EuGH: Tätigkeit der Verwaltung und Bereitstellung von Straßenanlagen gegen Zahlung einer Maut
EuGH, Urteil vom 19.1.2017 – C-344/15, National Roads Authority gegen The Revenue Commissioners
ECLI:EU:C:2017:28
Volltext:BB-ONLINE BBL2017-213-3
Tenor
Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass eine Einrichtung des öffentlichen Rechts, die eine Tätigkeit ausübt, die darin besteht, Zugang zu einer Straße gegen Zahlung einer Maut zu gewähren, in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens nicht als mit den privaten Betreibern im Wettbewerb stehend anzusehen ist, die Mautgebühren auf anderen mautpflichtigen Straßen gemäß einem Vertrag mit der betreffenden Einrichtung des öffentlichen Rechts nach nationalen Rechtsvorschriften erheben.
Aus den Gründen
1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der National Roads Authority (Nationale Straßenbehörde, Irland, im Folgenden: NRA) und den Revenue Commissioners (Steuerverwaltung, Irland) wegen der Mehrwertsteuerpflichtigkeit der NRA im Rahmen ihrer Tätigkeit der Bereitstellung von Straßenanlagen gegen Zahlung einer Maut.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3
Die Mehrwertsteuerrichtlinie hat mit Wirkung vom 1. Januar 2007 die Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. 1977, L 145, S. 1, im Folgenden: Sechste Richtlinie) aufgehoben und ersetzt. Nach den Erwägungsgründen 1 und 3 der Mehrwertsteuerrichtlinie war eine Neufassung der Sechsten Richtlinie erforderlich, um durch eine Überarbeitung von Struktur und sprachlicher Fassung, jedoch grundsätzlich ohne Änderung des Inhalts für Klarheit und Wirtschaftlichkeit sämtlicher anwendbaren Bestimmungen zu sorgen.
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Da Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 1 bis 3 der Mehrwertsteuerrichtlinie Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 1 bis 3 der Sechsten Richtlinie inhaltlich entspricht, ist die vom Gerichtshof hinsichtlich der zweitgenannten Bestimmung vorgenommene Auslegung auf die erstgenannte Bestimmung zu erstrecken.
5
Art. 2 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:
a) Lieferungen von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt tätigt;
…
c) Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt erbringt;
…“
6
In Art. 9 dieser Richtlinie heißt es:
„(1) Als ‚Steuerpflichtiger‘ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt.
Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit‘ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.
…“
7
Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie lautet:
„Staaten, Länder, Gemeinden und sonstige Einrichtungen des öffentlichen Rechts gelten nicht als Steuerpflichtige, soweit sie die Tätigkeiten ausüben oder Umsätze bewirken, die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen, auch wenn sie im Zusammenhang mit diesen Tätigkeiten oder Umsätzen Zölle, Gebühren, Beiträge oder sonstige Abgaben erheben.
Falls sie solche Tätigkeiten ausüben oder Umsätze bewirken, gelten sie für diese Tätigkeiten oder Umsätze jedoch als Steuerpflichtige, sofern eine Behandlung als Nichtsteuerpflichtige zu größeren Wettbewerbsverzerrungen führen würde.
Die Einrichtungen des öffentlichen Rechts gelten in Bezug auf die in Anhang I genannten Tätigkeiten in jedem Fall als Steuerpflichtige, sofern der Umfang dieser Tätigkeiten nicht unbedeutend ist.“
Irisches Recht
Value Added Tax Act, 1972
8
Section 8(2A) des Value Added Tax Act, 1972 (Mehrwertsteuergesetz von 1972) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz) lautet:
„Unbeschadet von Section 2 gelten der Staat und öffentliche Einrichtungen in Bezug auf Tätigkeiten oder Umsätze nicht als Steuerpflichtige, die als solche handeln, wenn diese Tätigkeiten oder Umsätze von ihnen in oder eng verbunden mit der Ausübung besonderer Rechte oder Befugnisse, die dem Staat oder einer solchen öffentlichen Einrichtung durch Rechtsvorschrift übertragen wurden, ausgeübt oder bewirkt werden, es sei denn,
(a) die betreffende Tätigkeit ist in Anhang I (wiedergegeben in Anhang 7) der [Mehrwertsteuerrichtlinie] aufgeführt und wird vom Staat oder der öffentlichen Einrichtung in mehr als unbedeutendem Umfang ausgeübt oder
(b) es würde eine größere Wettbewerbsverzerrung verursachen oder wahrscheinlich verursachen, wenn der Staat oder die öffentliche Einrichtung in Bezug auf diese Tätigkeit oder den betreffenden Umsatz nicht als Steuerpflichtige behandelt würde.“
Roads Act, 1993
9
Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht hervor, dass die NRA eine nach dem Roads Act, 1993 (Straßengesetz von 1993, im Folgenden: Straßengesetz) geschaffene Einrichtung des irischen öffentlichen Rechts ist, die mit der Verwaltung des nationalen öffentlichen Straßennetzes beauftragt ist.
