem Vorabentscheidungsersuchen.
29. Zum anderen muss das Kundentreueprogramm die Verpflichtung begründen, die Punkte als Gegenleistung für eine Lieferung von Gegenständen anzunehmen. Bis auf die schwedische Finanzverwaltung sind alle Beteiligten (d. h. die Kommission, Lyko und Belgien) der Ansicht, dass diese Voraussetzung erfüllt sei. Dies trifft meines Erachtens nicht zu, wie die schwedische Finanzverwaltung in ihrer Stellungnahme zutreffend herausarbeitet. Die Gutscheine sind nämlich von den von Art. 30a der Mehrwertsteuerrichtlinie gerade nicht erfassten Preisnachlassinstrumenten (siehe den vierten Erwägungsgrund der Gutscheinrichtlinie) abzugrenzen.
30. Preisnachlassinstrumente verpflichten niemanden zu einer Lieferung bei Vorlage des Gutscheins, sondern nur zur Reduktion des Preises, wenn sich ein Kunde zum Kauf einer Ware verpflichtet. Sie sind ein Anreizelement, um eine weitere entgeltliche Lieferung hervorzurufen, weil sie diese durch einen Rabatt (Preis- oder Warenrabatt) verbilligen. Jedoch hängen sie unselbständig von einem anderen zu rabattierenden Umsatz ab. Demgegenüber enthalten die von Art. 30a der Mehrwertsteuerrichtlinie erfassten Gutscheine eine allein vom Kunden ausgelöste eigenständige Verpflichtung, sie als Gegenleistung (oder wenn der Gutschein der Höhe nach nicht ausreicht, nach Wahl des Kunden auch als Teil der Gegenleistung) für eine Lieferung anzunehmen. Entscheidend ist, dass ein Gutschein durch den Inhaber selbständig als Gegenleistung für eine Lieferung oder Dienstleistung eingelöst werden kann.
31. Dies ist hier nicht der Fall. Die bei Lyko gesammelten Punkte gewähren dem Kunden kein Recht (und begründen damit auch keine Verpflichtung von Lyko), sie als Gegenleistung für eine Lieferung zu verwenden (bzw. anzunehmen). Lyko ist – wenn ich den Sachverhalt richtig verstehe – gerade nicht verpflichtet, auf Vorlage der Punkte hin eine Sachprämie zu liefern. Das vorlegende Gericht weist in der ersten Frage ausdrücklich darauf hin, dass das Kundentreueprogramm so ausgestaltet ist, dass der Kunde nur in Verbindung mit einem künftigen Kauf berechtigt ist, die Punkte zu nutzen, um weitere Gegenstände aus dem Sortiment von Lyko im Rahmen dieses weiteren Kaufes zu erhalten.
32. Damit begründen die Punkte aber keine Verpflichtung des Lieferers zur Lieferung eines Gegenstandes, sondern können nur anlässlich einer (weiteren) Verpflichtung des Kunden zu einem weiteren Kauf genutzt werden. Erst in dessen Rahmen kann dann mittels der Punkte ein weiterer Gegenstand (die Prämie) zusätzlich erworben werden. Eine Verpflichtung des Lieferers ist aber nötig, damit überhaupt ein Gutschein vorliegt. Nur dann kann z. B. nach Art. 30b Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie schon die Übertragung eines (Einzweck‑) Gutscheins als Lieferung eines Gegenstandes behandelt werden. Dies ergibt sich bereits aus der Definition des Gutscheins in Art. 30a Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie und ist eine Voraussetzung, die alle Gutscheine, mithin auch die (Mehrzweck‑) Gutscheine erfüllen müssen.
33. Im vorliegenden Fall verpflichten die erworbenen Punkte – wirtschaftlich betrachtet – nicht zur Lieferung einer Prämie, sondern berechtigen den Kunden „nur“ zu einem „günstigeren“ weiteren Kauf.(8) Durch die Einlösung der Punkte verbilligt sich für ihn – der Preis des zweiten Einkaufs (Waren und Prämie) bleibt ja identisch – dieser zweite Einkauf um den Wert der ausgewählten Prämie. Noch deutlicher würde dies sein, wenn die Punkte anlässlich des zweiten Einkaufs nicht auch zur Auswahl einer Sachprämie, sondern zur teilweisen Reduktion des Kaufpreises berechtigen würden.
