EuGH: Steuerbefreiungen bei innergemeinschaftlichen Umsätzen – Lieferungen von Gegenständen – Erfüllung der materiellen Anforderungen – Frist für die Vorlage von Beweisen“
EuGH, Urteil vom 2.3.2023 – C‑664/21; Nec Plus Ultra Cosmetics AG gegen Republika Slovenija
ECLI:EU:C:2023:142
Volltext BB-Online BBL2023-597-1
Tenor
Art. 131 und Art. 138 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in Verbindung mit den Grundsätzen der steuerlichen Neutralität, der Effektivität und der Verhältnismäßigkeit sind dahin auszulegen, dass sie, sofern die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität gewahrt sind, einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, die es verbietet, im Lauf des Verwaltungsverfahrens, das zum Erlass des Steuerbescheids geführt hat, insbesondere nach den Steuerprüfungshandlungen, aber vor Erlass dieses Bescheids, neue Beweise vorzulegen und aufzunehmen, die belegen, dass die in Art. 138 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen materiellen Voraussetzungen erfüllt sind.
Aus den Gründen
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 131 und Art. 138 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) sowie der Grundsätze der steuerlichen Neutralität, der Effektivität und der Verhältnismäßigkeit.
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Nec Plus Ultra Cosmetics AG (im Folgenden: Nec) und der Republika Slovenija (Republik Slowenien), vertreten durch das Ministrstvo za finance (Finanzministerium, Slowenien), wegen einer Nacherhebung von Mehrwertsteuer.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 131 der Richtlinie 2006/112, die einzige Bestimmung des Kapitels 1 von Titel IX („Steuerbefreiungen“), sieht vor:
„Die Steuerbefreiungen der Kapitel 2 bis 9 werden unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften und unter den Bedingungen angewandt, die die Mitgliedstaaten zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung dieser Befreiungen und zur Verhinderung von Steuerhinterziehung, Steuerumgehung oder Missbrauch festlegen.“
4 Art. 138 Abs. 1 dieser Richtlinie, der zu Kapitel 4 ihres Titels IX gehört, lautet wie folgt:
„Die Mitgliedstaaten befreien die Lieferungen von Gegenständen, die durch den Verkäufer, den Erwerber oder für ihre Rechnung nach Orten außerhalb ihres jeweiligen Gebiets, aber innerhalb der Gemeinschaft versandt oder befördert werden von der Steuer, wenn diese Lieferung an einen anderen Steuerpflichtigen oder an eine nichtsteuerpflichtige juristische Person bewirkt wird, der/die als solche/r in einem anderen Mitgliedstaat als dem des Beginns der Versendung oder Beförderung der Gegenstände handelt.“
Slowenisches Recht
5 Art. 46 Abs. 1 des Zakon o davku na dodano vrednost (Mehrwertsteuergesetz) vom 4. Februar 2011 (Uradni list RS, Nr. 13/11) sah in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung vor:
„Von der Mehrwertsteuerzahlung sind befreit:
1. Lieferungen von Gegenständen, die durch den Verkäufer, den Erwerber oder eine andere Person auf Rechnung des Verkäufers bzw. Erwerbers vom Gebiet Sloweniens in einen anderen Mitgliedstaat versandt oder befördert werden, wenn diese Lieferung an eine andere steuerpflichtige Person oder an eine nicht steuerpflichtige juristische Person bewirkt wird, die jeweils als solche in diesem anderen Mitgliedstaat handelt“.
6 Art. 140 des Zakon o davčnem postopku (Gesetz über das Steuerverfahren) (Uradni list RS, Nr. 13/11) (im Folgenden: ZDavP-2) bestimmt:
„(1) Die Steuerbehörde erstellt innerhalb von zehn Tagen nach Abschluss der Steuerprüfung ein Protokoll, das sie dem Steuerpflichtigen zustellt. Das Protokoll enthält den festgestellten Sachverhalt, der alle für den Bescheid wesentlichen Tatsachen und Umstände umfasst. In dem Protokoll ist der Steuerpflichtige auf die Möglichkeit von neuen Tatsachen und Beweisen sowie deren Berücksichtigung gemäß Absatz 2 dieses Artikels hinzuweisen. Innerhalb von 20 Tagen nach Zustellung des Protokolls kann der Steuerpflichtige Anmerkungen zu dem Protokoll machen, worüber er im Protokoll zu belehren ist. Die Frist für Anmerkungen wird auf Antrag verlängert, der vom Steuerpflichtigen vor Fristablauf zu stellen ist, wenn für die Fristverlängerung berechtigte Gründe vorliegen. Über die Fristverlängerung wird durch Beschluss entschieden. Eine erneute Fristverlängerung ist nicht zulässig.
