EuGH-SA: Steuerbemessungsgrundlage – Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage – Vollständige oder teilweise Nichtbezahlung des Preises nach Bewirkung des Umsatzes – Abweichungsmöglichkeit der Mitgliedstaaten gemäß Art. 90 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie
GAin Kokott, Schlussanträge vom 7.9.2023 – C-314/22; „Consortium Remi Group“ AD gegen Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“ Varna pri Tsentralno upravlenie na Natsionalnata agentsia za prihodite
ECLI:EU:C:2023:656
Volltext BB-Online BBL2023-2134-2
Schlussanträge
1. Art. 90 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem steht einer angemessenen Ausschlussfrist nicht entgegen, wenn diese erst mit oder nach dem Zeitpunkt zu laufen beginnt, zu dem der Steuerpflichtige bei einer vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung des Preises die Steuerbemessungsgrundlage vermindern konnte. Eine Ausschlussfrist ab Leistungserbringung oder Erstellung der Rechnung ist mit Art. 90 dieser Richtlinie jedoch nicht vereinbar. Ohne eine gesetzliche Konkretisierung kann eine solche Ausschlussfrist erst ab dem Zeitpunkt zu laufen beginnen, zu dem die Forderung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit endgültig uneinbringlich geworden ist.
2. Eine Pflicht zur Berichtigung einer richtigen Rechnung als Voraussetzung für eine Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage im Fall einer Nichtbezahlung des Preises verstößt gegen die Richtlinie 2006/112.
3. Für den Zeitpunkt, ab dem ein Steuerpflichtiger im Fall einer vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung nach Art. 90 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 eine Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage zum ersten Mal vornehmen kann, kommt es auf die Gegebenheiten im jeweiligen Mitgliedstaat und die Umstände des Einzelfalls an, welche das vorlegende Gericht zu würdigen hat. Dabei verbietet der Neutralitätsgrundsatz eine unverhältnismäßig lange Vorfinanzierung der Steuer, sofern der Steuerpflichtige (Leistende) die zumutbaren Schritte unternommen hat, um seiner Funktion als Steuereinnehmer für Rechnung des Staates nachzukommen. Letzteres setzt grundsätzlich eine erfolglose Zahlungsaufforderung (Mahnung) des Leistungsempfängers voraus. Nicht notwendig ist aber ein erfolgloser Gerichtsprozess oder die Eröffnung oder der Abschluss eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Leistungsempfängers.
4. Art. 90 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 ist unmittelbar anwendbar, wenn der Mitgliedstaat von der Abweichungsmöglichkeit von Art. 90 Abs. 2 dieser Richtlinie derart verfehlt Gebrauch macht, dass er nicht die Unsicherheit einer endgültigen Nichtbezahlung berücksichtigt, sondern die Verminderung der Bemessungsgrundlage in Gänze ausschließt.
5. Eine gesetzliche Verpflichtung, wonach der Leistende den Leistungsempfänger im Fall von dessen (ganz oder teilweisen) Nichtbezahlung des Preises auf die Änderung der Bemessungsgrundlage hinzuweisen hat, um diesen an eine eventuell noch durchzuführende Änderung des Vorsteuerabzugs zu erinnern, ist mangels Eignung unverhältnismäßig. Daher können sie die Mitgliedstaaten nicht im Rahmen von Art. 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorsehen.
6. Eine Verzinsung des Erstattungsanspruchs aufgrund einer Verringerung der Steuerbemessungsgrundlage kommt frühestens ab dem Zeitpunkt in Betracht, zu dem der Leistende davon ausgehen kann, dass eine Bezahlung nicht mehr erfolgen wird und er dies im Rahmen seiner Steuerveranlagung erklärt hat.
Aus den Gründen
I. Einleitung
1. Im Geschäftsverkehr kommt es immer wieder vor, dass ein Kunde seine Rechnungen nicht pünktlich oder gar nicht begleicht. Dies ist besonders unangenehm für Unternehmen, die Steuerpflichtige im Sinne des Mehrwertsteuerrechts sind. Denn im Mehrwertsteuerrecht schuldet der Steuerpflichtige die Steuer schon, bevor der eigentliche Steuerträger (der Leistungsempfänger) diese an ihn gezahlt hat. Im Ergebnis muss das Unternehmen bis zur Bezahlung durch seinen Kunden die Mehrwertsteuer vorfinanzieren und damit dem Staat ein zinsloses Darlehen gewähren. Im vorliegenden Fall handelt es sich um mehrere nicht bezahlte Rechnungen aus den Jahren 2006 bis 2012.
2. Folglich sehen viele Mitgliedstaaten bei Nichtbezahlung eine entsprechende Berichtigung der bereits entstandenen Mehrwertsteuerschuld des Unternehmens vor. Laut dem vorlegenden Gericht sieht das bulgarische Recht hingegen keine Möglichkeit vor, bei einer vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung die Steuerbemessungsgrundlage zu vermindern. Dies ist nur bei einer Veränderung des Preises der Fall. Für einen Erstattungsanspruch sieht das Steuerrecht darüber hinaus eine allgemeine Verjährungsfrist von fünf Jahren vor.
3. Daher stellt sich für den Gerichtshof hier die Frage, ob das harmonisierte Mehrwertsteuerrecht der Union eine Berichtigungsmöglichkeit verlangt und, wenn ja, ob der Mitgliedstaat diese zeitlich begrenzen kann. Im Fall einer Begrenzung stellt sich die weitere Frage nach dem Zeitpunkt, ab dem diese Frist zu laufen beginnt.
II. Rechtlicher Rahmen
A. Unionsrecht
4. Den unionsrechtlichen Rahmen des Falles liefert die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem(2) (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
5. Art. 63 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
„Steuertatbestand und Steueranspruch treten zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht wird.“
6. Art. 66 Buchst. b enthält eine Ausnahme:
„Abweichend von den Artikeln 63, 64 und 65 können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass der Steueranspruch für bestimmte Umsätze oder Gruppen von Steuerpflichtigen zu einem der folgenden Zeitpunkte entsteht: …
b) spätestens bei der Vereinnahmung des Preises“.
7. Art. 73 der Richtlinie regelt die Steuerbemessungsgrundlage und lautet:
„Bei der Lieferung von Gegenständen und Dienstleistungen, die nicht unter die Artikel 74 bis 77 fallen, umfasst die Steuerbemessungsgrundlage alles, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistungserbringer für diese Umsätze vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger oder einem Dritten erhält oder erhalten soll, einschließlich der unmittelbar mit dem Preis dieser Umsätze zusammenhängenden Subventionen.“
8. Art. 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie regelt die Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage:
„(1) Im Falle der Annullierung, der Rückgängigmachung, der Auflösung, der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung oder des Preisnachlasses nach der Bewirkung des Umsatzes wird die Steuerbemessungsgrundlage unter den von den Mitgliedstaaten festgelegten Bedingungen entsprechend vermindert.
(2) Die Mitgliedstaaten können im Falle der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung von Absatz 1 abweichen.“
9. Art. 184 der Mehrwertsteuerrichtlinie betrifft die Berichtigung des Vorsteuerabzugs und lautet:
„Der ursprüngliche Vorsteuerabzug wird berichtigt, wenn der Vorsteuerabzug höher oder niedriger ist als der, zu dessen Vornahme der Steuerpflichtige berechtigt war.“
10. Art. 185 der Richtlinie erfasst den Fall der Nichtbezahlung und sieht vor:
„(1) Die Berichtigung erfolgt insbesondere dann, wenn sich die Faktoren, die bei der Bestimmung des Vorsteuerabzugsbetrags berücksichtigt werden, nach Abgabe der Mehrwertsteuererklärung geändert haben, zum Beispiel bei rückgängig gemachten Käufen oder erlangten Rabatten.
(2) Abweichend von Absatz 1 unterbleibt die Berichtigung bei Umsätzen, bei denen keine oder eine nicht vollständige Zahlung geleistet wurde, in ordnungsgemäß nachgewiesenen oder belegten Fällen von Zerstörung, Verlust oder Diebstahl sowie bei Entnahmen für Geschenke von geringem Wert und Warenmuster im Sinne des Artikels 16.
Bei Umsätzen, bei denen keine oder eine nicht vollständige Zahlung erfolgt, und bei Diebstahl können die Mitgliedstaaten jedoch eine Berichtigung verlangen.“
11. Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie erfasst die Steuerschuld aufgrund einer unrichtigen Rechnung und lautet:
„Die Mehrwertsteuer wird von jeder Person geschuldet, die diese Steuer in einer Rechnung ausweist.“
12. Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen. …“
B. Bulgarisches Recht
13. Die Mehrwertsteuerrichtlinie wurde in Bulgarien seit dem 1. Januar 2007 durch das Zakon za danaka varhu dobavenata stoynost (Mehrwertsteuergesetz, im Folgenden: ZDDS) umgesetzt. Art. 115 Abs. 1 und 3 ZDDS sieht vor:
„(1) Im Fall einer Änderung der Steuerbemessungsgrundlage eines Umsatzes und im Fall der Rückgängigmachung einer Lieferung, für die eine Rechnung ausgestellt wurde, ist der Lieferer verpflichtet, eine Anzeige zur Rechnung zu erstellen.
(3) Bei einer Erhöhung der Steuerbemessungsgrundlage ist eine Belastungsanzeige zu erstellen, bei einer Minderung der Steuerbemessungsgrundlage oder einer Rückgängigmachung von Umsätzen eine Gutschrift zu erteilen.“
14. In der Danachno-osiguritelen protsesualen kodeks (Steuer- und Sozialversicherungsverfahrensordnung, im Folgenden: DOPK) finden sich Regelungen zu steuerrechtlichen Erstattungsansprüchen. So sieht Art. 129 Abs. 1 DOPK eine Ausschlussfrist für Erstattungsansprüche vor. Nach dieser Bestimmung wird ein Antrag auf Verrechnung oder Erstattung geprüft, wenn er bis zum Ablauf von fünf Jahren ab dem 1. Januar des Jahres gestellt wird, das auf das Jahr der Entstehung des Erstattungsgrundes folgt, sofern nicht im Gesetz etwas anderes vorgesehen ist.