34. Etwas anderes würde nur gelten, wenn die Punkte losgelöst von einem weiteren Einkauf gegen eine Prämie eingelöst werden könnten. Dann wären die Voraussetzungen von Art. 30a der Mehrwertsteuerrichtlinie erfüllt. Da dies hier nicht der Fall ist, stellen die Punkte hier schon deswegen keinen Gutschein im Sinne der Mehrwertsteuerrichtlinie, sondern nur einen Preisnachlass dar.
2. Ungeschriebene Voraussetzung: Verkörperung eines bestimmten Wertes durch den Gutschein?
35. In ihren Stellungnahmen betonen insbesondere Belgien und die Kommission, dass der Zweck eines Gutscheins darin bestehe, einen Wertnachweis darzustellen, d. h. einen Nachweis, dass der Inhaber im Voraus z. B. für die Lieferung eines Gegenstands bezahlt habe. Die Punkte in dem Treueprogramm hätten jedoch keinen bestimmten Geldwert. Insofern gehen beide von einer weiteren ungeschriebenen Voraussetzung aus, wonach der Gutschein entgeltlich erworben werden und bereits bei der Ausgabe einen bestimmten Wert verkörpern müsse.
36. Diese Argumentation überzeugt mich jedoch nicht. Zum einen ist sie im vorliegenden Fall nicht nötig, denn es liegt auch ohne diese ungeschriebene Voraussetzung nur ein Preisnachlassinstrument und kein Gutschein vor. Zum anderen würde diese ungeschriebene Voraussetzung den Anwendungsbereich der Art. 30a und 30b der Mehrwertsteuerrichtlinie ohne Not einschränken.
37. Zwar zeichnet sich der klassische Gutschein (Wertgutschein) dadurch aus, dass eine Person vorab Geld für eine später zu erbringende – zum Teil noch nicht näher bestimmte, zum Teil schon feststehende – Lieferung oder sonstige Leistung eines Steuerpflichtigen bezahlt. Allerdings wurden die Art. 30a und 30b der Mehrwertsteuerrichtlinie ausweislich des zweiten Satzes des ersten Erwägungsgrundes der Gutscheinrichtlinie gerade geschaffen, weil die bisherigen Vorschriften als „nicht hinreichend klar oder umfassend“ verstanden wurden, „um eine einheitliche steuerliche Behandlung von Gutscheine betreffenden Umsätzen zu gewährleisten, so dass das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts beeinträchtigt wird“. Hintergrund war der Erfindungsreichtum der Unternehmen in den diversen Mitgliedstaaten, um Kunden zu binden und zu weiteren Einkäufen anzuregen.
38. Wenn der Gutscheinbegriff daher sehr eng und nur im klassischen Sinn verstanden wird, würde das Ziel dieser Richtlinie weitgehend leerlaufen, weil es dann bei allen anderen (neueren) Instrumenten doch wieder auf die übrigen „nicht hinreichend klar(en) oder umfassend(en)“ Vorschriften ankäme. Dass mit den neuen Regelungen nur die klassischen Wertgutscheine erfasst werden sollten, scheint mir daher eher fern zu liegen.
39. Wie Lyko zutreffend meint, kann mithin nunmehr auch eine sogenannte Stempelkarte, wonach nach zehn (per Stempel nachgewiesenen) Käufen der elfte Kauf gratis ist, einen Gutschein für die Lieferung des elften Gegenstandes darstellen. Entscheidend ist „nur“, ob der elfte Gegenstand selbständig geliefert werden muss oder dies erst in Verbindung mit dem elften Kauf (kaufe zwei, zahle eins) möglich ist. Letzteres wäre dann nur eine Rabattierung des elften Kaufs.