(2) Der Steuerpflichtige kann in den Anmerkungen zu dem Protokoll aus Absatz 1 dieses Artikels neue Tatsachen vorbringen und Beweise vorlegen, er hat jedoch zu begründen, warum er diese nicht bereits vor Erlass des Protokolls vorgebracht bzw. vorgelegt hat. Die Steuerbehörde erstellt innerhalb von 30 Tagen nach Erhalt der Anmerkungen ein zusätzliches Protokoll, wenn diese Anmerkungen Einfluss auf die Höhe der Steuerverbindlichkeiten haben. Neue Tatsachen und Beweise finden nur dann Berücksichtigung, wenn sie vor Erlass des Protokolls bestanden und der Steuerpflichtige sie entschuldbar nicht vor Erlass des Protokolls vorbringen bzw. vorlegen konnte. Im Hinblick auf die Zustellung und die Abgabe von Anmerkungen zu dem zusätzlichen Protokoll findet Absatz 1 dieses Artikels Anwendung.“
7 Art. 141 Abs. 1 ZDavP-2 lautet:
„Nach Abschluss der Steuerprüfung erlässt die Steuerbehörde gemäß Art. 84 dieses Gesetzes einen Steuerbescheid bzw. einen Bescheid über die Feststellung von Unregelmäßigkeiten, die keinen Einfluss auf die Höhe der Steuerverbindlichkeiten haben.“
8 Art. 238 Abs. 3 des Zakon o splošnem upravnem postopku (Gesetz über das allgemeine Verwaltungsverfahren) (Uradni list RS, Nr. 24/06) sieht vor:
„Im Einspruch kann der Einspruchsführer neue Tatsachen und neue Beweise vorbringen, er hat jedoch zu begründen, warum er diese nicht bereits im erstinstanzlichen Verfahren vorgebracht hat. Neue Tatsachen und neue Beweise werden nur dann als Einspruchsgründe berücksichtigt, wenn sie zum Zeitpunkt der Entscheidung im erstinstanzlichen Verfahren bestanden haben und der Beteiligte berechtigte Gründe dafür hatte, warum er diese nicht in der Anhörung vorlegen bzw. vorbringen konnte.“
9 Art. 52 des Zakon o Zakon o upravnem sporu (Gesetz über das verwaltungsgerichtliche Verfahren) (Uradni list RS, Nr. 105/06) bestimmt:
„Der Kläger kann in der Klage neue Tatsachen und neue Beweise anführen, wobei er jedoch zu begründen hat, warum er diese nicht bereits im Verfahren des Erlasses des Verwaltungsakts vorgebracht hat. Neue Tatsachen und neue Beweise können als Klagegründe nur Berücksichtigung finden, wenn sie zum Zeitpunkt der Entscheidung im erstinstanzlichen Verfahren des Erlasses des Verwaltungsakts bestanden haben und die Partei berechtigte Gründe dafür hatte, warum sie diese im Verfahren des Erlasses des Verwaltungsakts nicht vorlegen bzw. vorbringen konnte.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
10 Nec, die Klägerin des Ausgangsverfahrens, ist eine Gesellschaft mit Sitz in der Schweiz. Im Jahr 2017 lieferte sie Kosmetikprodukte an einen Kunden mit Sitz in Kroatien und in einem Fall an einen Kunden mit Sitz in Rumänien. Nach dem Vorbringen von Nec wurden diese Waren, die sich in einem Lager in Slowenien befunden hätten, von einem Käufer in Kroatien oder einem Dritten, der für Rechnung des Käufers gehandelt habe, übernommen und von Slowenien in einen anderen Mitgliedstaat befördert. Die fraglichen Lieferungen seien daher von der Mehrwertsteuerbefreiung erfasst gewesen, die für die Lieferung von Gegenständen im Gebiet der Europäischen Union in Art. 46 Abs. 1 des Mehrwertsteuergesetzes in der auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung vorgesehen gewesen sei.