10
Nach Section 17(1) des Straßengesetzes besteht die Hauptaufgabe der NRA darin, die Verfügbarkeit eines sicheren und effizienten Netzes von Nationalstraßen zu gewährleisten. Sie hat die Gesamtverantwortung für Planung und Überwachung von Bau und Unterhaltung der Nationalstraßen.
11
Hierzu kann die NRA nach Section 57 dieses Gesetzes eine Regelung zur Einführung eines Mautsystems für die Benutzung einer Nationalstraße ausarbeiten.
12
Section 58 des Straßengesetzes bestimmt im Wesentlichen, dass die NRA für die Benutzung einer mautpflichtigen Straße Mautgebühren in einer Höhe verlangen und erheben kann, die in den von ihr erlassenen Verordnungen vorgesehen ist.
13
Nach Section 61 dieses Gesetzes ist die NRA dafür verantwortlich, von ihr für zweckmäßig erachtete Verordnungen für den Betrieb und die Verwaltung einer mautpflichtigen Straße zu erlassen.
14
Nach Section 63 des Straßengesetzes hat die NRA auch die rechtliche Befugnis, Verträge mit Dritten zu schließen, durch die sie diesen die Erhebung von Mautgebühren für eine mautpflichtige Straße gestattet. Der Höchstbetrag der Mautgebühren, der für die Benutzung einer mautpflichtigen Straße – unabhängig davon, ob sie von der NRA oder von einem Dritten betrieben wird – erhoben werden darf, wird in einer Verordnung festgelegt, die die NRA zu diesem Zweck erlässt.
15
Außerdem müssen Verträge, die zwischen der NRA und einem Dritten nach Section 63 des Straßengesetzes geschlossen werden, verschiedene in dieser Bestimmung genannte Anforderungen erfüllen. So muss der Dritte mindestens eine der folgenden Verpflichtungen übernehmen: i) anteilige oder vollständige Tragung der Bau- und/oder Unterhaltungskosten der Straße, ii) Bau und/oder Unterhaltung (oder Beteiligung an oder Unterstützung bei Bau und/oder Unterhaltung) der Straße und iii) Betrieb und Verwaltung der Straße für die NRA (einschließlich der Bereitstellung, der Überwachung und des Betriebs eines Mautsystems und der Mauterhebung für die Benutzung der Straße).
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
16
Aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten ergibt sich, dass die meisten mautpflichtigen Straßen in Irland von privaten Betreibern im Rahmen von mit der NRA geschlossenen Vereinbarungen über öffentlich-private Partnerschaften gebaut wurden und betrieben werden.
17
Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts gibt es derzeit acht mautpflichtige Straßen in Irland, die von privaten Betreibern betrieben werden und deren Mautgebühren der Mehrwertsteuer unterliegen. Für jede dieser mautpflichtigen Straßen erließ die NRA sowohl eine Mautregelung als auch Verordnungen, die den Höchstbetrag festlegten, der für die Benutzung der jeweiligen mautpflichtigen Straßen erhoben werden darf. Zwei mautpflichtige Straßen, nämlich die Westlink-Autobahn und der Dublin-Tunnel, werden von der NRA selbst betrieben.