40. Der sechste Erwägungsgrund der Gutscheinrichtlinie bestätigt dieses Ergebnis. Danach müssen Gutscheine so definiert sein, dass ihre wesentlichen Merkmale und insbesondere die Art des durch einen Gutschein verkörperten Rechts und der Pflicht, ihn als Gegenleistung für die Lieferung von Gegenständen oder die Erbringung von Dienstleistungen anzunehmen, erfasst werden. Dass ein Gutschein einen im Moment der Erstellung bereits bestimmten, feststehenden Geldwert ausweisen bzw. repräsentieren müsste, wird weder dort noch in Art. 30a Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie erwähnt.
41. Dementsprechend hat der Gerichtshof im Übrigen schon entschieden, dass nur die in Art. 30a genannten Kriterien für die Einstufung eines Gutscheins maßgebend sind.(9) Bereits dies schließt weitere ungeschriebene Kriterien eigentlich aus.
42. Mithin kommt es weniger darauf an, ob die hier streitgegenständlichen Punkte den klassischen Gutscheinen ähnlich sind, als darauf, ob die Voraussetzungen von Art. 30a der Mehrwertsteuerrichtlinie vorliegen. Dieser verlangt aber nicht, dass ein Gutschein nur gegen Zahlung von Geld erworben werden und von Anfang an einen bestimmten Wert repräsentieren muss. Es genügt, dass der Gutschein als Gegenleistung für eine andere Lieferung oder sonstige Leistung bei einem Dritten eingesetzt werden kann und dass sich aus dem Gutschein (oder den damit zusammenhängenden Unterlagen) der zu liefernde Gegenstand oder der mögliche Lieferer ergibt.
43. Die durch den ersten Einkauf erworbenen Punkte verfügen sowohl beim Erwerb als auch bei der Einlösung über einen Geldwert. Beim Erwerb knüpfen die Punkte an den Preis des ersten Einkaufs an und werden insofern durch den Kunden – wie Lyko in seiner Stellungnahme zutreffend vorträgt – neben den gekauften Sachen (entgeltlich) miterworben. Dass diese unentgeltlich dem Kunden gutgeschrieben werden, kann bei umsatzabhängigen Punkten wohl kaum behauptet werden. Anders als Belgien vorträgt, ändert die Tatsache, dass andere Kunden, die an dem Kundentreueprogramm nicht teilnehmen, den gleichen Preis für die Waren bezahlen würden, daran nichts.
44. Denn außerhalb persönlicher Näheverhältnisse besteht die Vermutung, dass kein Unternehmen etwas an fremde Dritte verschenkt. Jedes „Geschenk“ ist entweder zuvor bezahlt worden oder wird nachträglich bezahlt, weil es in die Preise des Unternehmens einkalkuliert ist. Besonders deutlich wird dies bei den umsatzabhängigen Punkten, denn diese werden bei dem Kauf, der für den entsprechenden Umsatz sorgt, durch den Umsatz, an den sie anknüpfen, mitbezahlt.
45. Gerade bei umsatzabhängig erworbenen Punkten von „unentgeltlich erworbenen“ Punkten zu sprechen, ist lebensfremd und entspricht nicht der ökonomischen Wirklichkeit. Es kommt auch niemand auf die Idee, bei einer Werbeaktion (kaufe drei Dosen, bezahle nur zwei) von einem Geschenk oder einer unentgeltlichen Lieferung der dritten Dose auszugehen. Alle Dosen sind entgeltlich erworben, nur der eine Kunde (der drei Dosen erworben hat) hat pro Dose 33,33 % weniger gezahlt als der andere Kunde, der nur eine oder zwei Dosen gekauft hat.