11 Im Rahmen eines Steuerprüfungsverfahrens in Bezug auf die für das Jahr 2017 geschuldete Mehrwertsteuer überprüfte die Finančna uprava Republike Slovenije (Steuerverwaltung der Republik Slowenien, im Folgenden: erstinstanzliche Steuerbehörde) bei Nec die Register und Unterlagen über die Lieferungen von Gegenständen und die Erbringung von Dienstleistungen in andere(n) Mitgliedstaaten. Mit Bescheid vom 14. Februar 2019 forderte sie Nec zur Vorlage der gesamten Unterlagen bezüglich der betreffenden Lieferungen auf.
12 Auf diesen Bescheid hin legte Nec Rechnungen und Kopien von Frachtbriefen vor, mit denen sie nachwies, dass Gegenstände von Slowenien in einen anderen Mitgliedstaat befördert worden waren. Die Lieferscheine bzw. andere in den Frachtbriefen aufgeführte Urkunden waren der erstinstanzlichen Steuerbehörde damals nicht vorgelegt worden, wobei Nec angegeben hatte, dass sie nicht über alle Urkunden verfüge und versuchen werde, diese zu erhalten.
13 Am 1. April 2019 erließ die erstinstanzliche Steuerbehörde ein Steuerprüfungsprotokoll und stellte dieses Nec zu. In ihren fristgerecht eingereichten Anmerkungen zu dem Protokoll legte Nec Kopien von Kostenvoranschlägen und Lieferscheinen vor, denen zufolge die fraglichen Gegenstände in einen anderen Mitgliedstaat als Slowenien geliefert worden seien. Außerdem begründete Nec die verspätete Vorlage dieser Beweise damit, dass ihr Büro in Hamburg (Deutschland), das für die Lieferungen nach Kroatien verantwortlich gewesen sei, seine Tätigkeit im August 2018 eingestellt und ihr nicht alle erforderlichen Unterlagen fristgemäß übergeben habe.
14 Am 30. Mai 2019 erließ die erstinstanzliche Steuerbehörde einen Steuerbescheid, mit dem sie das erstinstanzliche Verwaltungsverfahren abschloss und von Nec die Zahlung eines zusätzlichen Mehrwertsteuerbetrags für das Jahr 2017 verlangte. Hierfür stellte sie fest, dass Nec mit Rechnungen und Frachtbriefen nicht nachgewiesen habe, dass die fraglichen Gegenstände tatsächlich in einen anderen Mitgliedstaat als Slowenien befördert worden seien. Sie war daher der Ansicht, dass die Voraussetzungen für die Befreiung der Lieferungen von der Mehrwertsteuer nicht erfüllt seien. In diesem Zusammenhang ließ sie die nach Erlass des Protokolls vorgelegten Beweise aufgrund ihrer verspäteten Vorlage und gemäß Art. 140 Abs. 2 ZDavP-2 unberücksichtigt.
15 Der von Nec gegen den Steuerbescheid eingelegte Einspruch wurde vom Finanzministerium als zweitinstanzlicher Steuerbehörde abgelehnt, das die Beurteilung der erstinstanzlichen Steuerbehörde bestätigte. Auch die von Nec gegen den Bescheid dieses Ministeriums erhobene Klage wurde mit Urteil des Upravno sodišče (Verwaltungsgericht, Slowenien) aus vergleichbaren Gründen abgewiesen, wie sie sich aus den Bescheiden der Steuerbehörden ergaben.
16 In der Folge beantragte Nec die Zulassung einer Revision gegen dieses Urteil beim Vrhovno sodišče (Oberster Gerichtshof, Slowenien), dem vorlegenden Gericht. Mit Beschluss vom 18. November 2020 gab dieses Gericht diesem Antrag teilweise statt, insbesondere um eine von ihm für wichtig erachtete Rechtsfrage zu klären, nämlich ob die in Art. 140 Abs. 2 ZDavP-2 vorgesehene Ausschlussfrist für die Vorlage von Beweisen in einem Steuerverfahren nach Erlass eines Steuerprüfungsprotokolls Vorrang vor dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität des Mehrwertsteuersystems haben kann.