III. Ausgangsrechtsstreit
15. Die „Consortium Remi Group“ AD (im Folgenden: CRG) mit Sitz in Varna (Bulgarien) betreibt den Bau von Gebäuden und Anlagen. Sie wurde 1995 gemäß dem ZDDS registriert, am 7. März 2019 aber wieder ausgetragen, da festgestellt wurde, dass sie systematisch gegen ihre Verpflichtungen aus dem ZDDS verstoßen hatte. Mit Urteil des Varnenski Okrazhen sad (Regionalgericht Varna, Bulgarien) vom 18. September 2020 wurde CRG für zahlungsunfähig erklärt und ein Insolvenzverfahren eröffnet.
16. In den Jahren 2006 bis 2010 und 2012 stellte CRG fünf bulgarischen Gesellschaften Rechnungen für die Lieferung von Gegenständen und die Erbringung von Dienstleistungen aus. In den Rechnungen wurde Mehrwertsteuer ausgewiesen. Die Steuer wurde laut Vorabentscheidungsersuchen für die meisten Steuerzeiträume entrichtet. Der Gesamtbetrag der in diesen Rechnungen ausgewiesenen Mehrwertsteuer beläuft sich auf 618 171 Leva (BGN), was ca. 310 000 Euro entspricht. Mangels näherer Angaben wird unterstellt, dass sich das Vorabentscheidungsersuchen nur auf die von CRG ausgewiesene und auch entrichtete Mehrwertsteuer bezieht.
17. Mit Steuerprüfungsbescheid vom 31. Januar 2011 wurden Verbindlichkeiten von CRG nach dem ZDDS für den Zeitraum vom 1. Januar 2007 bis zum 31. Juli 2010 festgestellt, einschließlich der Mehrwertsteuer, die in den Rechnungen an eine der genannten Gesellschaften ausgewiesen worden war. CRG erhob Klage gegen den Revisionsbescheid, die allerdings mit Urteil des erstinstanzlichen Verwaltungsgerichts abgewiesen wurde. Dessen Entscheidung wurde wiederum mit Urteil des Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht, Bulgarien) bestätigt.
18. Am 7. Februar 2020 beantragte CRG bei den Finanzbehörden, einen Betrag von 1 282 582,19 BGN (ca. 640 000 Euro) – davon einen Hauptbetrag von 618 171,16 BGN (die in den Rechnungen an die genannten Empfängerinnen ausgewiesene Mehrwertsteuer in Höhe von ca. 310 000 Euro) und Zinsen in Höhe von 664 411,03 BGN (ca. 330 000 Euro – berechnet vom ersten Tag des Monats nach der Ausstellung der Rechnungen bis zum 31. Juli 2019) – mit ihren öffentlich-rechtlichen Verbindlichkeiten zu verrechnen.
19. Mit Verrechnungs- und Erstattungsbescheid vom 6. März 2020 lehnte die Finanzverwaltung die Verrechnung zu Unrecht gezahlter und erhobener Mehrwertsteuerbeträge im genannten Umfang ab. In dem Bescheid wurde festgestellt, dass der Verrechnungsantrag ohnehin nach Ablauf der Ausschlussfrist gemäß Art. 129 Abs. 1 DOPK gestellt worden sei. Außerdem habe CRG weder bewiesen, dass zu Unrecht Beträge in dieser Höhe gezahlt oder erhoben worden seien, noch, dass sie entsprechende feststehende und fällige Forderungen gegen den Fiskus habe.
20. CRG legte bei der Verwaltung Einspruch gegen den Verrechnungs- und Erstattungsbescheid ein. Zur Stützung ihrer Anträge legte sie gerichtliche Entscheidungen über die Eröffnung von Insolvenzverfahren gegen die Gesellschaften vor, die die Rechnungen empfangen hatten. Drei der Gesellschaften waren mittlerweile für insolvent erklärt, und der Beginn der Verwertung ihres Vermögens war angeordnet worden.
21. Aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt sich allerdings nicht, was mit den anderen Leistungsempfängern geschehen ist. Ebenfalls bleibt offen, warum es zu keiner Zahlung kam und ob CRG (erfolglos) versucht hatte, die zivilrechtlichen Forderungen beizutreiben. Gleiches gilt für die Zeitpunkte, zu denen die Insolvenzverfahren eröffnet wurden. Aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt sich auch nicht, wann diese Insolvenzverfahren beendet worden sind. Immerhin geht es um Forderungen aus den Jahren 2006 bis 2012. In der mündlichen Verhandlung wurde erkennbar, dass einige der Leistungsempfänger nach dem Abschluss der Insolvenzverfahren bereits 2012, 2018 und 2020 gelöscht wurden, bei den anderen laufe das Insolvenzverfahren noch.
22. Der Verrechnungs- und Erstattungsbescheid wurde mit Entscheidung des Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“ [Varna] pri Tsentralno upravlenie na Natsionalnata agentsia za prihodite (Direktor der Direktion „Anfechtung und Steuer- und Sozialversicherungspraxis“ [Varna] bei der Zentralverwaltung der Nationalen Agentur für Einnahmen) (im Folgenden: Direktor) vom 22. Mai 2020 in vollem Umfang bestätigt.
23. Der Direktor stützte seine Entscheidung auch darauf, dass Bulgarien entsprechend Art. 90 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie von Art. 90 Abs. 1 der Richtlinie abgewichen sei. Er wies darauf hin, dass das bulgarische Recht keine Möglichkeit vorsehe, die Steuerbemessungsgrundlage bei vollständiger oder teilweiser Nichtbezahlung zu vermindern. Art. 115 Abs. 1 und 3 ZDDS erfasse nur andere Fälle. Außerdem habe die Kassationsbeschwerdeführerin nicht bewiesen, dass die Rechnungen ganz oder teilweise nicht beglichen worden seien, sondern dies nur behauptet. Ferner hätten alle Empfängerinnen der fraglichen Rechnungen die Mehrwertsteuer als Teil des Preises der Lieferungen oder Leistungen abgezogen, so dass eine Erstattung der von der Lieferantin/Dienstleistenden in Rechnung gestellten Steuer mit Sicherheit zu einem Steuerausfall führen würde.
24. CRG klagte erfolglos gegen den Verrechnungs- und Erstattungsbescheid beim Administrativen sad Varna (Verwaltungsgericht Varna, Bulgarien). Das Gericht berechnete die in Art. 129 DOPK allgemein festgelegte Frist für einen Erstattungsantrag ab dem Zeitpunkt der Ausweisung der Mehrwertsteuer in den fraglichen Rechnungen. Daher hielt es den am 7. Februar 2020 gestellten Erstattungsantrag für unzulässig, da er zu spät erhoben worden sei. CRG hat gegen das erstinstanzliche Urteil vom 16. Februar 2021 Kassationsbeschwerde beim vorlegenden Gericht eingelegt.
25. Im Laufe der Prüfung der Begründetheit der Kassationsbeschwerde gegen den Verrechnungs- und Erstattungsbescheid ist der Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) hingegen zu der Auffassung gelangt, dass die Entscheidung des Rechtsstreits eine Auslegung von Rechtsvorschriften der Europäischen Union voraussetzt.
IV. Verfahren vor dem Gerichtshof und Vorlagefragen
26. Daher legte das mit dem Rechtsstreit befasste Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) dem Gerichtshof am 4. Mai 2022 folgende Fragen vor:
1. Stehen bei Vorliegen einer Abweichung gemäß Art. 90 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie der Neutralitätsgrundsatz und Art. 90 dieser Richtlinie einer nationalen Rechtsvorschrift wie Art. 129 Abs. 1 Satz 2 des Danachno-osiguritelen protsesualen kodeks (Steuer- und Sozialversicherungsverfahrensordnung) entgegen, die eine Ausschlussfrist für die Stellung eines Antrags auf Verrechnung oder Erstattung der vom Steuerpflichtigen für die Lieferung von Gegenständen oder die Erbringung von Dienstleistungen in Rechnung gestellten Steuer bei vollständiger oder teilweiser Nichtbezahlung durch den Empfänger der Lieferung oder Leistung vorsieht?
2. Ist unabhängig von der Antwort auf die erste Frage unter den Umständen des Ausgangsverfahrens zwingende Voraussetzung für die Anerkennung des Rechts auf Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage nach Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie, dass der Steuerpflichtige die von ihm ausgestellte Rechnung bezüglich der ausgewiesenen Mehrwertsteuer wegen der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung des Preises der Lieferung oder Leistung durch den Rechnungsempfänger berichtigt, bevor er den Erstattungsantrag stellt?
3. Je nach den Antworten auf die ersten beiden Fragen: Wie ist Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie bei der Bestimmung des Zeitpunkts auszulegen, zu dem der Grund für die Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage entsteht, wenn ein Fall der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung des Preises vorliegt und wegen der Abweichung von Art. 90 Abs. 1 eine nationale Regelung fehlt?
4. Wie sind die Erwägungen in den Urteilen vom 27. November 2017, Enzo Di Maura (C‑246/16, EU:C:2017:887, Rn. 21 bis 27), und vom 3. Juli 2019, UniCredit Leasing (C‑242/18, EU:C:2019:558, Rn. 62 und 65), anzuwenden, wenn das bulgarische Recht keine speziellen Voraussetzungen für die Anwendung der Abweichung gemäß Art. 90 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie enthält?
5. Stehen der Neutralitätsgrundsatz und Art. 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie einer Steuer- und Sozialversicherungspraxis entgegen, wonach bei Nichtbezahlung keine Berichtigung der in Rechnung gestellten Steuer zulässig ist, bevor der Empfänger des Gegenstands oder der Dienstleistung, sofern er ein Steuerpflichtiger ist, über die Annullierung der Steuer in Kenntnis gesetzt wird, damit der von ihm ursprünglich vorgenommene Abzug berichtigt wird?
6. Lässt die Auslegung von Art. 90 Abs. 1 der Richtlinie die Annahme zu, dass ein mögliches Recht auf Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage bei vollständiger oder teilweiser Nichtbezahlung ein Recht auf Erstattung der vom Lieferer gezahlten Mehrwertsteuer zuzüglich Verzugszinsen begründet, und, wenn ja, ab welchem Zeitpunkt?
27. Zu diesen Fragen haben im Verfahren vor dem Gerichtshof die bulgarische Finanzverwaltung und die Europäische Kommission schriftlich Stellung genommen. Sie haben gemeinsam mit der Republik Bulgarien an der mündlichen Verhandlung vom 12. Mai 2023 teilgenommen.