18
Was konkret die Westlink-Autobahn betrifft, geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass diese früher von einem privaten Betreiber auf der Grundlage eines Vertrags mit der NRA betrieben wurde. Als zusätzliche Investitionen für die Modernisierung der Westlink-Autobahn erforderlich waren, um die Flüssigkeit des Verkehrs sicherzustellen, der private Betreiber zu diesen Investitionen aber ohne weitere Zusagen der NRA nicht bereit war, handelte diese die Aufhebung des betreffenden Vertrags aus, übernahm den Betrieb der genannten Autobahn und installierte ein elektronisches Mautsystem.
19
Ab Juli 2010 unterwarf die Steuerverwaltung die NRA hinsichtlich ihrer Tätigkeit der Bereitstellung der beiden von ihr betriebenen mautpflichtigen Straßen der Mehrwertsteuer und begründete dies damit, dass ihre Behandlung als Nichtsteuerpflichtige zu größeren Wettbewerbsverzerrungen im Sinne von Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie führen würde.
20
Die NRA entrichtete die Mehrwertsteuer, der sie somit unterworfen worden war, und behandelte zu diesem Zweck den als Maut erhobenen Betrag so, als ob er die Mehrwertsteuer enthalte. Sie stellte jedoch die Richtigkeit ihrer Behandlung als Steuerpflichtige in Abrede und war der Ansicht, dass sie nach Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie von der Mehrwertsteuer befreit sein müsse, und legte deshalb einen Rechtsbehelf bei den Appeal Commissioners (Rechtsbehelfsinstanz in Zoll- und Steuersachen, Irland) ein.
21
Die Steuerverwaltung macht vor dem vorlegenden Gericht geltend, dass Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie im Licht des Urteils vom 16. September 2008, Isle of Wight Council u. a. (C-288/07, EU:C:2008:505), dahin auszulegen sei, dass eine Vermutung für das Bestehen einer Wettbewerbsverzerrung gelte, selbst wenn die betreffenden Tätigkeiten nicht miteinander im Wettbewerb stünden. Sobald zwei Tätigkeiten gleichartig seien, gelte nämlich die unwiderlegliche Vermutung, dass die Behandlung der einen als steuerpflichtig und der anderen als nicht steuerpflichtig zu einem Verstoß gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität und zu größeren Wettbewerbsverzerrungen führe.
22
Das vorlegende Gericht führt aus, die NRA sei prima facie nicht als Steuerpflichtige anzusehen, da sie unstreitig eine Einrichtung des öffentlichen Rechts sei, die hinsichtlich der Tätigkeit der Bereitstellung von Straßenanlagen gegen Zahlung einer Maut im Rahmen der öffentlichen Gewalt handele. Die NRA dürfte demnach nicht verpflichtet werden, Mehrwertsteuer auf diese Tätigkeit anzuwenden.
23
Zudem dienten erstens die verschiedenen mautpflichtigen Straßen Irlands, da sie weit genug voneinander entfernt seien, aus der Sicht der Verbraucher unterschiedlichen Bedürfnissen und stünden daher nicht miteinander im Wettbewerb. Die Höhe der von einem Betreiber – gleich, ob es sich dabei um die NRA oder einen privaten Betreiber handele – verlangten Maut wirke sich daher nicht auf die Entscheidung des Durchschnittsverbrauchers aus, eine mautpflichtige Straße anstatt einer anderen solchen Straße zu benutzen.
24
Zweitens bestehe für einen privaten Betreiber keine realistische Möglichkeit, in den Markt zur Erbringung mautpflichtiger Straßendienstleistungen einzutreten, indem er eine mautpflichtige Straße baue, die mit der Westlink-Autobahn oder dem Dublin-Tunnel in Wettbewerb trete.
25
Ein privater Betreiber könne in diesen Markt nämlich nur unter der Voraussetzung eintreten, dass die NRA eine Mautregelung für eine öffentliche Straße erlasse, so dass diese zu einer mautpflichtigen Straße werde, hinsichtlich dieser Straße Verordnungen erlasse und dann einen Vertrag mit dem privaten Betreiber abschließe, aufgrund dessen er die Mautgebühren erheben dürfe.