17 Das Vrhovno sodišče (Oberster Gerichtshof) weist darauf hin, dass die Richtlinie 2006/112 nicht den Zeitpunkt festlege, nach dem ein Lieferant von Gegenständen im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens oder eines gerichtlichen Verfahrens keine Beweise für die Erfüllung der Voraussetzungen für die Mehrwertsteuerbefreiung nach Art. 138 Abs. 1 dieser Richtlinie mehr vorlegen könne. Art. 131 der Richtlinie sehe lediglich vor, dass die Steuerbefreiungen der Kapitel 2 bis 9 der Richtlinie unter von den Mitgliedstaaten festgelegten Bedingungen angewandt würden.
18 In diesem Zusammenhang verweist das vorlegende Gericht insbesondere auf die Rechtssache, in der das Urteil vom 9. September 2021, GE Auto Service Leasing (C-294/20, EU:C:2021:723), ergangen ist, in der der Gerichtshof eine ähnliche Frage angesprochen habe. Der Sachverhalt und der rechtliche Rahmen in jener Rechtssache seien jedoch im Wesentlichen nicht mit dem Rechtsstreit vergleichbar, der beim vorlegenden Gericht anhängig sei. Daher fragt sich das vorlegende Gericht, ob die in diesem Urteil ergangene Entscheidung auch auf diesen Rechtsstreit übertragen werden könne.
19 In dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit werde der Grundsatz der Rechtssicherheit hinreichend durch die Ausschlussfristen geschützt, die für die Erhebung einer Klage nach Erlass des Steuerbescheids vorgesehen seien, sowie durch die Regelung, die für die Berücksichtigung von neuen Tatsachen und Beweisen im Rahmen des Einspruchsverfahrens und des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens gelte.
20 Unter diesen Umständen hat das Vrhovno sodišče (Oberster Gerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Stehen die Bestimmungen der Richtlinie 2006/112, insbesondere Art. 131 und Art. 138 Abs. 1, sowie die Unionsrechtsgrundsätze, insbesondere die Grundsätze der steuerlichen Neutralität, der Effektivität und der Verhältnismäßigkeit, einer nationalen Regelung entgegen, die die Vorlage und Aufnahme neuer Beweise, mit denen die Erfüllung der materiellen Anforderungen aus Art. 138 Abs. 1 dieser Richtlinie nachgewiesen wird, bereits während des erstinstanzlichen Verwaltungsverfahrens, konkret in den Anmerkungen zu dem vor Erlass des Steuerbescheids ergangenen Steuerprüfungsprotokoll, verbietet?
Zur Vorlagefrage
21 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 131 und Art. 138 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit den Grundsätzen der steuerlichen Neutralität, der Effektivität und der Verhältnismäßigkeit einer nationalen Regelung entgegenstehen, die es verbietet, im Lauf des Verwaltungsverfahrens, das zum Erlass des Steuerbescheids geführt hat, insbesondere nach den Steuerprüfungshandlungen, aber vor Erlass dieses Bescheids, neue Beweise vorzulegen und aufzunehmen, die belegen, dass die in Art. 138 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen materiellen Voraussetzungen erfüllt sind.
22 Der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Recht auf Vorsteuerabzug ist zu entnehmen, dass das gemeinsame Mehrwertsteuersystem die Neutralität hinsichtlich der steuerlichen Belastung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten unabhängig von ihrem Zweck oder ihrem Ergebnis gewährleisten muss, sofern diese Tätigkeiten selbst grundsätzlich der Mehrwertsteuer unterliegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. November 2020, Kommission/Deutschland [Erstattung der Mehrwertsteuer – Rechnungen], C-371/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:936, Rn. 77).
23 Der Gerichtshof hat wiederholt entschieden, dass das Recht auf Vorsteuerabzug, und damit auch der Erstattungsanspruch, integraler Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer ist und grundsätzlich nicht eingeschränkt werden kann. Dieses Recht kann für die gesamte Steuerbelastung der vorausgehenden Umsatzstufen sofort ausgeübt werden (Urteil vom 18. November 2020, Kommission/Deutschland [Erstattung der Mehrwertsteuer – Rechnungen], C-371/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:936, Rn. 79 und die dort angeführte Rechtsprechung).
