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Steuerrecht
16.03.2023
Steuerrecht
EuGH: Steuerbefreiung von Versicherungs- und Rückversicherungsumsätzen – Begriff ‚Versicherungsumsätze‘ – Weiterverkauf von Unfallfahrzeugwracks, die bei Versicherten erworben wurden

EuGH, Urteil vom 9.3.2023 – C‑42/22, Generali Seguros SA, vormals Global – Companhia de Seguros SA, gegen Autoridade Tributária e Aduaneira

ECLI:EU:C:2023:183

Volltext: BB-ONLINE BBL2023-661-2

Tenor

1. Art. 135 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass Umsätze, die darin bestehen, dass ein Versicherungsunternehmen Unfallfahrzeugwracks aus von ihm versicherten Schadensfällen, die es von seinen Versicherten erworben hat, an Dritte verkauft, nicht in den Geltungsbereich dieser Bestimmung fallen.

2. Art. 136 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 ist dahin auszulegen, dass Umsätze, die darin bestehen, dass ein Versicherungsunternehmen Unfallfahrzeugwracks aus von ihm versicherten Schadensfällen, die es von seinen Versicherten erworben hat, an Dritte verkauft, nicht in den Geltungsbereich dieser Bestimmung fallen.

3. Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität, auf dem das gemeinsame Mehrwertsteuersystem beruht, ist dahin auszulegen, dass es ihm nicht zuwiderläuft, dass Umsätze, die darin bestehen, dass ein Versicherungsunternehmen Unfallfahrzeugwracks aus von ihm versicherten Schadensfällen, die es von seinen Versicherten erworben hat, an Dritte verkauft, nicht von der Steuer befreit sind, wenn diese Erwerbe nicht zu einem Recht auf Vorsteuerabzug geführt haben.

 

 

Aus den Gründen

1          Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).

2          Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Generali Seguros SA, vormals Global – Companhia de Seguros SA, einem Versicherungsunternehmen, und der Autoridade Tributária e Aduaneira (Steuer- und Zollbehörde, Portugal) über die Frage, ob durch dieses Unternehmen bewirkte Umsätze aus dem Weiterverkauf von Fahrzeugwracks mehrwertsteuerpflichtig oder ‑befreit sind.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3          Der 66. Erwägungsgrund der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Die Pflicht zur Umsetzung dieser Richtlinie in nationales Recht sollte nur jene Bestimmungen erfassen, die im Vergleich zu den bisherigen Richtlinien inhaltlich geändert wurden. Die Pflicht zur Umsetzung der inhaltlich unveränderten Bestimmungen ergibt sich aus den bisherigen Richtlinien.“

4          Art. 1 Abs. 2 dieser Richtlinie bestimmt:

„Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem beruht auf dem Grundsatz, dass auf Gegenstände und Dienstleistungen, ungeachtet der Zahl der Umsätze, die auf den vor der Besteuerungsstufe liegenden Produktions- und Vertriebsstufen bewirkt wurden, eine allgemeine, zum Preis der Gegenstände und Dienstleistungen genau proportionale Verbrauchsteuer anzuwenden ist.

Bei allen Umsätzen wird die Mehrwertsteuer, die nach dem auf den Gegenstand oder die Dienstleistung anwendbaren Steuersatz auf den Preis des Gegenstands oder der Dienstleistung errechnet wird, abzüglich des Mehrwertsteuerbetrags geschuldet, der die verschiedenen Kostenelemente unmittelbar belastet hat.

…“

5          Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:

„Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:

a)                    Lieferungen von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt tätigt“.

6          Art. 14 Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:

„Als ‚Lieferung von Gegenständen‘ gilt die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen.“

7          In Art. 24 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es:

„Als ‚Dienstleistung‘ gilt jeder Umsatz, der keine Lieferung von Gegenständen ist.“

8          Art. 135 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten befreien folgende Umsätze von der Steuer:

a)                    Versicherungs- und Rückversicherungsumsätze einschließlich der dazugehörigen Dienstleistungen, die von Versicherungsmaklern und ‑vertretern erbracht werden“.

9          Art. 136 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten befreien folgende Umsätze von der Steuer:

a)                    die Lieferungen von Gegenständen, die ausschließlich für eine auf Grund der Artikel 132, 135, 371, 375, 376, 377, des Artikels 378 Absatz 2, des Artikels 379 Absatz 2 sowie der Artikel 380 bis 390 von der Steuer befreite Tätigkeit bestimmt waren, wenn für diese Gegenstände kein Recht auf Vorsteuerabzug bestanden hat“.