26
Darüber hinaus sei es als erwiesen anzusehen, dass für einen privaten Betreiber, der eine private mautpflichtige Straße bauen möchte, in der Praxis nahezu unüberwindbare Schwierigkeiten bestünden. Zum einen sei es nämlich einem privater Betreiber, der, obwohl für einen solchen Bau sehr große Flächen benötigt würden, anders als die NRA über keine Enteignungsbefugnisse verfüge, nicht möglich, Grundeigentümer zu verpflichten, ihm zum Zweck des Baus einer solchen Straße private Grundstücke zu verkaufen. Zum anderen sei es unter Berücksichtigung der Investition, die ein solcher Bau bedeuten könne, keineswegs erwiesen, dass ein privater Betreiber bereit sei, eine solche Investition zu tätigen, um mit einer bereits bestehenden mautpflichtigen Straße in Wettbewerb zu treten.
27
Schließlich habe die Steuerverwaltung auch nicht nachgewiesen, dass eine realistische Möglichkeit für den Eintritt eines privaten Betreibers in diesen Markt bestehe.
28
Wegen des in Rn. 21 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Vorbringens der Steuerverwaltung stellt sich das vorlegende Gericht jedoch die Frage, ob die von der NRA und die von den privaten Betreibern durchgeführte Tätigkeit der Erhebung von Mautgebühren als gleichartige und somit als miteinander im Wettbewerb stehende Tätigkeiten anzusehen seien, so dass davon auszugehen sei, dass die Behandlung der NRA als Nichtsteuerpflichtige zu größeren Wettbewerbsverzerrungen im Sinne von Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie führen würde.
29
Unter diesen Umständen haben die Appeal Commissioners (Rechtsbehelfsinstanz in Zoll- und Steuersachen) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Wenn eine Einrichtung des öffentlichen Rechts eine Tätigkeit wie die Gewährung des Zugangs zu einer Straße gegen Zahlung einer Mautgebühr ausführt und es in dem Mitgliedstaat private Einrichtungen gibt, die Mautgebühren an verschiedenen mautpflichtigen Straßen aufgrund eines Vertrags mit der betreffenden öffentlichen Einrichtung nach nationalen Rechtsvorschriften erheben, ist Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie dann dahin auszulegen, dass die betreffende öffentliche Einrichtung und die betreffenden privaten Betreiber als miteinander im Wettbewerb stehend angesehen werden müssen, so dass davon ausgegangen werden muss, dass eine Behandlung der öffentlichen Einrichtung als Nichtsteuerpflichtige zu einer größeren Wettbewerbsverzerrung führt, obwohl es a) keinen tatsächlichen Wettbewerb zwischen der betreffenden öffentlichen Einrichtung und den betreffenden privaten Betreibern gibt und geben kann und b) keinen Beleg dafür gibt, dass eine realistische Möglichkeit besteht, dass ein privater Betreiber in den Markt eintreten könnte, um eine mautpflichtige Straße zu bauen und zu betreiben, die mit der von der öffentlichen Einrichtung betriebenen mautpflichtigen Straße im Wettbewerb stehen würde?
2. Falls es keine Vermutung gibt, welche Prüfung ist dann vorzunehmen, um zu klären, ob eine größere Verzerrung des Wettbewerbs im Sinne von Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorliegt?
Zu den Vorlagefragen
Vorbemerkungen
30
Die Europäische Kommission führt aus, dass sie trotz der dahin gehenden Feststellung des vorlegenden Gerichts nicht zweifelsfrei bestimmen könne, ob davon auszugehen sei, dass die NRA im Rahmen des Betriebs der beiden im Ausgangsverfahren in Rede stehenden mautpflichtigen Straßen und der Erhebung der Maut im Rahmen der öffentlichen Gewalt gehandelt habe.
31
Hierzu ist zum einen darauf hinzuweisen, dass es der Verantwortung des nationalen Gerichts unterliegt, den rechtlichen und tatsächlichen Rahmen des ihm unterbreiteten Rechtsstreits festzulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. September 2016, Radgen, C-478/15, EU:C:2016:705, Rn. 27 und 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).