V. Rechtliche Würdigung
A. Zu den Vorlagefragen
28. Die sechs Vorlagefragen lassen sich in vier Gruppen aufteilen. So fragt das vorlegende Gericht, inwieweit ein Mitgliedstaat von der Befugnis in Art. 90 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie im Fall einer vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung Gebrauch machen kann und ob Art. 90 Abs. 1 unmittelbar anwendbar ist (Fragen 1 und 4 – dazu unter B.).
29. Mit der Frage 3 wird der konkrete Zeitpunkt angesprochen, ab dem ein Steuerpflichtiger die Steuerbemessungsgrundlage nach Art. 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie vermindern kann (dazu unter C.).
30. Des Weiteren fragt das vorlegende Gericht im Ergebnis nach den Modalitäten der Berichtigung der Bemessungsgrundlage durch den Steuerpflichtigen (Fragen 2 und 5). Hier ist zu klären, ob vor einer Berichtigung der Bemessungsgrundlage durch den Leistenden auch die ursprüngliche Rechnung an den Leistungsempfänger korrigiert werden oder zumindest der Leistungsempfänger von der Berichtigung der Bemessungsgrundlage in Kenntnis gesetzt werden muss. Letztendlich war dessen Vorsteuerabzug zu hoch, wenn er den Rechnungsbetrag niemals bezahlt hat (dazu unter D.).
31. Mit der Frage 6 fragt das vorlegende Gericht, ob und ab wann der Mitgliedstaat bei einer Änderung der Bemessungsgrundlage Verzugszinsen zu zahlen habe. Im vorliegenden Fall begehrt CRG Zinsen ab der Ausstellung der Rechnung und deren fehlender Bezahlung, obwohl die Berichtigung der Bemessungsgrundlage erst im Februar 2020 durchgeführt wurde (dazu unter E.).
32. Vorab ist noch klarzustellen, dass der Gerichtshof für die Auslegung des Unionsrechts nur insoweit zuständig ist, als es um dessen Anwendung in einem neuen Mitgliedstaat ab dem Tag seines Beitritts zur Union geht.(3) Offenbar betrifft das Ausgangsverfahren jedoch auch Lieferungen und Dienstleistungen aus dem Jahr 2006, also vor dem am 1. Januar 2007 erfolgten Beitritt der Republik Bulgarien zur Union.
33. Ähnlich wie der Gerichtshof zur Berichtigung des Vorsteuerabzugs nach den Art. 184 und 185 der Mehrwertsteuerrichtlinie bereits klargestellt hat,(4) soll die Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage die in der Vergangenheit entstandene Steuerschuld berichtigen. Die Berechtigung zur Verminderung der Bemessungsgrundlage ist somit untrennbar mit dem Entstehen des Steueranspruchs verbunden. Folglich ermöglicht auch das Auftreten von Umständen nach dem Unionsbeitritt eines Mitgliedstaats dem Gerichtshof nicht, die Mehrwertsteuerrichtlinie auszulegen, wenn die den Steueranspruch begründende Lieferung der Gegenstände oder die Erbringung der Dienstleistungen vor diesem Beitritt erfolgt ist.(5) Soweit die Fragen des vorlegenden Gerichts die Berichtigung der Steuerschuld für Lieferungen und Dienstleistungen aus dem Jahr 2006 betreffen, ist der Gerichtshof daher nicht zuständig.
B. Reichweite von Art. 90 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie
34. Mit seinen Fragen 1 und 4 fragt das vorlegende Gericht, wieweit ein Mitgliedstaat von der Befugnis in Art. 90 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie Gebrauch machen kann. Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor, dass u. a. bei einer vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung nach der Bewirkung des Umsatzes die Steuerbemessungsgrundlage unter den von den Mitgliedstaaten festgelegten Bedingungen entsprechend vermindert wird. Art. 90 Abs. 2 dieser Richtlinie erlaubt den Mitgliedstaaten jedoch, für den Fall einer vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung davon abzuweichen.
1. Möglichkeit des Ausschlusses einer Verminderung der Bemessungsgrundlage?
35. Laut dem vorlegenden Gericht hat Bulgarien von der Abweichungsmöglichkeit Gebrauch gemacht und eine Berichtigung der Bemessungsgrundlage im Fall einer vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung in Gänze ausgeschlossen.
36. Dieser Zustand ist nicht mit der Mehrwertsteuerrichtlinie vereinbar. Spätestens seit der Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache Enzo Di Maura im Jahr 2017 ist geklärt, dass die Mitgliedstaaten zwar von der in Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Berichtigung der Besteuerungsgrundlage abweichen können, vom Unionsgesetzgeber jedoch nicht die Befugnis erhalten haben, sie ohne Weiteres auszuschließen.(6) Insbesondere greift die Abweichungsbefugnis des Abs. 2 nur bei einer Unsicherheit bezüglich der Endgültigkeit der Nichtbezahlung einer Rechnung. Sie betrifft nicht die Frage, ob eine Verminderung der Besteuerungsgrundlage bei Nichtbezahlung entfallen kann.(7)
37. Den unionsrechtswidrigen Zustand im bulgarischen Recht kann der bulgarische Gesetzgeber zum einen für die Zukunft beseitigen. Laut den Aussagen in der mündlichen Verhandlung ist eine entsprechende Gesetzesänderung mit Wirkung ab dem 1. Januar 2023 vorgenommen worden. Zum anderen lässt sich dieser Zustand durch eine richtlinienkonforme Auslegung beseitigen, wenn und soweit das bulgarische Recht entsprechend ausgelegt werden kann. Letzteres hat das vorlegende Gericht zu prüfen, es scheint aber nicht möglich zu sein. Die dritte Möglichkeit besteht in einer unmittelbaren Anwendung von Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie zugunsten des Steuerpflichtigen.
2. Unmittelbare Anwendbarkeit von Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie
38. Wie der Gerichtshof bereits mehrfach entschieden hat,(8) lässt Art. 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie den Mitgliedstaaten einerseits einen gewissen Gestaltungsspielraum bei der Festlegung der Maßnahmen zur Bestimmung des Betrags der Minderung; dieser Umstand beeinträchtige jedoch nicht die Genauigkeit und Unbedingtheit der Verpflichtung, in den von diesem Artikel erfassten Fällen ein Recht auf Minderung der Bemessungsgrundlage einzuräumen. Er ist mithin unmittelbar anwendbar.(9)
39. Andererseits meinte der Gerichtshof in einer Entscheidung im Jahr 2014, dass sich die Steuerpflichtigen im Fall der Nichtbezahlung des Preises nicht auf ein Recht zur Minderung ihrer Bemessungsgrundlage für die Mehrwertsteuer gemäß Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie berufen könnten, wenn der betreffende Mitgliedstaat von der Ausnahme nach Art. 90 Abs. 2 dieser Richtlinie Gebrauch machen wollte.(10) Damit könnte CRG die Bemessungsgrundlage nicht unter Berufung auf Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie berichtigen und wäre auf einen Staatshaftungsanspruch gegen Bulgarien angewiesen.
40. Wie das vorlegende Gericht bin ich jedoch der Ansicht, dass die oben genannte Entscheidung unter Berücksichtigung der danach ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs insbesondere in den Rechtssachen Enzo Di Maura und Uni Credit Leasing(11) nuanciert werden muss. Wie bereits oben (Nr. 36) ausgeführt, erlaubt die Abweichungsbefugnis in Art. 90 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie den Mitgliedstaaten nur, die im Fall einer ganz oder teilweisen Nichtbezahlung des Preises bestehende Unsicherheit zu berücksichtigen, ob diese Nichtbezahlung dauerhaft oder nur vorübergehend ist. Dies würde es z. B. erlauben, gewisse Modalitäten vorzusehen, bis wann von einer nur vorübergehenden Unsicherheit gesprochen wird. Sie erlaubt es aber nicht, die Berichtigung der Bemessungsgrundlage dem Grunde nach auszuschließen.
41. Folglich entfällt die unmittelbare Anwendbarkeit von Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie nur, wenn der betreffende Mitgliedstaat von der Ausnahme nach Art. 90 Abs. 2 dieser Richtlinie auch (richtlinienkonform) Gebrauch machen wollte.(12) Dies ist nur der Fall, wenn seine abweichende Maßnahme eine Berichtigung im Fall der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung des Preises dem Grunde nach weiterhin zulässt. Bulgarien ließ aber gerade keinerlei Berichtigung bei Nichtzahlung zu und wollte mithin nicht von der unionsrechtlich vorgesehenen Abweichungsbefugnis Gebrauch machen. Daher kann Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie unmittelbar angewendet werden.
3. Zeitliche Beschränkungen des Rechts auf Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage
42. Da Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie – und nach Auffassung des Gerichtshofs auch Art. 273 dieser Richtlinie – außer den festgelegten Grenzen weder die Bedingungen noch die Pflichten angibt, die die Mitgliedstaaten vorsehen können, räumt er den Mitgliedstaaten einen Gestaltungsspielraum insbesondere in Bezug auf die Formalitäten ein, die der Steuerpflichtige gegenüber den Steuerbehörden der Mitgliedstaaten erfüllen muss, um die Steuerbemessungsgrundlage zu vermindern.(13)
43. Von diesem Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten ist meines Erachtens auch eine zeitliche Beschränkung der Berichtigung der Bemessungsgrundlage erfasst. Wie der Gerichtshof bereits mehrfach ausgeführt hat, verlangt das Unionsrecht nicht die Möglichkeit, ohne jede zeitliche Beschränkung einen Antrag auf Erstattung stellen zu können. Vielmehr liefe dies dem Grundsatz der Rechtssicherheit zuwider, der verlangt, dass die steuerliche Lage des Steuerpflichtigen in Anbetracht seiner Rechte und Pflichten gegenüber der Steuerverwaltung nicht unbegrenzt lange offenbleiben kann.(14)
44. Daher steht Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie einer im nationalen Recht vorgesehenen zeitlichen Begrenzung des Rechts auf Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage grundsätzlich nicht entgegen.
4. Voraussetzungen an eine unionsrechtskonforme Befristung der Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage
45. Der Zeitpunkt, ab dem diese Frist zu laufen beginnt, richtet sich unter dem Vorbehalt der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität nach dem nationalen Recht.(15) Insbesondere der Grundsatz der Effektivität verlangt, dass eine zeitliche Beschränkung der sich aus Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie ergebenden Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage in Einklang mit den unionsrechtlichen Prinzipien des Mehrwertsteuerrechts steht.