10        Die in den Rn. 8 und 9 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Bestimmungen entsprechen Art. 13 Teil B Buchst. a bzw. Art. 13 Teil B Buchst. c der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. 1977, L 145, S. 1, im Folgenden: Sechste Richtlinie).

Portugiesisches Recht

11                   Art. 9 Nrn. 29 und 33 des Código do Imposto sobre o Valor Acrescentado (Mehrwertsteuergesetzbuch), gebilligt durch das Decreto‑Lei n.o 394‑B/84 (gesetzesvertretende Verordnung Nr. 394‑B/84) vom 26. Dezember 1984 (Diário da República I, Serie I‑A, Nr. 297 vom 26. Dezember 1984) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits anwendbaren Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetzbuch) bestimmt:

„Von der Steuer befreit sind:

29) Versicherungs- und Rückversicherungsumsätze sowie damit zusammenhängende Dienstleistungen, die von Versicherungsmaklern und ‑vertretern erbracht werden;

33) Übertragungen von Gegenständen, die ausschließlich für eine steuerbefreite Tätigkeit bestimmt waren, wenn sie nicht Gegenstand des Rechts auf Vorsteuerabzug waren, sowie Übertragungen von Gegenständen, deren Erwerb oder Bestimmung unter Ausschluss des Rechts auf Vorsteuerabzug gemäß Art. 21 Abs. 1 erfolgt ist.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

12        Generali Seguros ist ein Versicherungsunternehmen, das im Rahmen seiner Tätigkeit Unfallfahrzeugwracks aus Schadensfällen seiner Versicherten erwirbt und sie anschließend an Dritte weiterverkauft, ohne auf diese Verkäufe Mehrwertsteuer zu entrichten.

13                   Infolge einer Prüfung für das Geschäftsjahr 2007 vertrat die Steuer- und Zollbehörde den Standpunkt, dass die von Generali Seguros getätigten Verkäufe von Fahrzeugwracks als entgeltliche Übertragungen von körperlichen Gegenständen gemäß dem Mehrwertsteuergesetzbuch der Mehrwertsteuer unterlägen und für sie keine Steuerbefreiung nach diesem Gesetzbuch in Betracht komme. Sie setzte daher Mehrwertsteuer auf diese Verkäufe in Höhe von 17 213,70 Euro zuzüglich Ausgleichszinsen fest.

14                   Generali Seguros zahlte diesen Betrag, bestritt aber im Rahmen einer beim Tribunal Tributário de Lisboa (Finanzgericht Lissabon, Portugal) erhobenen Klage, insoweit mehrwertsteuerpflichtig zu sein.

15                   Vor diesem Gericht machte Generali Seguros geltend, dass der Verkauf von Fahrzeugwracks unter den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Umständen als mehrwertsteuerbefreiter Umsatz einzustufen sei. Sie berief sich zum einen auf Art. 9 Nr. 29 des Mehrwertsteuergesetzbuchs, wonach „Versicherungs- und Rückversicherungsumsätze sowie damit zusammenhängende Dienstleistungen, die von Versicherungsmaklern und ‑vertretern erbracht werden“, von der Steuer befreit seien, und zum anderen auf Art. 9 Nr. 33 des Mehrwertsteuergesetzbuchs, wonach „Übertragungen von Gegenständen, die ausschließlich für eine steuerbefreite Tätigkeit bestimmt waren, wenn sie nicht Gegenstand des Rechts auf Vorsteuerabzug waren“, von der Steuer befreit seien.

16                   Mit Urteil vom 30. Dezember 2017 wies das Gericht die Klage von Generali Seguros ab.

17                   Diese legte gegen das Urteil beim Supremo Tribunal Administrativo (Oberstes Verwaltungsgericht, Portugal), dem vorlegenden Gericht, Rechtsmittel ein.

18                   Vor diesem Gericht macht Generali Seguros geltend, der Umsatz aus dem Weiterverkauf von Fahrzeugwracks durch ein eine Haupttätigkeit der Versicherung ausübendes Unternehmen hänge mit dieser Tätigkeit zusammen und sei untrennbar mit der normalen Tätigkeit des Aushandelns und Auszahlens der Entschädigung bei einem Schadensfall verbunden, so dass sie zum Zweck dieses Unternehmens gehöre.

19                   Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die Frage, ob ein solcher Umsatz nach Art. 9 Nr. 29 oder 33 des Mehrwertsteuergesetzbuchs – Bestimmungen, mit denen Art. 13 Teil B Buchst. a bzw. c der Sechsten Richtlinie in portugiesisches Recht umgesetzt werden soll – von der Mehrwertsteuer befreit sei, in der Lehre und in der Rechtsprechung in Portugal sehr umstritten sei. Daher sei es verpflichtet, dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen, um die Einstufung dieser Umsätze anhand der einschlägigen Bestimmungen dieser Richtlinie und der Mehrwertsteuerrichtlinie zu überprüfen.