46. Die möglicherweise dem entgegenstehende Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache Kuwait Petroleum(10) ist hier nicht maßgeblich. Dort hat der Gerichtshof dem Umstand, dass die Gutscheine als Geschenk bezeichnet wurden und die Annahme durch die Kunden in deren Belieben stand, die entscheidende Bedeutung zugemessen. Hier erhalten die Punkte aber nur diejenigen Personen, die sich an dem Kundentreueprogramm beteiligen (oder um im Beispiel mit den Dosen zu bleiben: bewusst drei Dosen kaufen). Die Gutschrift der Punkte erfolgt bei diesen nach Maßgabe des Umsatzes, und die Punkte werden zutreffend auch nicht als Geschenk bezeichnet. Insofern liegt ein anderer Sachverhalt vor. Die Kunden, die an dem Kundentreueprogramm teilnehmen, zahlen sowohl für die Waren (primär) als auch für ihre erhaltenen Punkte (sekundär). Bereits beim Erwerb symbolisieren diese Punkte daher einen (zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht feststehenden) entgeltlich erworbenen Wert.
47. Bei der Einlösung symbolisieren die Punkte dann einen, nun sogar bestimmten Wert. Dieser ist bis dahin jedoch variabel (laut Lyko liegt er zwischen 2 % und 10 % des vorherigen Umsatzes) und abhängig von der gewählten Prämie beim zweiten Einkauf. Daher kann nicht behauptet werden, dass die Punkte keinen Wert verkörpern, sondern sie verkörpern einen Wert, der sich lediglich erst später zeigt, weil er von der gewählten Prämie abhängt und bis dahin nicht in Geld – sondern in Punkten – ausgedrückt wird. Mithin wird kein bestimmter, sondern ein bestimmbarer Wert verkörpert.
48. Diese Variabilität bzw. Ungewissheit des Wertes der Punkte (als Gegenleistung der Prämienlieferung) ist im Mehrwertsteuerrecht jedoch unschädlich. Wie ich bereits andernorts ausgeführt habe,(11) stellt die Unsicherheit bezüglich der Höhe der Gegenleistung nicht deren Eigenschaft als Gegenleistung für eine Lieferung oder sonstige Leistung in Frage. Die einzige Entscheidung des Gerichtshofs (Rechtssache Baštová(12)), aus der möglicherweise etwas anderes herausgelesen werden könnte, ist zum einen hier nicht einschlägig (sie betraf die Frage, ob ein Gewinner eines Pferderennens einen Umsatz in Gestalt des Gewinns des Rennens ausgeführt hat, was zutreffend verneint wurde). Zum anderen kann sie bei genauer Betrachtung auch nicht derart weit verstanden werden.(13)
49. Im Gegenteil zeigt Art. 73 der Mehrwertsteuerrichtlinie, dass in die Bemessungsgrundlage alles fällt, was den Wert der Gegenleistung bildet. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs muss diese Gegenleistung nicht in Geld bestehen,(14) sondern nur in Geld ausgedrückt werden können.(15) Dies sollte auch für einen Sachgutschein gelten, der die Verpflichtung beinhaltet, dem Inhaber eine dort genannte (bzw. bestimmbare) Sache auszuhändigen.
50. Letztendlich bestätigt dies auch der neu mit der Gutscheinrichtlinie eingeführte Art. 73a der Mehrwertsteuerrichtlinie, der gewisse Sonderregelungen bei der Bestimmung der Bemessungsgrundlage für einen Mehrzweck-Gutschein aufstellt. Diese Sonderregeln sieht Art. 73a aber ausdrücklich „unbeschadet des Art. 73“ der Mehrwertsteuerrichtlinie vor.
51. Wenn es aber nach Art. 73 der Mehrwertsteuerrichtlinie ausreicht, dass der Wert der Gegenleistung (hier des Gutscheins) durch Geld ausgedrückt werden kann, dann genügt nach diesem Art. 73 auch, dass der Wert der Punkte (als Gegenleistung) im Moment der Lieferung bestimmt werden kann. Da zu diesem Zeitpunkt der Wert der Prämie feststeht, steht auch der Wert der Punkte fest, um nach Art. 73 die Bemessungsgrundlage zu bestimmen. Dies genügt dann ausdrücklich auch nach Art. 73a („unbeschadet des Art. 73“).