24 Ebenfalls im Bereich des Rechts auf Vorsteuerabzug hat der Gerichtshof außerdem entschieden, dass das Grundprinzip der Neutralität der Mehrwertsteuer erfordert, dass Vorsteuerabzug oder Mehrwertsteuererstattung gewährt wird, wenn die materiellen Anforderungen erfüllt sind, selbst wenn der Steuerpflichtige bestimmten formellen Anforderungen nicht genügt hat. Anders verhält es sich allerdings, wenn der Verstoß gegen die formellen Anforderungen den sicheren Nachweis verhindert hat, dass die materiellen Anforderungen erfüllt wurden (Urteil vom 18. November 2020, Kommission/Deutschland [Erstattung der Mehrwertsteuer – Rechnungen], C-371/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:936, Rn. 80 und 81 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
25 Diese Erwägungen gelten auch für die Regeln zur Bestimmung der mehrwertsteuerpflichtigen Umsätze, insbesondere für die Regeln über die Steuerbefreiung solcher Umsätze, wie sie in den Art. 131 und 138 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 über die Befreiung innergemeinschaftlicher Lieferungen enthalten sind.
26 Nach Art. 138 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 befreien die Mitgliedstaaten die Lieferungen von Gegenständen, die durch den Verkäufer, den Erwerber oder für ihre Rechnung nach Orten außerhalb ihres jeweiligen Gebiets, aber innerhalb der Union versandt oder befördert werden, von der Steuer, wenn diese Lieferung an einen anderen Steuerpflichtigen oder an eine nicht steuerpflichtige juristische Person bewirkt wird, der/die als solche/r in einem anderen Mitgliedstaat als dem des Beginns der Versendung oder Beförderung der Gegenstände handelt.
27 Wie der Vorlageentscheidung zu entnehmen ist, geht es im Ausgangsverfahren nicht um einen Verstoß gegen formelle Anforderungen, der den Nachweis verhindern würde, dass die materiellen Anforderungen an das Recht auf Mehrwertsteuerbefreiung für die in Rede stehenden Lieferungen erfüllt wurden, sondern um den Zeitpunkt, zu dem dieser Nachweis erbracht werden kann.
28 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof zu den Bestimmungen der Achten Richtlinie 79/1072/EWG des Rates vom 6. Dezember 1979 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Verfahren zur Erstattung der Mehrwertsteuer an nicht im Inland ansässige Steuerpflichtige (ABl. 1979, L 331, S. 11, im Folgenden: Achte Mehrwertsteuerrichtlinie) hinsichtlich des Anspruchs auf Erstattung der Mehrwertsteuer entschieden hat, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, wonach der Anspruch auf Mehrwertsteuererstattung versagt werden kann, wenn ein Steuerpflichtiger ohne berechtigten Grund und trotz der an ihn gerichteten Auskunftsverlangen nicht die Unterlagen vorlegt, die den Nachweis ermöglichen, dass die materiellen Voraussetzungen für die Erstattung erfüllt sind, bevor die Steuerverwaltung ihre Entscheidung erlässt. Gleichwohl hindern diese Bestimmungen die Mitgliedstaaten nicht daran, die Vorlage solcher Nachweise nach einer solchen Entscheidung zuzulassen (Urteil vom 9. September 2021, GE Auto Service Leasing, C-294/20, EU:C:2021:723, Rn. 58).
29 Wie der Gerichtshof weiter entschieden hat, richtet sich die Einführung nationaler Vorschriften, nach denen Nachweise, die nach Erlass der einen Erstattungsantrag zurückweisenden Entscheidung vorgelegt werden, nicht berücksichtigt werden dürfen, da sie nicht in der Achten Mehrwertsteuerrichtlinie geregelt ist, gemäß dem Grundsatz der Verfahrensautonomie nach dem innerstaatlichen Recht der einzelnen Mitgliedstaaten; dabei dürfen diese Vorschriften aber nicht ungünstiger sein als diejenigen, die gleichartige interne Sachverhalte regeln (Äquivalenzgrundsatz), und die Ausübung der vom Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder sie übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) (Urteil vom 9. September 2021, GE Auto Service Leasing, C-294/20, EU:C:2021:723, Rn. 59).