20                   Unter diesen Umständen hat das Supremo Tribunal Administrativo (Oberstes Verwaltungsgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Sind Art. 13 Teil B Buchst. a der Sechsten Richtlinie und folglich Art. 135 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen, dass der Begriff „Versicherungs- und Rückversicherungsumsätze“ für die Zwecke der Mehrwertsteuerbefreiung mit diesen Umsätzen zusammenhängende oder diese ergänzende Tätigkeiten wie den Erwerb und den Verkauf von Fahrzeugwracks umfasst?

2. Sind Art. 13 Teil B Buchst. c der Sechsten Richtlinie und folglich Art. 136 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen, dass der Erwerb und der Verkauf von Fahrzeugwracks als ausschließlich für eine von der Steuer befreite Tätigkeit bestimmt anzusehen sind, wenn für diese Gegenstände kein Recht auf Vorsteuerabzug bestanden hat?

3. Verstößt es gegen den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer, den Verkauf von Fahrzeugwracks durch Versicherer nicht von der Mehrwertsteuer zu befreien, wenn kein Recht auf Vorsteuerabzug bestand?

Zu den Vorlagefragen

21                   Mit seinen Fragen möchte das vorlegende Gericht wissen, wie im Hinblick auf das gemeinsame Mehrwertsteuersystem Umsätze zu behandeln sind, die darin bestehen, dass ein Versicherungsunternehmen Unfallfahrzeugwracks aus von ihm versicherten Schadensfällen, die es von seinen Versicherten erworben hat, an Dritte weiterverkauft.

22                   Zunächst ist, was das im Ausgangsrechtsstreit zeitlich anwendbare Unionsrecht betrifft, festzustellen, dass die Mehrwertsteuerrichtlinie nach ihrem Art. 413 am 1. Januar 2007 in Kraft getreten ist. Im 66. Erwägungsgrund dieser Richtlinie heißt es, dass die Pflicht zu ihrer Umsetzung in nationales Recht nur jene Bestimmungen erfassen sollte, die im Vergleich zu den bisherigen Richtlinien inhaltlich geändert wurden, und dass sich die Pflicht zur Umsetzung der inhaltlich unveränderten Bestimmungen aus den bisherigen Richtlinien ergibt.

23                   Art. 135 Abs. 1 Buchst. a und Art. 136 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie entsprechen Art. 13 Teil B Buchst. a und Art. 13 Teil B Buchst. c der Sechsten Richtlinie, so dass sich die Pflicht zu ihrer Umsetzung aus der letztgenannten Richtlinie ergibt. Folglich ist die Mehrwertsteuerrichtlinie auf das Ausgangsverfahren anwendbar, da sich dieses auf Nacherhebungsbescheide für das Jahr 2007 bezieht (vgl. entsprechend Urteil vom 4. Oktober 2017, Federal Express Europe, C‑273/16, EU:C:2017:733, Rn. 30 und 31).

24                   Darüber hinaus ist auch darauf hinzuweisen, dass die vorgelegten Fragen zwar Umsätze betreffen, die darin bestehen, dass ein Versicherungsunternehmen seinen Versicherten gehörende Unfallfahrzeugwracks kauft und diese an Dritte weiterverkauft, aus der Vorlageentscheidung jedoch hervorgeht, dass es im Ausgangsrechtsstreit nur um die mehrwertsteuerliche Behandlung eines solchen Umsatzes aus dem Weiterverkauf geht.

25                   Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, die ihm die Entscheidung dieses Rechtsstreits ermöglicht, sind die Vorlagefragen deshalb dahin umzuformulieren, dass sie sich nur auf die Umsätze beziehen, die ein Versicherungsunternehmen dadurch bewirkt, dass es Unfallfahrzeugwracks, die es von seinen Versicherten erworben hat, an Dritte weiterverkauft.

Zur ersten Frage

26                   Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 135 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass Umsätze, die darin bestehen, dass ein Versicherungsunternehmen Unfallfahrzeugwracks aus von ihm versicherten Schadensfällen, die es von seinen Versicherten erworben hat, an Dritte verkauft, in den Geltungsbereich dieser Bestimmung fallen und daher nach dieser Bestimmung von der Steuer befreit sind.