52. Folglich kann entgegen der Stellungnahme der Kommission aus dem Wortlaut von Art. 73a der Mehrwertsteuerrichtlinie nicht abgeleitet werden, dass ein Gutschein nur vorliegt, wenn der Wert des Gutscheins bei Ausgabe des Gutscheins in einem feststehenden Preis ausgedrückt wird. Vielmehr liegt ein (Mehrzweck‑) Gutschein auch dann vor, wenn er auf eine noch ungewisse Sachprämie gerichtet ist und der Wert der Prämie erst im Moment der Auswahl der Prämie durch den Kunden feststeht.
53. Dass der genaue Inhalt der Lieferung bis dahin noch nicht feststeht, ist ebenfalls unschädlich, da ein Mehrzweck-Gutschein im Sinne von Art. 30a Nr. 3 der Mehrwertsteuerrichtlinie gerade durch eine solche Ungewissheit geprägt ist. Diese Ungewissheit wird hingenommen (und kann ohne Weiteres hingenommen werden), weil nach Art. 30b Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie erst die tatsächliche Übergabe der Gegenstände, für die der Lieferer der Gegenstände einen Mehrzweck-Gutschein als Gegenleistung annimmt, der Mehrwertsteuer unterliegt. Spätestens in diesem Moment stehen sowohl der Gegenstand als auch dessen Wert und damit der Wert des Gutscheins fest. Demgegenüber unterliegt jede vorangegangene Übertragung (und auch die Ausgabe) dieses Mehrzweck-Gutscheins nicht der Mehrwertsteuer, weswegen die angesprochene Ungewissheit unschädlich ist.
54. Folglich wären hier die Punkte, wenn sie einen selbständigen Anspruch auf eine bestimmbare Prämie beinhalten würden, als Gutschein zu betrachten. Steht die Prämie noch nicht fest (und kann daher z. B. der zutreffende Steuersatz nicht bestimmt werden), läge ein Mehrzweck-Gutschein vor, dessen Ausgabe noch keine mehrwertsteuerrechtlichen Folgen auslöst. Erst die Einlösung der Punkte wäre eine Lieferung (der Prämie) gegen Entgelt (in Gestalt des Gutscheins). Bei dieser Einlösung würde sich der Wert des Gutscheins zeigen und anhand der gewählten Prämie bestimmen lassen. Mit der Einlösung wäre dann die Lieferung der Prämie zu besteuern. Korrespondierend dazu würde diese Einlösung dann (erst) die Bemessungsgrundlage des Kaufs mindern, bei dem die Punkte miterworben wurden.
3. Die Behandlung der nicht eingelösten Punkte
55. Mit diesem Ergebnis wäre aber noch nicht entschieden, wie mit den nicht eingelösten Punkten seitens Lyko umzugehen wäre, wenn diese Punkte als Gutschein zu betrachten wären.
56. Bei einem normalen Mehrzweck-Gutschein, der entgeltlich erworben wird, einen bestimmten Preis verkörpert, aber nie eingelöst wird, hat die Regelung von Art. 30b der Mehrwertsteuerrichtlinie zur Folge, dass gar keine Mehrwertbesteuerung eintritt. Dies ist insofern konsequent, weil der Kunde zwar finanzielle Aufwendungen tätigt, aber kein Umsatz ausgeführt wird. Die bloße Möglichkeit der Inanspruchnahme des Gutscheins genügte dem Richtliniengeber offenbar nicht, um bereits einen steuerbaren und steuerpflichtigen Vorgang anzunehmen.
57. Eine Rabattierung des ersten oder des zweiten Einkaufs hingegen würde nur dann eine geringere Besteuerung zur Folge haben, wenn sie auch in Anspruch genommen wird. Das ist konsequent, denn bis zur Inanspruchnahme hat der Kunde einen bestimmten Betrag für eine Lieferung oder sonstige Leistung aufgewendet und der Steuerpflichtige einen bestimmten Betrag dafür erhalten.
58. Ein Mehrzweck-Gutschein, der keinen bestimmten, sondern nur einen bestimmbaren Wert verkörpert, bewegt sich zwischen einem bestimmten Mehrzweckgutschein und einer Rabattierung. Eine sachgerechte Mehrwertbesteuerung kann aber erfolgen, ohne dass der Gutscheinbegriff eingeschränkt werden müsste.