46. Erstens ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie Ausdruck eines fundamentalen Grundsatzes der Mehrwertsteuerrichtlinie ist. Danach ist die Bemessungsgrundlage die tatsächlich erhaltene Gegenleistung. Zudem folgt daraus, dass die Steuerverwaltung als Mehrwertsteuer keinen höheren als den dem Steuerpflichtigen gezahlten Betrag erheben darf.(16) Er verpflichtet den Mitgliedstaat zu einer entsprechenden Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage.(17)
47. Zweitens ist der Grundsatz der steuerrechtlichen Neutralität zu beachten. Dieser stellt ein sich aus dem Verbrauchsteuercharakter(18) ergebendes grundlegendes Prinzip der Mehrwertsteuer dar. Er beinhaltet u. a., dass das Unternehmen als Steuereinnehmer für Rechnung des Staates von der endgültigen Belastung mit Mehrwertsteuer grundsätzlich zu befreien ist,(19) sofern die unternehmerische Tätigkeit selbst der Erzielung (grundsätzlich) steuerpflichtiger Umsätze dient.(20)
48. Nach Art. 63 der Mehrwertsteuerrichtlinie entsteht jedoch der Steueranspruch bereits in dem Zeitpunkt, zu dem die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht wird. Nicht entscheidend ist, dass der Empfänger auch die Gegenleistung gezahlt hat (sogenannte Soll-Besteuerung). Wenn das leistende Unternehmen aber aufgrund der Besteuerungstechnik verpflichtet ist, über Jahre eine Mehrwertsteuer zu schulden, die es nicht einnehmen konnte, dann belastet diese Vorfinanzierung das Unternehmen in erheblichem Maße. Von einer vollständigen(21) Neutralität der Mehrwertsteuer kann dann nicht mehr gesprochen werden.
49. Drittens betrifft eine Vorfinanzierung der Mehrwertsteuer die Grundrechte des Steuerpflichtigen (z. B. die Berufsfreiheit, die unternehmerische Freiheit und das Grundrecht auf Eigentum – Art. 15, 16 und 17 der Charta der Grundrechte). Außerdem steht eine Ungleichbehandlung nach Art. 20 der Charta bezüglich der Steuerpflichtigen im Raum, gegenüber welchen der Steueranspruch gemäß Art. 66 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie erst mit Vereinnahmung der Gegenleistung entsteht (sogenannte Ist-Besteuerung).
50. Gemessen an diesen unionsrechtlichen Grundsätzen setzt eine zulässige Befristung der Möglichkeit, die Steuerbemessungsgrundlage nach Art. 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie zu vermindern, daher voraus, dass die Frist an einen Zeitpunkt anknüpft, ab dem der Steuerpflichtige von Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie auch Gebrauch machen konnte. Nur dann wird dem Gedanken Rechnung getragen, dass der Steuerpflichtige „nur“ als Steuereinnehmer für Rechnung des Staates agiert(22) und folglich nicht mehr Steuern schuldet, als er auch tatsächlich einnehmen konnte. Wenn diese Frist auch der Rechtssicherheit (dazu oben, Nr. 43) dienen soll, muss dieser Zeitpunkt für den Steuerpflichtigen erkennbar sein.
51. Der Zeitpunkt der Leistungsausführung oder der Rechnungslegung – auf den die erste Instanz im Ausgangsverfahren abgestellt hat – ist dafür ungeeignet.(23) In diesem Moment geht der Steuerpflichtige in der Regel davon aus, dass der vereinbarte Preis auch bezahlt werden wird. Folglich liegen die Voraussetzungen von Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie dann noch nicht vor.
52. Welchen zeitlichen Anküpfungspunkt der nationale Gesetzgeber für den Lauf einer Ausschlussfrist wählt, unterliegt seinem Gestaltungsspielraum. Er kann den frühesten Zeitpunkt einer Verminderung der Bemessungsgrundlage (hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Leistungsempfänger nicht bezahlen wird – z. B. die Nichtbezahlung trotz Mahnung) oder den spätesten Zeitpunkt (an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit, dass der Leistungsempfänger nicht bezahlen wird – z. B. Abschluss des Insolvenzverfahrens) wählen.
53. Ohne eine solche Wahl – so wie hier – kommt jedoch nur der letzmögliche Zeitpunkt für den Beginn einer Ausschlussfrist in Betracht. Dies ergibt sich bereits aus der Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache FGSZ.(24) Wenn ein Mitgliedstaat vorgesehen hat, dass das Recht eines Gläubigers auf Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage gemäß Art. 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie einer Ausschlussfrist unterliegt, darf danach „diese Frist nicht ab dem Zeitpunkt der Erfüllbarkeit der ursprünglich vorgesehenen Zahlungsverpflichtung zu laufen beginnen …, sondern erst ab dem Zeitpunkt, zu dem die Forderung endgültig uneinbringlich geworden ist“.
54. Diese Aussage ist auf den vorliegenden Fall übertragbar. Die einzige nach bulgarischem Recht vorgesehene Frist ist die allgemeine Frist in Art. 129 Abs. 1 DOPK, deren Beginn an das Entstehen des Erstattungsanspruchs geknüpft ist. Eine spezielle Regelung, wann der sich aus der Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage nach Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie ergebende Erstattungsanspruch entsteht, sieht das bulgarische Recht nicht vor.
55. Wenn aber ein Mitgliedstaat dem Steuerpflichtigen unionsrechtswidrig die Möglichkeit vorenthält, die Steuerbemessungsgrundlage im Fall der Nichtbezahlung zu vermindern, dann kann eine allgemeine Ausschlussfrist auch erst zum spätesten Zeitpunkt (oben, Nr. 52) zu laufen beginnen. Dies ist der Zeitpunkt, in dem mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststeht, dass – wie auch die Kommission vorgetragen hat – mit einer Bezahlung nicht mehr zu rechnen ist, mithin erst im Moment des Abschlusses des Insolvenzverfahrens. Daher steht Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie hier einer Ausschlussfrist, die an einen früheren Zeitpunkt anknüpft, entgegen.
5. Zwischenergebnis
56. Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie ist unmittelbar anwendbar, wenn der Mitgliedstaat von der Abweichungsmöglichkeit von Art 90 Abs. 2 dieser Richtlinie derart verfehlt Gebrauch macht, dass er nicht die Unsicherheit einer endgültigen Nichtbezahlung berücksichtigt, sondern die Verminderung der Bemessungsgrundlage in Gänze ausschließt (Antwort auf Frage 4).
57. Dabei steht Art. 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie einer angemessenen Ausschlussfrist nicht entgegen, wenn diese erst mit oder nach dem Zeitpunkt zu laufen beginnt, zu dem der Steuerpflichtige bei einer vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung des Preises die Bemessungsgrundlage vermindern konnte. Eine Ausschlussfrist ab Leistungserbringung oder Erstellung der Rechnung ist mit Art. 90 dieser Richtlinie jedoch nicht vereinbar. Ohne eine gesetzliche Konkretisierung dieses Zeitpunkts kann eine Ausschlussfrist erst ab dem Zeitpunkt zu laufen beginnen, zu dem die Forderung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit uneinbringlich geworden ist (Antwort auf Frage 1).
C. Zeitpunkt der Verminderung der Bemessungsgrundlage im Fall der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung
58. Die entscheidende Frage – die das vorlegende Gericht in Frage 3 auch aufwirft – ist jedoch, wann eine Verminderung der Bemessungsgrundlage nach Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie im Fall der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung zugunsten des Steuerpflichtigen überhaupt erfolgen kann.
59. Der Gerichtshof spricht im Zusammenhang mit Art. 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie von einem „Recht auf Minderung der Bemessungsgrundlage“.(25) Dieses Recht besteht zugunsten des Steuerpflichtigen. Damit kann der Steuerpflichtige eine Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage geltend machen, wenn er meint, dass mit einer Bezahlung auf absehbare Zeit nicht mehr zu rechnen sein wird. Eine Pflicht, dieses Recht geltend zu machen, besteht aber nicht. Er kann auch weiterhin die Mehrwertsteuer vorfinanzieren, wenn und weil er von einer baldigen Bezahlung durch seinen Kunden ausgeht.
60. Folglich ist der Steuerpflichtige der einzige, der einschätzen kann, ob die Zahlung noch oder nicht mehr in absehbarer Zeit erfolgen wird. Wenn dem so ist, dann ist auch seine Erklärung, ab wann aus seiner Sicht von einer „endgültigen“ Nichtbezahlung ausgegangen werden kann, maßgebend. Diese Erklärung erfolgt im Rahmen des dann laufenden Veranlagungszeitraums.
61. Im Ergebnis ist die Verminderung der Bemessungsgrundlage eines Umsatzes des Leistenden daher von dessen Entscheidung und seiner Erklärung abhängig. Diese ist nicht rückwirkend möglich, da bis zu dieser Erklärung in einem System der Selbstveranlagung (d.h. hier in ein System, in dem der Steuerpflichtige seine eigene Steuerschuld selbst berechnet und festlegt) vermutet werden kann, dass der Steuerpflichtige noch davon ausgeht, dass die Zahlung des Preises noch hinreichend zeitnah erfolgen wird.
62. Etwas anderes würde nur gelten, wenn im nationalen Gesetz ein konkreter, angemessener Zeitpunkt vorgesehen ist, ab wann grundsätzlich eine Verminderung der Steuerbemessungsrundlage vorgenommen werden kann. Daran fehlt es hier jedoch. Folglich gibt es keinen konkreten Zeitpunkt, zu dem die Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage vorzunehmen ist. Vielmehr gibt es einen Zeitraum, in dem der Steuerpflichtige sein Recht auf Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage geltend machen kann.
1. Spätester Zeitpunkt für eine Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage
63. Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat,(26) ist der späteste Zeitpunkt, ab wann eine Verminderung der Bemessungsgrundlage durch den Steuerpflichtigen durchgeführt werden kann, der Zeitpunkt, in dem sicher feststeht, dass keine Bezahlung des ausgeführten Umsatzes mehr erfolgen wird. Dies kann z. B. der Abschluss eines Insolvenzverfahrens des Leistungsempfängers sein. Jedoch darf eine Verminderung der Bemessungsgrundlage nicht allein von dem erfolglosen Abschluss eines Insolvenzverfahrens abhängen.(27)
64. Insoweit hat der Gerichtshof ausgeführt, dass das Abstellen auf eine „endgültige Uneinbringlichkeit“ unverhältnismäßig ist,(28) zumal spätere Zahlungen die Bemessungsgrundlage wieder erhöhen können. Außerdem ginge eine verschuldensunabhängige Haftung des Leistenden über das hinaus, was erforderlich ist, um die Ansprüche des Fiskus zu schützen.(29) Nichts anderes gilt für eine verschuldensunabhängige längerfristige Vorfinanzierung einer nicht einnehmbaren Steuer (z. B. über einen mehrjährigen Zeitraum wie z. B. bis zum Abschluss eines Insolvenzverfahrens). Meines Erachtens käme als spätester Zeitpunkt auch der Zeitpunkt des Eintritts der Verjährung des zivilrechtlichen Zahlungsanspruchs in Betracht. Insofern darf angenommen werden, dass der Leistungsempfänger – der bisher nicht gezahlt hat – eine bereits verjährte Forderung erst recht nicht mehr bezahlen wird.