32
Zum anderen ist es im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten nach Art. 267 AEUV allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der bei ihm anhängigen Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen. Damit haben auch nur die innerstaatlichen Gerichte zu bestimmen, welche Fragen dem Gerichtshof vorzulegen sind; die Parteien können die Fragen inhaltlich nicht ändern (Urteil vom 16. Oktober 2014, Welmory, C-605/12, EU:C:2014:2298, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).
33
Im vorliegenden Fall ist dem Vorabentscheidungsersuchen zu entnehmen, dass das vorlegende Gericht unzweideutig davon ausgeht, dass die NRA im Ausgangsrechtsstreit im Rahmen der öffentlichen Gewalt handelt, wenn sie die Tätigkeit der Bereitstellung von Straßenanlagen gegen Zahlung einer Maut ausführt.
34
Unter diesen Umständen hat der Gerichtshof von der Prämisse auszugehen, dass die NRA – eine Einrichtung des öffentlichen Rechts – bei ihrer Tätigkeit der Bereitstellung der betreffenden Straßenanlage gegen Zahlung einer Maut im Rahmen der öffentlichen Gewalt handelt und dass diese Tätigkeit daher als in den Anwendungsbereich von Art. 13 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie fallend anzusehen ist.
Zu den Vorlagefragen
35
Mit seinen beiden Vorlagefragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass eine Einrichtung des öffentlichen Rechts, die eine Tätigkeit ausübt, die darin besteht, Zugang zu einer Straße gegen Zahlung einer Maut zu gewähren, in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens als mit den privaten Betreibern im Wettbewerb stehend anzusehen ist, die Mautgebühren auf anderen mautpflichtigen Straßen gemäß einem Vertrag mit der betreffenden Einrichtung des öffentlichen Rechts nach nationalen Rechtsvorschriften erheben.
36
Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht eine Einschränkung der in Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 1 dieser Richtlinie aufgestellten Regel vor, dass Einrichtungen des öffentlichen Rechts in Bezug auf Tätigkeiten oder Umsätze, die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen, als Nichtmehrwertsteuerpflichtige behandelt werden. Somit soll die erstgenannte Bestimmung die in Art. 2 Abs. 1 und Art. 9 der Richtlinie enthaltene Grundregel wieder aufleben lassen, wonach jede wirtschaftliche Tätigkeit grundsätzlich der Mehrwertsteuer unterliegt, und darf daher nicht eng ausgelegt werden (vgl. entsprechend Urteil vom 4. Juni 2009, SALIX Grundstücks-Vermietungsgesellschaft, C-102/08, EU:C:2009:345, Rn. 67 bis 68).
37
Dies kann jedoch nicht bedeuten, dass Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie so auszulegen ist, dass die in Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 1 dieser Richtlinie vorgesehene Ausnahme von der Behandlung als Mehrwertsteuerpflichtige zugunsten der Einrichtungen des öffentlichen Rechts, die im Rahmen der öffentlichen Gewalt tätig werden, keine praktische Wirksamkeit hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. November 2003, Taksatorringen, C-8/01, EU:C:2003:621, Rn. 61 bis 62, und vom 25. März 2010, Kommission/Niederlande, C-79/09, nicht veröffentlicht, EU:C:2010:171, Rn. 49).
38
Nach Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie gelten diese Einrichtungen, soweit sie Tätigkeiten ausüben oder Umsätze bewirken, die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen, als Steuerpflichtige, sofern eine Behandlung als Nichtsteuerpflichtige zu größeren Wettbewerbsverzerrungen führen würde.
39
Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu dieser Bestimmung ergibt sich erstens, dass damit auf den Fall abgestellt wird, dass diese Einrichtungen Tätigkeiten ausüben, die – im Wettbewerb mit ihnen – auch von privaten Wirtschaftsteilnehmern ausgeübt werden können. Damit soll gewährleistet werden, dass Letztere nicht dadurch benachteiligt werden, dass sie besteuert werden, während dies bei den genannten Einrichtungen nicht der Fall ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. März 2010, Kommission/Niederlande, C-79/09, nicht veröffentlicht, EU:C:2010:171, Rn. 90 und die dort angeführte Rechtsprechung).