59. Denn ein Mehrzweck-Gutschein, der keinen bestimmten, sondern nur einen bestimmbaren Wert verkörpert, kann auch unter Geltung der Art. 30a und 30b der Mehrwertsteuerrichtlinie erst dann mehrwertsteuerrechtliche Folgen auslösen, wenn dieser bestimmbare Wert sich konkretisiert. Erfolgt dies erst im Moment der Einlösung, dann hat dieser Gutschein bis dahin keine Auswirkung, auch nicht auf die Bemessungsgrundlage des ersten Kaufs.
60. Sollten die Punkte daher nicht eingelöst werden, bleibt die Bemessungsgrundlage des ersten Kaufs sowohl aus Sicht des Verkäufers – er hat einen bestimmten Betrag für die Waren erhalten – als auch aus Sicht des Kunden – er hat einen bestimmten Betrag für die erhaltenen Waren ausgegeben – unverändert und ist in voller Höhe zu versteuern. Eine Aufteilung dieser Bemessungsgrundlage (in einen besteuerten Teil für die Waren und einen nicht besteuerten Teil für den Gutschein) kommt bei der Ausgabe eines Gutscheins mit einem nur bestimmbaren Wert (im Unterschied zur Ausgabe eines Mehrzweck-Gutscheins mit einem bestimmten Wert) nicht in Betracht, da der bestimmbare Wert eines Gutscheins ohne seine Einlösung nicht feststellbar ist.
61. Gleiches würde gelten, wenn man nicht von einem Gutschein ausginge. Dann wären die Punkte lediglich die Möglichkeit einer Art Preisnachlass, die sich steuerrechtlich erst auswirkt, wenn dieser Preisnachlass in Anspruch genommen wird. Dies wäre aber erst beim zweiten Kauf der Fall.
62. Letzteres zeigt sich deutlich in Art. 79 der Mehrwertsteuerrichtlinie, der gewährte Rabatte aus der Bemessungsgrundlage der Mehrwertsteuer herausfallen lässt. Die Punkte selbst sind aber noch kein gewährter Rabatt, sondern nur eine Rabattmöglichkeit. Ein Preisnachlass nach Ausführung des Umsatzes (hier des ersten Kaufs) führt zwar nach Art. 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie zu einer Verminderung der Bemessungsgrundlage, setzt aber auch die Durchführung des Preisnachlasses voraus. Dies würde erst mit Einlösung der Punkte, mithin dem Erhalt der Prämie, der Fall sein.(16)
C. Zur zweiten Vorlagefrage
63. Da die Antwort auf die erste Frage ergibt, dass im vorliegenden Fall die Ausgabe der Punkte, die erst zusammen mit einem weiteren Einkauf für eine Prämie eingelöst werden können, keinen Gutschein im Sinne von Art. 30a der Mehrwertsteuerrichtlinie darstellt, sondern vielmehr als ein bloßer Preisnachlass zu betrachten ist, braucht die zweite Frage nicht mehr beantwortet zu werden.
VI. Ergebnis
64. Ich schlage daher vor, auf die Vorlagefragen des Högsta Förvaltningsdomstol (Oberstes Verwaltungsgericht, Schweden) wie folgt zu antworten:
Die Ausgabe von Punkten im Rahmen eines Kundentreueprogramms, das so ausgestaltet ist, dass ein Kunde, der Gegenstände kauft, Punkte in Abhängigkeit von der Höhe des Einkaufs erhält und danach in Verbindung mit einem künftigen Kauf berechtigt ist, die Punkte zu nutzen, um weitere Gegenstände aus dem Sortiment des Verkäufers zu erhalten, stellt keinen Gutschein im Sinne von Art. 30a der Richtlinie 2006/112 dar. Es fehlt an der (eigenständigen) Verpflichtung, diese Punkte als Gegenleistung für eine Lieferung eines Gegenstandes anzunehmen. Daher stellt ein solches Punktesystem nur einen Preisnachlass bezüglich des künftigen Kaufs dar.