65. Unter Berücksichtigung seiner Funktion als Steuereinnehmer, seiner Grundrechte und des Neutralitätsprinzips muss der Steuerpflichtige jedoch auch die Möglichkeit haben, die Steuerbemessungsgrundlage zu einem früheren Zeitpunkt zu vermindern.
2. Frühester Zeitpunkt für eine Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage
66. Für die Bestimmung des frühesten Zeitpunktes, ab dem von einer vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung gesprochen werden kann, die zu einer Verminderung der Bemessungsgrundlage im Sinne von Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie berechtigt, gibt es bislang keine Entscheidungen des Gerichtshofs. Meines Erachtens müssen zur Beantwortung dieser Frage Art. 66 Buchst. b und die Art. 194 ff. der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 20 der Charta) berücksichtigt werden. Diese Vorschriften gebieten eine zeitnahe Möglichkeit der Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage.
67. Nach Art. 66 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie können die Mitgliedstaaten für eine bestimmte Gruppe von Steuerpflichtigen (z. B. in Abhängigkeit von der Höhe des Umsatzes) die Entstehung der Mehrwertsteuer auf die „Vereinnahmung des Preises“ festlegen („Ist-Besteuerung“). Von dieser Möglichkeit haben die Mitgliedstaaten jedenfalls teilweise Gebrauch gemacht. Zu berücksichtigen sind weiter die Leistungen, bei denen die Mehrwertsteuerrichtlinie eine Verlagerung der Steuerschuldnerschaft auf den Leistungsempfänger vorsieht oder erlaubt (vgl. Art. 194 ff. der Mehrwertsteuerrichtlinie). Unternehmen, die solche Umsätze – z. B. Dienstleistungen an im Ausland ansässige Unternehmer – ausführen, müssen keine Mehrwertsteuer vorfinanzieren. Letztere Systeme dienen im weiteren Sinn einer vereinfachten Steuerverwaltung.
68. Ein Unternehmen, das im Anwendungsbereich der Soll-Besteuerung – d. h. bei einer Steuerentstehung unabhängig vom Zahlungseingang – Steuern über einen längeren Zeitraum vorfinanzieren muss, hat bereits einen Wettbewerbsnachteil gegenüber einem Unternehmen im Anwendungsbereich der Ist-Besteuerung, das die Steuer erst aus den vereinnahmten Preisen abführen muss. Gleiches gilt für Unternehmen, die nur Umsätze ausführen, die unter die Steuerschuldverlagerung auf den Leistungsempfänger fallen. Eine solche Ungleichbehandlung ist im Hinblick auf das Primärrecht, insbesondere die Charta, aber nur zu rechtfertigen, wenn der Vorfinanzierungszeitraum nicht zu lang ist.
69. Bei der Auslegung von Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie ist auch zu berücksichtigen, dass eine nachträgliche Erhöhung der Bemessungsgrundlage steuerrechtlich immer möglich bleibt.(30) Sollte nämlich später (z. B. während oder nach Abschluss eines Insolvenzverfahrens) noch eine Zahlung zugunsten des Unternehmens erfolgen, dann ist die Steuerschuld in diesem Moment entsprechend zu erhöhen. Dies folgt bereits aus Art. 73 der Mehrwertsteuerrichtlinie, nach dem alles in die Steuerbemessungsgrundlage fällt, was der Leistungsempfänger oder ein Dritter für die Umsätze aufwendet.
70. Eine Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage unter dem Vorbehalt einer Erhöhung aufgrund einer späteren Zahlung ist gegenüber dem Steuerpflichtigen weniger belastend und damit verhältnismäßiger als eine jahrelange Vorfinanzierungsverpflichtung bis zur Eröffnung oder gar dem Abschluss eines Insolvenzverfahrens.(31)
71. Eine Differenzierung zwischen Forderungen, deren Nichtbezahlung endgültig feststeht, und Forderungen, bei denen dies nicht der Fall ist, ist im Mehrwertsteuerrecht ohnehin nicht möglich. Dies hängt damit zusammen, dass es ein „endgültiges“ Nichtbezahlen im Sinne des Mehrwertsteuerrechts nicht geben kann. Dies schließt schon der Wortlaut von Art. 73 der Mehrwertsteuerrichtlinie aus. Danach erfasst die Steuerbemessungsgrundlage auch Zahlungen eines Dritten und ist damit losgelöst von der Zahlungsfähigkeit bzw. Existenz des Schuldners.(32) Darüber hinaus stellt das Mehrwertsteuerrecht nicht auf das Vorliegen einer vollstreckbaren Forderung ab, wie die Besteuerung der Zahlung eines Trinkgeldes,(33) versehentlicher Überzahlungen oder der Bezahlung einer Ehrenschuld(34) zeigen. Es gibt mithin immer nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit der Nichtbezahlung, die insbesondere mit der Länge der Nichtbezahlung zunimmt und durch die Umstände der Nichtbezahlung näher konkretisiert werden kann (dazu oben, Nrn. 63 ff.).
72. Entscheidend kann daher nur sein, ob eine Forderung auf absehbare Zeit nicht durchsetzbar ist. Eine solche Nichtdurchsetzbarkeit kann schon im Fall einer ernsthaften Zahlungsverweigerung durch den Schuldner vorliegen. Wenn der Schuldner z. B. das Bestehen der Forderung selbst oder deren Höhe bestreitet, dann besteht eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass die Forderung auf längere Zeit nicht oder nicht in voller Höhe durchsetzbar ist.
73. Andererseits ist der Staat bei einer indirekten Steuererhebung auf eine „Einziehung“ der Mehrwertsteuer durch den Steuerpflichtigen angewiesen. Daher sind solche Maßnahmen zu berücksichtigen, die in der Hand des Steuerpflichtigen liegen und ihm zuzumuten sind. Welche Maßnahmen insoweit von einem Unternehmen in jedem Mitgliedstaat verlangt werden können, bevor es seine Steuerschuld wegen einer Nichtbezahlung des Preises berichtigen kann, hängt auch von den dortigen Gegebenheiten ab. Der Gerichtshof kann dafür nur Anhaltspunkte geben.
74. So kann der Mitgliedstaat Nachweise für eine wahrscheinlich länger dauernde Nichtbezahlung verlangen. Die bloße Behauptung einer solchen genügt nicht. Verhältnismäßig wäre auch die Festlegung einer angemessenen Zeitspanne der Nichtbezahlung (z. B. analog zu Art. 3 Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2011/7/EU zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr(35) nach 30 Tagen nach Eingang der Rechnung oder auch z. B. 14 Tage ab einem Mahnschreiben), ab der von einer Nichtbezahlung im Sinne von Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie ausgegangen werden kann, wenn keine gegenteiligen Anhaltspunkte vorliegen.
75. Entscheidend ist meines Erachtens, dass der Steuerpflichtige gegenüber der Finanzverwaltung eine hinreichende Wahrscheinlichkeit(36) für eine dauerhafte Nichtbezahlung nachweisen kann, und das obwohl er versucht hat, seiner Funktion als Steuereinnehmer für Rechnung des Staates gerecht zu werden. Eine Pflicht zur gerichtlichen Einziehung von eventuell wertlosen Forderungen zugunsten des Staates, die erhebliche Kosten verursacht, ist hingegen weder mit dem Neutralitäts- noch mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu vereinbaren.
76. Im Allgemeinen wird der Versuch einer Durchsetzung der Forderung vor einer Berichtigung der Steuerbemessungsgrundlage verlangt. Das ist verhältnismäßig, sofern keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass dieser Versuch ohnehin erfolglos bzw. unwirtschaftlich sein wird. Insofern kann der Steuerpflichtige durch sein Handeln entscheiden, zu welchem Zeitpunkt er innerhalb der oben umrissenen Zeitspanne sein „Recht auf Minderung der Bemessungsgrundlage“ geltend macht.
3. Zwischenergebnis
77. Für den Zeitpunkt, ab wann ein Steuerpflichtiger im Fall einer vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung nach Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie eine Verminderung der Bemessungsgrundlage zum ersten Mal (frühester Zeitpunkt) vornehmen kann, kommt es auf die Gegebenheiten im jeweiligen Mitgliedstaat und die Umstände des Einzelfalls an, welche das vorlegende Gericht zu würdigen hat.
78. Dabei verbietet der Neutralitätsgrundsatz eine unverhältnismäßig lange Vorfinanzierung der Steuer, sofern der Steuerpflichtige (Leistende) die zumutbaren Schritte unternommen hat, um seiner Funktion als Steuereinnehmer für Rechnung des Staates nachzukommen. Letzteres setzt grundsätzlich eine erfolglose Zahlungsaufforderung (Mahnung) des Leistungsempfängers voraus. Nicht notwendig ist aber ein erfolgloser Gerichtsprozess, die Eröffnung oder der Abschluss eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Leistungsempfängers (Antwort auf Frage 3).
D. Modalitäten der Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage durch den Steuerpflichtigen
79. Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie – und nach Auffassung des Gerichtshofs(37) auch Art. 273 dieser Richtlinie – räumt den Mitgliedstaaten einen Gestaltungsspielraum insbesondere in Bezug auf die Formalitäten ein, die der Steuerpflichtige gegenüber den Steuerbehörden der Mitgliedstaaten erfüllen muss, um die Steuerbemessungsgrundlage zu vermindern.(38) Jedoch dürfen diese Maßnahmen die Ziele und Grundsätze der Mehrwertsteuerrichtlinie nur so wenig wie möglich beeinträchtigen und können daher nicht so eingesetzt werden, dass sie die Neutralität der Mehrwertsteuer in Frage stellen.(39)
80. Demzufolge sind nur formale Anforderungen in Bezug auf den Nachweis zulässig, dass die Gegenleistung nach der Ausführung des Umsatzes zum Teil oder in vollem Umfang endgültig nicht erlangt wurde.(40)
1. Notwendigkeit einer Rechnungskorrektur?
81. Dies schließt eine Rechnungskorrektur nicht ein. Für den Nachweis, dass die Bezahlung nicht erfolgte, ist ein Mahnschreiben, eine Klage oder eine schriftliche Zahlungsverweigerung durch den Leistungsempfänger geeignet, nicht aber eine Rechnungskorrektur durch den Leistenden.