40
Zweitens hat diese Einschränkung der Regel, dass Einrichtungen des öffentlichen Rechts, die im Rahmen der öffentlichen Gewalt tätig werden, als Nichtmehrwertsteuerpflichtige behandelt werden, nur Eventualcharakter. Ihre Anwendung verlangt eine Beurteilung wirtschaftlicher Faktoren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Oktober 1989, Comune di Carpaneto Piacentino u. a., 231/87 und 129/88, EU:C:1989:381, Rn. 32).
41
Drittens ist die Frage, ob die Behandlung von Einrichtungen des öffentlichen Rechts, die im Rahmen der öffentlichen Gewalt tätig werden, als Nichtsteuerpflichtige zu größeren Wettbewerbsverzerrungen führen würde, in Bezug auf die fragliche Tätigkeit als solche zu beurteilen, ohne dass sich diese Beurteilung auf einen Markt im Besonderen bezieht, und in Bezug nicht nur auf den gegenwärtigen, sondern auch den potenziellen Wettbewerb, sofern die Möglichkeit für einen privaten Wirtschaftsteilnehmer, in den relevanten Markt einzutreten, real und nicht rein theoretisch ist (Urteile vom 25. März 2010, Kommission/Niederlande, C-79/09, nicht veröffentlicht, EU:C:2010:171, Rn. 91 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 29. Oktober 2015, Saudaçor, C-174/14, EU:C:2015:733, Rn. 74).
42
Die rein theoretische, durch keine Tatsache, kein objektives Indiz und keine Marktanalyse untermauerte Möglichkeit für einen privaten Wirtschaftsteilnehmer, in den relevanten Markt einzutreten, kann nicht mit dem Vorliegen eines potenziellen Wettbewerbs gleichgesetzt werden (Urteil vom 16. September 2008, Isle of Wight Council u. a., C-288/07, EU:C:2008:505, Rn. 64).
43
Wie dem Wortlaut von Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie und der zu dieser Bestimmung ergangenen Rechtsprechung zu entnehmen ist, setzt die Anwendung dieser Bestimmung zum einen voraus, dass die betreffende Tätigkeit im – gegenwärtigen oder potenziellen – Wettbewerb mit einer von privaten Wirtschaftsteilnehmern durchgeführten Tätigkeit ausgeübt wird, und zum anderen, dass die unterschiedliche Behandlung dieser beiden Tätigkeiten in mehrwertsteuerlicher Hinsicht zu größeren Wettbewerbsverzerrungen führt, die unter Berücksichtigung wirtschaftlicher Faktoren zu beurteilen sind.
44
Hieraus ergibt sich, dass das bloße Vorhandensein privater Wirtschaftsteilnehmer auf einem Markt ohne Berücksichtigung von Tatsachen, objektiven Indizien und einer Analyse dieses Marktes weder das Bestehen eines gegenwärtigen oder potenziellen Wettbewerbs noch das Vorliegen einer größeren Wettbewerbsverzerrung belegen kann.
45
Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten, dass die Hauptaufgabe der NRA darin besteht, die Verfügbarkeit eines sicheren und effizienten Netzes von Nationalstraßen zu gewährleisten. Zu diesem Zweck hat sie die Gesamtverantwortung für die Planung und den Bau aller Nationalstraßen sowie die Überwachung der Arbeiten zum Bau und zur Unterhaltung dieser Straßen. Hierzu kann nur sie eine Regelung zur Einführung eines Mautsystems für die Benutzung einer Nationalstraße ausarbeiten und von ihr für zweckmäßig erachtete Verordnungen für deren Betrieb und Verwaltung erlassen, die den Höchstbetrag der Mautgebühren festlegen, der für die Benutzung einer mautpflichtigen Straße – unabhängig davon, ob sie von der NRA oder von einem privaten Betreiber betrieben wird – erhoben werden darf.