30 Auf dieser Grundlage hat der Gerichtshof für Recht erkannt, dass die Bestimmungen der Achten Mehrwertsteuerrichtlinie und die Grundsätze des Unionsrechts, insbesondere der Grundsatz der steuerlichen Neutralität, dahin auszulegen sind, dass sie es nicht verbieten, einen Antrag auf Erstattung der Mehrwertsteuer abzulehnen, wenn der Steuerpflichtige der zuständigen Steuerverwaltung selbst auf deren Aufforderung hin nicht innerhalb der gesetzten Frist alle in dieser Richtlinie vorgeschriebenen Dokumente vorgelegt und Auskünfte erteilt hat, ungeachtet dessen, dass er diese Dokumente und Auskünfte im Überprüfungsverfahren oder im gerichtlichen Verfahren über die Klage gegen die einen solchen Erstattungsanspruch versagende Entscheidung von sich aus vorgelegt bzw. erteilt hat, sofern die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität gewahrt werden (Urteil vom 9. September 2021, GE Auto Service Leasing, C-294/20, EU:C:2021:723, Rn. 63 und Tenor).
31 Diese Rechtsprechung ist auf die Bestimmungen der Richtlinie 2006/112 über die Befreiung der Lieferungen von Gegenständen, die nach Orten außerhalb des Hoheitsgebiets eines Mitgliedstaats, aber innerhalb der Union versandt oder befördert werden, insbesondere auf Art. 138 Abs. 1 dieser Richtlinie, entsprechend übertragbar.
32 In Anbetracht von Art. 131 der Richtlinie 2006/112, wonach die Steuerbefreiungen der Kapitel 2 bis 9 dieser Richtlinie, zu denen die Steuerbefreiung nach Art. 138 Abs. 1 der Richtlinie gehört, unbeschadet sonstiger Unionsvorschriften und unter den Bedingungen angewandt werden, die die Mitgliedstaaten zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung dieser Befreiungen und zur Verhinderung von Steuerhinterziehung, Steuerumgehung oder Missbrauch festlegen, richtet sich daher die Einführung nationaler Vorschriften, nach denen Beweise, die wie im Ausgangsrechtsstreit im Rahmen einer Nacherhebung von Mehrwertsteuer vorgelegt werden, nicht berücksichtigt werden dürfen, gemäß dem Grundsatz der Verfahrensautonomie nach dem innerstaatlichen Recht der einzelnen Mitgliedstaaten; dabei dürfen diese Vorschriften aber nicht ungünstiger sein als diejenigen, die gleichartige interne Sachverhalte regeln (Äquivalenzgrundsatz), und die Ausübung der vom Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder sie übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) (vgl. entsprechend Urteil vom 9. September 2021, GE Auto Service Leasing, C-294/20, EU:C:2021:723, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).
33 Was erstens den Effektivitätsgrundsatz betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass die Möglichkeit, im Rahmen eines Verfahrens zur Nacherhebung von Mehrwertsteuer ohne jede zeitliche Beschränkung zusätzliche Beweise vorzulegen, dem Grundsatz der Rechtssicherheit zuwiderliefe, der verlangt, dass die steuerliche Lage des Steuerpflichtigen in Anbetracht seiner Rechte und Pflichten gegenüber der Steuerverwaltung nicht unbegrenzt offenbleiben kann (vgl. entsprechend Urteil vom 9. September 2021, GE Auto Service Leasing, C-294/20, EU:C:2021:723, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).
34 Allerdings ist festzustellen, dass die Nichtberücksichtigung der Beweise, die die Erfüllung der Voraussetzungen für die Mehrwertsteuerbefreiung innergemeinschaftlicher Lieferungen von Gegenständen belegen, zu einer Situation führt, in der der Grundsatz der steuerlichen Neutralität, dessen Bedeutung für das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in den Rn. 28 bis 30 des vorliegenden Urteils in Erinnerung gerufen worden ist und der grundsätzlich nicht eingeschränkt werden kann, in Bezug auf die betreffenden wirtschaftlichen Tätigkeiten missachtet wird.
35 Folglich kann zwar das Recht auf Befreiung von der Mehrwertsteuer in bestimmten Situationen verweigert werden, insbesondere weil der betreffende Wirtschaftsteilnehmer die für die Feststellung des Bestehens dieses Rechts erforderlichen Beweise nach mehreren erfolglosen Mahnungen der Steuerverwaltung verspätet vorgelegt hat, während das Verfahren bereits gerichtlich anhängig war – wie in der Rechtssache, in der das Urteil vom 9. September 2021, GE Auto Service Leasing (C-294/20, EU:C:2021:723), ergangen ist –, aber dennoch hat die Steuerverwaltung, wenn sie einem Steuerpflichtigen die Mehrwertsteuerbefreiung in einem frühen Stadium des Steuerverfahrens verweigert, die strikte Einhaltung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität zu gewährleisten.