82. Hinzu kommt, dass – wie oben in Nr. 71 ausgeführt – Art. 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie keine endgültige Nichtbezahlung im mehrwertsteuerrechtlichen Sinne voraussetzt. Wie bereits Art. 73 dieser Richtlinie zeigt, erhöhen spätere erfolgreiche Vollstreckungsversuche die Bemessungsgrundlage wieder. Würde man den Leistenden zu einer Korrektur der Rechnung zwingen, könnte dies zivilrechtlich womöglich als Forderungsverzicht gewertet werden.
83. Außerdem kennt die Mehrwertsteuerrichtlinie die Notwendigkeit einer Rechnungsberichtigung nur,(41) wenn der Leistende sich seiner Steuerschuld nach Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie entledigen will. Art. 203 dieser Richtlinie ist hier aber – anders als die bulgarische Finanzverwaltung in der mündlichen Verhandlung meinte – nicht einschlägig. Er betrifft nur den Fall eines unberechtigten, mithin falschen und zu hohen Steuerausweises, wie der Gerichtshof unlängst klargestellt hat.(42) Die ursprünglichen Rechnungen weisen hier aber keinen fehlerhaften Mehrwertsteuerbetrag aus. Dieser Betrag und die gesamte Rechnung des Leistenden wird durch die einseitige Nichtbezahlung des Preises durch den Leistungsempfänger nicht unrichtig. Sie ist daher nicht zu berichtigen.
84. Dies unterscheidet diesen Fall auch – anders als Bulgarien meint – von demjenigen, der der Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache Kraft Foods Polska(43) zugrunde lag. Dort ging es um die Frage der Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage aufgrund durch den Leistenden nachträglich gewährter Rabatte. Mithin änderte sich dort die vereinbarte Gegenleistung, die in der Rechnung auszuweisen ist. Daher passte dort die Aussage, dass der Nachweis des Zugangs einer berichtigten Rechnung eine grundsätzlich mögliche Modalität im Sinne von Art. 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie sein könne.(44)
85. Bei genauer Lektüre der Entscheidung ging es dem Gerichtshof aber primär um den Nachweis der Information des Leistungsempfängers, damit dieser seinen eventuellen Vorsteuerabzug berichtigen kann,(45) weil er aufgrund des Rabatts nun einen geringeren Preis schulde. Ein Leistungsempfänger, der seine Rechnung nicht bezahlt hat, schuldet aber weiterhin denselben Preis. Insoweit muss er nicht informiert werden. Er muss auch nicht darüber informiert werden, dass er einen zu hohen Vorsteuerabzug (dazu sogleich unter Nr. 90) geltend gemacht hat, denn dass er nicht bezahlt hat, weiß er selbst.
86. Da die Korrektur einer richtigen Rechnung (auch bei einer Nichtbezahlung) keinen Sinn ergibt, steht die Mehrwertsteuerrichtlinie einer dahin gehenden Verpflichtung entgegen.
2. Notwendigkeit eines Hinweises an die Finanzverwaltung oder an den Leistungsempfänger?
87. Folglich bleibt nur noch zu klären, ob die Mitgliedstaaten in Umsetzung von Art. 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorsehen können, dass bei Nichtbezahlung keine Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage zulässig ist, bevor der Empfänger des Gegenstands oder der Dienstleistung, sofern er ein Steuerpflichtiger ist, darüber in Kenntnis gesetzt wurde. In diese Richtung scheint die fünfte Frage des vorlegenden Gerichts zu gehen, denn es erwähnt ausdrücklich als Ziel dieser Maßnahmen die Berichtigung des vom Leistungsempfänger ursprünglich vorgenommenen Vorsteuerabzugs.
88. So möchten die Finanzbehörden – wie in der Vorlage geschildert – die Steuerbemessungsgrundlage beim Leistenden prinzipiell immer erst dann vermindern, wenn zuvor der Vorsteuerabzug beim Leistungsempfänger berichtigt wurde. Den Hintergrund der Frage zu Art. 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie bilden mithin die Art. 184 ff. Während Art. 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie das Recht eines Leistenden regelt, seine Steuerbemessungsgrundlage zu vermindern, wenn er nach der Bewirkung eines Umsatzes die vorgesehene Gegenleistung nicht oder nur teilweise erhält, betrifft ihr Art. 185 die Berichtigung der von der anderen Partei desselben Umsatzes ursprünglich vorgenommenen Vorsteuerabzüge. Daher stellen diese beiden Artikel die beiden Seiten desselben wirtschaftlichen Vorgangs dar.(46)
89. Gleichwohl sind die Berichtigungstatbestände des Art. 90 und der Art. 184 ff. der Mehrwertsteuerrichtlinie von einander unabhängig. Sie betreffen nämlich unterschiedliche Steuerpflichtige.(47) So ändert „der Umstand, dass die vom Lieferer des Steuerpflichtigen geschuldete Mehrwertsteuer selbst nicht berichtigt werden wird, nichts am Recht der Finanzverwaltung …, die Berichtigung der von einem Steuerpflichtigen in Abzug gebrachten Mehrwertsteuer zu verlangen“.(48)
90. Diese Korrekturpflicht beim Leistungsempfänger besteht völlig unabhängig von einer potenziellen Mitteilung des Leistenden an den Leistungsempfänger und in der Regel bereits davor. Denn der Vorsteuerabzug soll – wie ich schon andernorts näher ausgeführt habe(49) – den Leistungsempfänger von einer Mehrwertsteuerbelastung entlasten.(50) Wurde aber wie hier nicht bezahlt, besteht keine Belastung des Leistungsempfängers mit Mehrwertsteuer. Daher hat dieser nach den Art. 184 ff. der Mehrwertsteuerrichtlinie seinen Vorsteuerabzug selbst zeitnah zu korrigieren, will er sich nicht dem Vorwurf einer Steuerhinterziehung aussetzen.
91. Allerdings ermöglicht die Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage beim Leistenden den Finanzbehörden erst, den Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers zu überprüfen und gegebenenfalls eine Korrektur nach den Art. 184 ff. der Mehrwertsteuerrichtlinie durchzuführen. Insofern ist eine Mitteilung an die Finanzbehörden im Rahmen der Korrektur der Bemessungsgrundlage nach Art. 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie sicherlich hilfreich. Art. 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie würde daher einer weiteren, besonderen Hinweispflicht des Steuerpflichtigen gegenüber den Finanzbehörden nicht entgegenstehen. Hier geht es allerdings nicht um eine Pflicht zur Benachrichtigung der Finanzbehörden, sondern des Leistungsempfängers.(51)
92. Eine solche Mitteilungspflicht gegenüber dem Leistungsempfänger müsste als Modalität im Rahmen von Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zur Erreichung der damit verfolgten Ziele geeignet sein und dürfte nicht über das dazu Erforderliche hinausgehen.(52)
93. Eine Mitteilung an den Leistungsempfänger, dass der Leistende beabsichtigt, die Bemessungsgrundlage nach Art. 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie zu vermindern, indiziert, dass er die Gegenleistung nach Bewirken des Umsatzes nicht erhalten hat. Dass er nicht bezahlt hat, weiß der Leistungsempfänger aber selbst, ebenso, dass er deshalb keinen Anspruch auf einen Vorsteuerabzug hat. Eine solche Mitteilung hat daher allenfalls eine Erinnerungs- oder Mahnfunktion. Daher ist ihre Eignung zweifelhaft.
94. Angesichts des geringen Aufwandes für den Leistenden hat der Gerichtshof(53) eine Verpflichtung zu einer solchen Mitteilung dennoch als grundsätzlich verhältnismäßig angesehen. In seiner Begründung argumentierte der Gerichtshof aber damit, dass der Mitgliedstaat die Möglichkeit erhalten soll, „rechtzeitig tätig zu werden, um Mehrwertsteuer zurückzufordern, die der Schuldner (Anmerkung: der Leistungsempfänger) möglicherweise als Vorsteuer abgezogen hat“.(54) Wie eine Mitteilung an den Leistungsempfänger – für die keine besonderen Formerfordernisse gelten sollten – den Mitgliedstaat in die Lage versetzen kann, rechtzeitig tätig zu werden, bleibt allerdings offen.
95. Völlig ungeeignet ist eine solche Mitteilungspflicht gegenüber dem Leistungsempfänger, wenn eine Mitteilung nicht mehr möglich oder sinnlos ist, weil z. B. der Leistungsempfänger nach Abschluss des Insolvenzverfahrens bereits gelöscht wurde, unbekannt verzogen ist oder seinen Vorsteuerabzug bereits korrigiert hat. Im Übrigen ist eine Information der Finanzverwaltung über den betreffenden Leistungsempfänger im Rahmen der Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage das geeignete und mildere Mittel, um die Finanzverwaltung in die Lage zu versetzen, rechtzeitig den Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers zu kontrollieren und zu korrigieren.
3. Zwischenergebnis
96. Eine gesetzliche Verpflichtung, wonach der Leistende den Leistungsempfänger auf die Änderung der Bemessungsgrundlage hinzuweisen hat, um diesen an eine eventuell noch durchzuführende Änderung des Vorsteuerabzugs zu erinnern, ist mangels Eignung unverhältnismäßig. Daher können sie die Mitgliedstaaten nicht im Rahmen von Art. 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorsehen (Antwort auf Frage 5). Des Weiteren verstößt eine Pflicht zur vorherigen Berichtigung einer richtigen Rechnung gegen die Mehrwertsteuerrichtlinie (Antwort auf Frage 2).
E. Verzinsung eines Erstattungsanspruchs aufgrund einer Verminderung der Bemessungsgrundlage
97. Damit ist nur noch zu klären, ab wann bei einer berechtigten Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage der sich daraus ergebende Erstattungsanspruch vom Mitgliedstaat zu verzinsen ist. Hier nahm CRG eine Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage im Jahr 2020 vor, begehrt aber eine Verzinsung rückwirkend auf die Jahre der Rechnungsausstellung (2006 bis 2012).