1 Originalsprache: Deutsch.
2 Terra, B. J. M./Terra, E. T., The value of the voucher directive on the EU VAT treatment of vouchers, World Journal of VAT/GST Law, 2017, S. 27 (33).
3 Richtlinie (EU) 2016/1065 des Rates vom 27. Juni 2016 zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG hinsichtlich der Behandlung von Gutscheinen (im Folgenden: Gutscheinrichtlinie) (ABl. 2016, L 177, S. 9).
4 Urteile vom 18. April 2024, Finanzamt O (Einzweck-Gutschein) (C‑68/23, EU:C:2024:342), und vom 28. April 2022, DSAB Destination Stockholm (C‑637/20, EU:C:2022:304). Anhängig ist neben dem vorliegenden Verfahren noch die Rechtssache C‑472/24.
5 Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der für den streitigen Zeitraum geltenden Fassung. Die angesprochenen Artikel wurden durch bereits erwähnte Gutscheinrichtlinie eingefügt.
6 Im Schrifttum finden sich solche Aussagen: „However, the good news for taxable persons is that an SPV (single-purpose voucher) can easily be turned into an MPV (multi-purpose voucher) by adding an element of uncertainty to the VAT treatment of the (potential) supplies envisaged. By turning an SPV into an MPV, taxable persons can at the very last obtain a cash flow advantage and potentially a true saving if the MPV is not redeemed.“ – Terra, B. J. M./Terra, E. T., The value of the voucher directive on the EU VAT treatment of vouchers, World Journal of VAT/GST Law, 2017, S. 27 (34).
Einzweck-Gutscheine werden in der Praxis nach Möglichkeit vermieden. Siehe nur: Wille, P., New VAT Rules for Vouchers, International VAT Monitor 2019, S. 5 (6): „MPVs should hopefully give rise to fewer problems.“
7 Urteil vom 28. April 2022, DSAB Destination Stockholm (C‑637/20, EU:C:2022:304, Rn. 20 und 21). Zum Einzweck-Gutschein siehe: Urteil vom 18. April 2024, Finanzamt O (Einzweck-Gutschein) (C‑68/23, EU:C:2024:342, Rn. 36).
8 So ähnlich auch schon Urteil vom 27. März 1990, Boots Company (C‑126/88, EU:C:1990:136, Rn. 12 und 13).
9 Urteil vom 18. April 2024, Finanzamt O (Einzweck-Gutschein) (C‑68/23, EU:C:2024:342, Rn. 55).
10 Urteil vom 27. April 1999 (C‑48/97, EU:C:1999:203, Rn. 30 ff.).
11 Meine Schlussanträge in der Rechtssache Financial Bulgaria (C‑744/23, EU:C:2025:332, Nrn. 49 und 50).
12 Urteil vom 10. November 2016 (C‑432/15, EU:C:2016:855, Rn. 36).
13 So bereits meine Schlussanträge in der Rechtssache Financial Bulgaria (C‑744/23, EU:C:2025:332, Nrn. 62 ff.).
14 Ausdrücklich Urteil vom 8. Mai 2024, Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Warszawie (Gegenleistung in Aktien) (C‑241/23, EU:C:2024:392, Rn. 22), ähnlich auch Urteil vom 19. Dezember 2012, Orfey (C‑549/11, EU:C:2012:832, Rn. 36).
15 Urteile vom 8. Mai 2024, Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Warszawie (Gegenleistung in Aktien) (C‑241/23, EU:C:2024:392, Rn. 23), vom 10. Januar 2019, A (C‑410/17, EU:C:2019:12, Rn. 35), vom 19. Dezember 2012, Orfey (C‑549/11, EU:C:2012:832, Rn. 36), und vom 3. Juli 1997, Goldsmiths (C‑330/95, EU:C:1997:339, Rn. 23).
16 Ebenso Urteil des deutschen Bundesfinanzhofs vom 16. Januar 2020 – V R 42/17 ‑, BFHE 268, 287, BStBl. II 2020, 361 noch zur alten Rechtslage im Unionsrecht.