46
Den Akten ist ferner zu entnehmen, das private Betreiber nur dann in den Markt der Bereitstellung von Straßenanlagen gegen Zahlung einer Maut eintreten können, wenn die NRA ihnen hierfür eine Genehmigung erteilt. Außerdem ändert der Umstand, dass ein privater Betreiber mit der Verwaltung einer Nationalstraße betraut worden ist, nichts daran, dass die Letztverantwortung hinsichtlich der Nationalstraßen stets bei der NRA verbleibt, so dass sie verpflichtet ist, das ordnungsgemäße Funktionieren dieser Straßen zu gewährleisten, wenn der private Betreiber seinen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen will oder dies nicht mehr kann.
47
In diesem Zusammenhang sah, was die Westlink-Autobahn betrifft, der Vertrag zwischen der NRA und dem privaten Betreiber vor, dass dieser die Maut mittels eines konventionellen Schrankensystems erhebt. Der Übergang von einer beschrankten Mautstelle zu einem schrankenlosen elektronischen Mautsystem, der erforderlich wurde, um einen flüssigeren Verkehr auf dieser Autobahn zu gewährleisten, erforderte jedoch eine bedeutende Investition und bedeutete das Eingehen eines der Errichtung eines schrankenlosen Mautsystems innewohnenden Risikos. Da der private Betreiber zu einer solchen Investition ohne weitere Zusagen der NRA nicht bereit war, verhandelte diese die Aufhebung des Vertrags, übernahm im August 2008 wieder den Betrieb der Westlink-Autobahn und installierte im öffentlichen Interesse an der Sicherstellung eines flüssigen Verkehrs ein elektronisches Mautsystem.
48
Unter diesen Umständen wird die Tätigkeit der Bereitstellung von Straßenanlagen gegen Zahlung einer Maut, die sich also nicht auf die Erhebung von Mautgebühren beschränkt, ausschließlich von der NRA zu Bedingungen ausgeführt, die geeignet sind, die Verfügbarkeit eines sicheren und effizienten Netzes von Nationalstraßen unter allen Umständen zu gewährleisten. Dadurch übernimmt diese Einrichtung, von sich aus oder im Fall eines Rückzugs des privaten Betreibers, unter Beachtung besonderer rechtlicher Verpflichtungen, denen nur sie unterliegt, die Aufgaben des Betriebs und der Unterhaltung dieses Netzes.
49
Darüber hinaus steht fest, dass es keine tatsächliche Möglichkeit für einen privaten Betreiber gibt, in den betreffenden Markt einzutreten, indem er eine Straße baut, die mit den bereits bestehenden Nationalstraßen in Wettbewerb treten könnte.
50
Unter diesen Umständen übt die NRA ihre Tätigkeit der Bereitstellung von Straßenanlagen gegen Zahlung einer Maut im Rahmen der eigens für sie geltenden rechtlichen Regelung aus. Daher kann – wie auch das vorlegende Gericht festgestellt hat –, nicht davon ausgegangen werden, dass diese Tätigkeit im Wettbewerb mit der Tätigkeit der privaten Betreiber ausgeübt wird, die darin besteht, Mautgebühren auf anderen mautpflichtigen Straßen gemäß einem Vertrag mit der NRA nach nationalen Rechtsvorschriften zu erheben. Zudem liegt entsprechend der in Rn. 42 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung auch kein potenzieller Wettbewerb vor, da die Möglichkeit für die privaten Betreiber, die betreffende Tätigkeit unter denselben Bedingungen auszuüben wie die NRA, rein theoretisch ist. Daher ist Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie auf eine Situation, in der – wie in der Ausgangsrechtssache – zwischen der betreffenden Einrichtung des öffentlichen Rechts und den privaten Betreibern kein tatsächlicher – gegenwärtiger oder potenzieller – Wettbewerb besteht, nicht anwendbar.
51
Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass eine Einrichtung des öffentlichen Rechts, die eine Tätigkeit ausübt, die darin besteht, Zugang zu einer Straße gegen Zahlung einer Maut zu gewähren, in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens nicht als mit den privaten Betreibern im Wettbewerb stehend anzusehen ist, die Mautgebühren auf anderen mautpflichtigen Straßen gemäß einem Vertrag mit der betreffenden Einrichtung des öffentlichen Rechts nach nationalen Rechtsvorschriften erheben.
Kosten
52
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.