98. Der Grundsatz der steuerrechtlichen Neutralität verlangt, dass die finanziellen Verluste, die dadurch entstehen, dass ein Vorsteuerüberschuss nicht innerhalb einer angemessenen Frist erstattet wird, durch die Zahlung von Verzugszinsen ausgeglichen werden.(55) Dies gilt auch für Mehrwertsteuererstattungen, die sich aus einer Verminderung der Bemessungsgrundlage für die Mehrwertsteuer nach Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie ergeben.(56)
99. Wie oben (Nrn. 51 ff.) ausgeführt, kommt eine Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage ohne nähere Ausgestaltung des nationalen Rechts für den Steuerpflichtigen innerhalb eines gewissen Zeitraums in Betracht. Maßgebend ist seine Erklärung, ab wann aus seiner Sicht von einer „endgültigen“ Nichtbezahlung ausgegangen werden kann. Diese Erklärung erfolgt im Rahmen des laufenden Veranlagungszeitraums und ist nicht rückwirkend (siehe oben, Nrn. 60 ff.). Mithin kommt auch eine Verzinsung – wie die bulgarische Finanzverwaltung und die Kommission im Ergebnis zu Recht ausgeführt haben – erst nach dieser Erklärung in Betracht.
100. Vor diesem Zeitpunkt besteht der Rechtsgrund für die Abführung der Mehrwertsteuer aufgrund von Art. 63 der Mehrwertsteuerrichtlinie. Dieser entfällt erst mit der hinreichend wahrscheinlichen endgültigen Nichtbezahlung (Art. 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie). Mithin obliegt es dem Steuerpflichtigen, das Ende dieser Vorfinanzierung zu kommunizieren und die Erstattung im Rahmen der Steuerveranlagung geltend zu machen. Ab dann hat die Finanzverwaltung Kenntnis von der verminderten Bemessungsgrundlage und ihrer Rückzahlungsverpflichtung. Bei Nichtzahlung gerät sie in Verzug und muss Verzugszinsen zahlen.
101. Diese Lösung dient auch der Rechtssicherheit, denn sie erspart allen Beteiligten einen in die Vergangenheit gerichteten Streit über den Beginn der Verzinsung und damit über den Zeitpunkt der erstmaligen „Uneinbringlichkeit“, wenn der Steuerpflichtige damals offenbar keine Notwendigkeit für eine Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage gesehen hat.
102. Folglich kommt eine Verzinsung des Erstattungsanspruchs aufgrund einer Verringerung der Bemessungsgrundlage nicht etwa bereits ab Erbringung der Leistung oder Ausstellung der Rechnung in Betracht (zu diesem Zeitpunkt war die Bezahlung noch nicht unsicher im Sinne von Art. 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie). Vielmehr kommt sie frühestens ab dem Zeitpunkt in Betracht, zu dem der Leistende davon ausgehen kann, dass eine Bezahlung nicht mehr erfolgen wird und er dies im Rahmen der Steuerveranlagung erklärt hat (Antwort auf Frage 6).
VI. Entscheidungsvorschlag
103. Somit schlage ich vor, die Vorlagefragen des Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht, Bulgarien) wie folgt zu beantworten:
1. Art. 90 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem steht einer angemessenen Ausschlussfrist nicht entgegen, wenn diese erst mit oder nach dem Zeitpunkt zu laufen beginnt, zu dem der Steuerpflichtige bei einer vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung des Preises die Steuerbemessungsgrundlage vermindern konnte. Eine Ausschlussfrist ab Leistungserbringung oder Erstellung der Rechnung ist mit Art. 90 dieser Richtlinie jedoch nicht vereinbar. Ohne eine gesetzliche Konkretisierung kann eine solche Ausschlussfrist erst ab dem Zeitpunkt zu laufen beginnen, zu dem die Forderung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit endgültig uneinbringlich geworden ist.
2. Eine Pflicht zur Berichtigung einer richtigen Rechnung als Voraussetzung für eine Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage im Fall einer Nichtbezahlung des Preises verstößt gegen die Richtlinie 2006/112.
3. Für den Zeitpunkt, ab dem ein Steuerpflichtiger im Fall einer vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung nach Art. 90 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 eine Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage zum ersten Mal vornehmen kann, kommt es auf die Gegebenheiten im jeweiligen Mitgliedstaat und die Umstände des Einzelfalls an, welche das vorlegende Gericht zu würdigen hat. Dabei verbietet der Neutralitätsgrundsatz eine unverhältnismäßig lange Vorfinanzierung der Steuer, sofern der Steuerpflichtige (Leistende) die zumutbaren Schritte unternommen hat, um seiner Funktion als Steuereinnehmer für Rechnung des Staates nachzukommen. Letzteres setzt grundsätzlich eine erfolglose Zahlungsaufforderung (Mahnung) des Leistungsempfängers voraus. Nicht notwendig ist aber ein erfolgloser Gerichtsprozess oder die Eröffnung oder der Abschluss eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Leistungsempfängers.
4. Art. 90 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 ist unmittelbar anwendbar, wenn der Mitgliedstaat von der Abweichungsmöglichkeit von Art. 90 Abs. 2 dieser Richtlinie derart verfehlt Gebrauch macht, dass er nicht die Unsicherheit einer endgültigen Nichtbezahlung berücksichtigt, sondern die Verminderung der Bemessungsgrundlage in Gänze ausschließt.
5. Eine gesetzliche Verpflichtung, wonach der Leistende den Leistungsempfänger im Fall von dessen (ganz oder teilweisen) Nichtbezahlung des Preises auf die Änderung der Bemessungsgrundlage hinzuweisen hat, um diesen an eine eventuell noch durchzuführende Änderung des Vorsteuerabzugs zu erinnern, ist mangels Eignung unverhältnismäßig. Daher können sie die Mitgliedstaaten nicht im Rahmen von Art. 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorsehen.
6. Eine Verzinsung des Erstattungsanspruchs aufgrund einer Verringerung der Steuerbemessungsgrundlage kommt frühestens ab dem Zeitpunkt in Betracht, zu dem der Leistende davon ausgehen kann, dass eine Bezahlung nicht mehr erfolgen wird und er dies im Rahmen seiner Steuerveranlagung erklärt hat.
1 Originalsprache: Deutsch.
2 ABl. 2006, L 347, S. 1, zuletzt geändert durch die Richtlinie (EU) 2022/890 des Rates vom 3. Juni 2022 zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG im Hinblick auf die Verlängerung des Anwendungszeitraums der fakultativen Umkehrung der Steuerschuldnerschaft bei Lieferungen bestimmter betrugsanfälliger Gegenstände und Dienstleistungen und des Schnellreaktionsmechanismus gegen Mehrwertsteuerbetrug – ABl. 2022, L 155, S. 1.
3 Urteile vom 3. Juli 2019, UniCredit Leasing (C‑242/18, EU:C:2019:558, Rn. 30), und vom 27. Juni 2018, Varna Holideis (C‑364/17, EU:C:2018:500, Rn. 17 ff.).
4 Urteil vom 27. Juni 2018, Varna Holideis (C‑364/17, EU:C:2018:500, Rn. 27 ff.).
5 In diesem Sinne Urteil vom 27. Juni 2018, Varna Holideis (C‑364/17, EU:C:2018:500, Rn. 31).
6 Beschluss vom 3. März 2021, FGSZ (C‑507/20, EU:C:2021:157, Rn. 20), und Urteil vom 23. November 2017, Di Maura (C‑246/16, EU:C:2017:887, Rn. 21), noch zur inhaltsgleichen Vorgängervorschrift.
7 Urteile vom 11. November 2021, ELVOSPOL (C‑398/20, EU:C:2021:911, Rn. 28), vom 11. Juni 2020, SCT (C‑146/19, EU:C:2020:464, Rn. 24), vom 8. Mai 2019, A-PACK CZ (C‑127/18, EU:C:2019:377, Rn. 21), und vom 23. November 2017, Di Maura (C‑246/16, EU:C:2017:887, Rn. 22), so ähnlich auch Beschluss vom 3. März 2021, FGSZ (C‑507/20, EU:C:2021:157, Rn. 20), und Urteil vom 22. Februar 2018, T – 2 (C‑396/16, EU:C:2018:109, Rn. 36 ff.).
8 Urteile vom 12. Oktober 2017, Lombard Ingatlan Lízing (C‑404/16, EU:C:2017:759, Rn. 38), und vom 15. Mai 2014, Almos Agrárkülkereskedelmi (C‑337/13, EU:C:2014:328, Rn. 34).
9 Beschluss vom 3. März 2021, FGSZ (C‑507/20, EU:C:2021:157, Rn. 31), Urteil vom 15. Oktober 2020, E. (Mehrwertsteuer – Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage) (C‑335/19, EU:C:2020:829, Rn. 51 und 52).
10 Urteil vom 15. Mai 2014, Almos Agrárkülkereskedelmi (C‑337/13, EU:C:2014:328, Rn. 23), unkritisch wiederholt in Urteil vom 12. Oktober 2017, Lombard Ingatlan Lízing (C‑404/16, EU:C:2017:759, Rn. 39).
11 Urteile vom 3. Juli 2019, UniCredit Leasing (C‑242/18, EU:C:2019:558), und vom 23. November 2017, Di Maura (C‑246/16, EU:C:2017:887).
12 In diese Richtung auch Urteile vom 11. November 2021, ELVOSPOL (C‑398/20, EU:C:2021:911, Rn. 38), und vom 3. Juli 2019, UniCredit Leasing (C‑242/18, EU:C:2019:558, Rn. 65).
13 Urteile vom 3. Juli 2019, UniCredit Leasing (C‑242/18, EU:C:2019:558, Rn. 39), vom 12. Oktober 2017, Lombard Ingatlan Lízing (C‑404/16, EU:C:2017:759, Rn. 42), und vom 15. Mai 2014, Almos Agrárkülkereskedelmi (C‑337/13, EU:C:2014:328, Rn. 37).