36 So kann zwar die Steuerverwaltung, wenn sie gegen eine steuerpflichtige Person zu dem Zeitpunkt, zu dem diese zusätzliche Beweise vorlegt, die das von ihr geltend gemachte Recht stützen, noch keinen Steuerbescheid erlassen hat, dieser Person die Berücksichtigung der Beweise verweigern; die Nichtberücksichtigung muss allerdings auf besondere Umstände gestützt werden, wie insbesondere auf das Fehlen jeglicher Rechtfertigung für die eingetretene Verzögerung oder darauf, dass die Verzögerung zu Steuerausfällen geführt habe.
37 Die Nichtberücksichtigung von Beweisen vor dem Erlass eines solchen Steuerbescheids ist nämlich geeignet, die Ausübung der vom Unionsrecht anerkannten Rechte übermäßig zu erschweren, da eine solche Nichtberücksichtigung die Möglichkeit der steuerpflichtigen Person einschränkt, Beweise für die Erfüllung der materiellen Voraussetzungen für eine Mehrwertsteuerbefreiung vorzulegen. Eine nationale Regelung, die es einer steuerpflichtigen Person in diesem Stadium des Steuerverfahrens nicht gestattet, die noch fehlenden Beweise beizubringen, um das von ihr geltend gemachte Recht zu stützen, und die etwaige Erläuterungen zu den Gründen, aus denen diese Beweise nicht früher vorgelegt wurden, unberücksichtigt lässt, ist somit offensichtlich schwerlich mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie mit dem Grundprinzip der Neutralität der Mehrwertsteuer vereinbar.
38 Im vorliegenden Fall ist es Sache des vorlegenden Gerichts, im Licht der vorstehenden Erwägungen zu beurteilen, ob die Nichtberücksichtigung dieser Beweise mit dem Effektivitätsgrundsatz vereinbar ist.
39 In diesem Zusammenhang muss das vorlegende Gericht insbesondere berücksichtigen, dass das Steuerprüfungsprotokoll nach seinen eigenen Angaben das Steuerprüfungsverfahren nicht abschließt und nur eine zwischengeschaltete Verfahrenshandlung darstellt, mit der die steuerpflichtige Person lediglich über den von der erstinstanzlichen Steuerbehörde festgestellten Sachverhalt und die Möglichkeit zu Anmerkungen informiert werden soll.
40 Zu dem Einwand der Klägerin des Ausgangsverfahrens, die Republik Slowenien habe kürzlich eine Änderung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften in Angriff genommen, mit der u. a. die Bestimmung aufgehoben werden solle, wonach neue Tatsachen und Beweise nur dann Berücksichtigung fänden, wenn sie vor Erlass des Protokolls bestanden hätten und die steuerpflichtige Person sie entschuldbar nicht vor dem Erlass habe vorbringen bzw. vorlegen können, genügt die Feststellung, dass diese Partei in keiner Weise vorträgt, dass der im Ausgangsrechtsstreit anwendbare rechtliche Rahmen davon betroffen sei.
41 Zweitens ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob im vorliegenden Fall der Äquivalenzgrundsatz gewahrt ist, der verlangt, dass die nationalen Verfahrensvorschriften, die die Mehrwertsteuerbefreiung für innergemeinschaftliche Lieferungen von Gegenständen regeln, nicht ungünstiger sind als diejenigen, die gleichartige, dem innerstaatlichen Recht unterliegende Sachverhalte regeln (vgl. entsprechend Urteil vom 9. September 2021, GE Auto Service Leasing, C-294/20, EU:C:2021:723, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).
42 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 131 und Art. 138 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit den Grundsätzen der steuerlichen Neutralität, der Effektivität und der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen sind, dass sie, sofern die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität gewahrt sind, einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, die es verbietet, im Lauf des Verwaltungsverfahrens, das zum Erlass des Steuerbescheids geführt hat, insbesondere nach den Steuerprüfungshandlungen, aber vor Erlass dieses Bescheids, neue Beweise vorzulegen und aufzunehmen, die belegen, dass die in Art. 138 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen materiellen Voraussetzungen erfüllt sind.