14 Beschluss vom 3. März 2021, FGSZ (C‑507/20, EU:C:2021:157, Rn. 23).
15 Beschluss vom 3. März 2021, FGSZ (C‑507/20, EU:C:2021:157, Rn. 23), vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Januar 2010, Alstom Power Hydro (C‑472/08, EU:C:2010:32, Rn. 16 und 17 sowie die dort angeführte Rechtsprechung), und vom 12. April 2018, Biosafe – Indústria de Reciclagens (C‑8/17, EU:C:2018:249, Rn. 36 und 37 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
16 Urteile vom 11. November 2021, ELVOSPOL (C‑398/20, EU:C:2021:911, Rn. 25), vom 6. Oktober 2021, Boehringer Ingelheim (C‑717/19, EU:C:2021:818, Rn. 41), vom 15. Oktober 2020, E. (Mehrwertsteuer – Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage) (C‑335/19, EU:C:2020:829, Rn. 21), vom 2. Juli 2015, NLB Leasing (C‑209/14, EU:C:2015:440, Rn. 35), und vom 3. Juli 1997, Goldsmiths (C‑330/95, EU:C:1997:339, Rn. 15).
17 So ausdrücklich auch Urteile vom 3. September 2014, GMAC UK (C‑589/12, EU:C:2014:2131, Rn. 31), und vom 26. Januar 2012, Kraft Foods Polska (C‑588/10, EU:C:2012:40, Rn. 26).
18 Der EuGH spricht im Urteil vom 13. März 2014, Malburg (C‑204/13, EU:C:2014:147, Rn. 43), von einem Auslegungsgrundsatz.
19 Urteile vom 13. März 2008, Securenta (C‑437/06, EU:C:2008:166, Rn. 25), und vom 1. April 2004, Bockemühl (C‑90/02, EU:C:2004:206, Rn. 39).
20 Urteile vom 13. März 2014, Malburg (C‑204/13, EU:C:2014:147, Rn. 41), vom 21. April 2005, HE (C‑25/03, EU:C:2005:241, Rn. 57), vom 15. Dezember 2005, Centralan Property (C‑63/04, EU:C:2005:773, Rn. 51), und meine Schlussanträge in der Rechtssache Centralan Property (C‑63/04, EU:C:2005:185, Nr. 25).
21 So noch Urteil vom 24. Oktober 1996, Elida Gibbs (C‑317/94, EU:C:1996:400, Rn. 23).
22 Urteile vom 20. Oktober 1993, Balocchi (C‑10/92, EU:C:1993:846, Rn. 25), und vom 21. Februar 2008, Netto Supermarkt (C‑271/06, EU:C:2008:105, Rn. 21).
23 So ausdrücklich auch Beschluss vom 3. März 2021, FGSZ (C‑507/20, EU:C:2021:157, Rn. 27), mit Hinweis auf Urteile vom 21. März 2018, Volkswagen (C‑533/16, EU:C:2018:204, Rn. 51), und vom 12. April 2018, Biosafe – Indústria de Reciclagens (C‑8/17, EU:C:2018:249, Rn. 44).
24 Beschluss vom 3. März 2021, FGSZ (C‑507/20, EU:C:2021:157, Rn. 28 und Tenor).
25 Beschluss vom 3. März 2021, FGSZ (C‑507/20, EU:C:2021:157, Rn. 19), Urteile vom 12. Oktober 2017, Lombard Ingatlan Lízing (C‑404/16, EU:C:2017:759, Rn. 44), und vom 15. Mai 2014, Almos Agrárkülkereskedelmi (C‑337/13, EU:C:2014:328, Rn. 39).
26 In diesem Sinne ist wohl auch der Beschluss vom 3. März 2021, FGSZ (C‑507/20, EU:C:2021:157), zu verstehen; vgl. auch Urteil vom 23. November 2017, Di Maura (C‑246/16, EU:C:2017:887, Rn. 27 und 28).
27 Urteil vom 23. November 2017, Di Maura (C‑246/16, EU:C:2017:887, Rn. 29).
28 Urteil vom 23. November 2017, Di Maura (C‑246/16, EU:C:2017:887, Rn. 27).
29 Urteile vom 6. Dezember 2012, Bonik (C‑285/11, EU:C:2012:774, Rn. 42), und vom 21. Juni 2012, Mahagében und Dávid (C‑80/11 und C‑142/11, EU:C:2012:373, Rn. 48).
30 So auch Urteil vom 23. November 2017, Di Maura (C‑246/16, EU:C:2017:887, Rn. 27).
31 In diesem Sinne bereits Urteil vom 23. November 2017, Di Maura (C‑246/16, EU:C:2017:887, Rn. 27 und 28).
32 So kam es schon vor, dass eine Bank die Forderungen der Handwerker beglich, deren Auftraggeber zahlungsunfähig geworden ist, um weiteren Schaden für ihr Image abzuwenden – vgl. den Fall bei BFH, Urt. vom 19.10.2001 – V R 75/98, UR 2002, 217.
33 Urteil vom 29. März 2001, Kommission/Frankreich (C‑404/99, EU:C:2001:192, Rn. 40 ff.).
34 Urteil vom 17. September 2002, Town & County Factors (C‑498/99, EU:C:2002:494, Rn. 21 ff.).
35 Richtlinie 2011/7/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 (ABl. 2011, L 48 S. 1).
36 Vgl. dazu bereits Urteil vom 15. Oktober 2020, E. (Mehrwertsteuer – Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage) (C‑335/19, EU:C:2020:829, Rn. 48).
37 Vgl. nur Urteile vom 6. Dezember 2018, Tratave (C‑672/17, EU:C:2018:989, Rn. 35), vom 12. Oktober 2017, Lombard Ingatlan Lízing (C‑404/16, EU:C:2017:759, Rn. 42), und vom 26. Januar 2012, Kraft Foods Polska (C‑588/10, EU:C:2012:40, Rn. 33).
38 Urteile vom 6. Dezember 2018, Tratave (C‑672/17, EU:C:2018:989, Rn. 32), vom 12. Oktober 2017, Lombard Ingatlan Lízing (C‑404/16, EU:C:2017:759, Rn. 42), und vom 15. Mai 2014, Almos Agrárkülkereskedelmi (C‑337/13, EU:C:2014:328, Rn. 37).
39 Urteile vom 6. Dezember 2018, Tratave (C‑672/17, EU:C:2018:989, Rn. 33), vom 12. Oktober 2017, Lombard Ingatlan Lízing (C‑404/16, EU:C:2017:759, Rn. 43), und vom 15. Mai 2014, Almos Agrárkülkereskedelmi (C‑337/13, EU:C:2014:328, Rn. 38).
40 Ähnlich: Beschluss vom 3. März 2021, FGSZ (C‑507/20, EU:C:2021:157, Rn. 19), Urteile vom 12. Oktober 2017, Lombard Ingatlan Lízing (C‑404/16, EU:C:2017:759, Rn. 44), und vom 15. Mai 2014, Almos Agrárkülkereskedelmi (C‑337/13, EU:C:2014:328, Rn. 39).
41 Vgl. Urteile vom 18. Juni 2009, Stadeco (C‑566/07, EU:C:2009:380, Rn. 35), vom 6. November 2003, Karageorgou u. a. (C‑78/02 bis C‑80/02, EU:C:2003:604, Rn. 49), vom 19. September 2000, Schmeink & Cofreth und Strobel (C‑454/98, EU:C:2000:469, Rn. 49), und vom 13. Dezember 1989, Genius (C‑342/87, EU:C:1989:635, Rn. 18).
42 Urteil vom 8. Dezember 2022, Finanzamt Österreich (Endverbrauchern fälschlicherweise in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer) (C‑378/21, EU:C:2022:968, Rn. 23), unter Verweis auf meine Schlussanträge in der selben Rechtssache (C‑378/21, EU:C:2022:657, Nr. 26).
43 Urteil vom 26. Januar 2012, Kraft Foods Polska (C‑588/10, EU:C:2012:40).
44 Urteil vom 26. Januar 2012, Kraft Foods Polska (C‑588/10, EU:C:2012:40, Rn. 33).
45 Urteil vom 26. Januar 2012, Kraft Foods Polska (C‑588/10, EU:C:2012:40, Rn. 32 und 41).
46 In diesem Sinne auch Urteile vom 15. Oktober 2020, E. (Mehrwertsteuer – Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage) (C‑335/19, EU:C:2020:829, Rn. 37), und vom 22. Februar 2018, T – 2 (C‑396/16, EU:C:2018:109, Rn. 35).
47 Urteil vom 15. Oktober 2020, E. (Mehrwertsteuer – Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage) (C‑335/19, EU:C:2020:829, Rn. 42 unter ausdrücklichen Hinweisen auf meine Schlussanträge in der Rechtssache E. (Mehrwertsteuer – Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage) (C‑335/19, EU:C:2020:424, Nrn. 58 bis 60), ausdrücklich auch Urteil vom 28. Mai 2020, World Comm Trading Gfz (C‑684/18, EU:C:2020:403, Rn. 41 und 43).
48 Urteil vom 28. Mai 2020, World Comm Trading Gfz (C‑684/18, EU:C:2020:403, Rn. 41).
49 Vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache HA.EN. (C‑227/21, EU:C:2022:364, Nrn. 61 ff.) und in der Rechtssache Biosafe – Indústria de Reciclagens (C‑8/17, EU:C:2017:927, Nrn. 44 ff.).
50 Ebenso die Schlussanträge des Generalanwalts Campos Sánchez-Bordona in der Rechtssache Volkswagen (C‑533/16, EU:C:2017:823, Nr. 64).
51 Dies scheint auch das Urteil vom 6. Dezember 2018, Tratave (C‑672/17, EU:C:2018:989, Rn. 38), durcheinandergeworfen zu haben.
52 Urteile vom 15. Oktober 2020, E. (Mehrwertsteuer – Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage) (C‑335/19, EU:C:2020:829, Rn. 47), und vom 23. November 2017, Di Maura (C‑246/16, EU:C:2017:887, Rn. 25).
53 Urteil vom 6. Dezember 2018, Tratave (C‑672/17, EU:C:2018:989, Rn. 40 ff.).
54 Urteil vom 6. Dezember 2018, Tratave (C‑672/17, EU:C:2018:989, Rn. 38).
55 Urteil vom 12. Mai 2021, technoRent International u. a. (C‑844/19, EU:C:2021:378, Rn. 40), und vom 14. Mai 2020, Agrobet CZ (C‑446/18, EU:C:2020:369), und vom 28. Februar 2018, Nidera (C‑387/16, EU:C:2018:121, Rn. 25).
56 Urteil vom 12. Mai 2021, technoRent International u. a. (C‑844/19, EU:C:2021:378, Rn. 41). Siehe auch meine Schlussanträge in der Rechtssache technoRent International u. a. (C‑844/19, EU:C:2021:58, Nr. 31).