27                   Zunächst ist festzustellen, dass zum einen aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervorgeht, dass der Versicherte und das Versicherungsunternehmen im Rahmen der portugiesischen Regelung über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung bei Schadensfällen, die zum Totalschaden des versicherten Fahrzeugs führen, die Möglichkeit haben, sich für die Übertragung des Eigentums an dem Fahrzeugwrack auf das Versicherungsunternehmen zu entscheiden. Hierzu hat das Versicherungsunternehmen dem Versicherten den Wert mitzuteilen, zu dem es bereit ist, das Wrack zu kaufen, damit dieser eine Entscheidung treffen kann. Falls die Übertragung erfolgt, verkauft das Versicherungsunternehmen anschließend, wie in den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Situationen geschehen, das Wrack an einen Dritten weiter. Der Betrag, den das Versicherungsunternehmen an den Versicherten zahlt, enthält den so ermittelten Wert des Wracks.

28                   Zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass die in Art. 135 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Steuerbefreiungen autonome unionsrechtliche Begriffe sind, die eine von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedliche Anwendung des Mehrwertsteuersystems verhindern sollen (Urteil vom 25. Juli 2018, DPAS, C‑5/17, EU:C:2018:592, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung) und daher in allen Mitgliedstaaten einheitlich auszulegen sind.

29                   Darüber hinaus sind die Begriffe, mit denen die in Art. 135 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Steuerbefreiungen umschrieben sind, eng auszulegen, da sie Ausnahmen von dem allgemeinen Grundsatz darstellen, dass jede Lieferung und jede Dienstleistung, die ein Steuerpflichtiger gegen Entgelt erbringt, der Mehrwertsteuer unterliegt. Die Auslegung dieser Begriffe muss jedoch mit den Zielen in Einklang stehen, die mit den Befreiungen verfolgt werden, und den Erfordernissen des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität entsprechen, auf dem das gemeinsame Mehrwertsteuersystem beruht. Daher bedeutet diese Regel enger Auslegung nicht, dass die zur Umschreibung der genannten Befreiungen verwendeten Begriffe so auszulegen sind, dass sie den Befreiungen ihre Wirkung nehmen (Urteil vom 17. Januar 2013, Woningstichting Maasdriel, C‑543/11, EU:C:2013:20, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30                   Im Licht dieser einleitenden Erwägungen ist zu prüfen, ob Umsätze, die darin bestehen, dass ein Versicherungsunternehmen Unfallfahrzeugwracks aus von ihm versicherten Schadensfällen, die es von seinen Versicherten erworben hat, an Dritte verkauft, in den Geltungsbereich von Art. 135 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie fallen.

31                   Nach dieser Bestimmung befreien die Mitgliedstaaten „Versicherungs- und Rückversicherungsumsätze einschließlich der dazugehörigen Dienstleistungen, die von Versicherungsmaklern und ‑vertretern erbracht werden“, von der Steuer.

32                   Der Zweck dieser Befreiung geht im Wesentlichen darauf zurück, dass sich die Festlegung der richtigen Bemessungsgrundlage der Mehrwertsteuer für Versicherungsprämien im Zusammenhang mit der Risikodeckung schwierig gestaltet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Oktober 2020, United Biscuits [Pensions Trustees] und United Biscuits Pension Investments, C‑235/19, EU:C:2020:801, Rn. 32).

33                   Was erstens den Begriff „Versicherungsumsätze“ im Sinne von Art. 135 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie anbelangt, ist es das Wesen solcher Umsätze, dass der Versicherer sich verpflichtet, dem Versicherten gegen vorherige Zahlung einer Prämie beim Eintritt des Versicherungsfalls die bei Vertragsschluss vereinbarte Leistung zu erbringen (Urteile vom 25. Februar 1999, CPP, C‑349/96, EU:C:1999:93, Rn. 17, und vom 8. Oktober 2020, United Biscuits [Pensions Trustees] und United Biscuits Pension Investments, C‑235/19, EU:C:2020:801, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung). Das Wesen dieser Umsätze besteht darin, dass sich der Versicherte gegen das Risiko einer ungewissen, aber potenziell beträchtlichen Vermögenseinbuße absichert und im Gegenzug einen bestimmten, aber begrenzten Beitrag bezahlt (Urteil vom 16. Juli 2015, Mapfre asistencia und Mapfre warranty, C‑584/13, EU:C:2015:488, Rn. 42).

34                   Darüber hinaus ist die Identität des Dienstleistungsempfängers für die Bestimmung der Versicherungsumsätze von Bedeutung, die ihrem Wesen nach eine Vertragsbeziehung zwischen dem Erbringer der Versicherungsdienstleistung und der Person, deren Risiken von der Versicherung gedeckt werden, d. h. dem Versicherten, voraussetzen (vgl. entsprechend Urteile vom 8. März 2001, Skandia, C‑240/99, EU:C:2001:140, Rn. 41, und vom 22. Oktober 2009, Swiss Re Germany Holding, C‑242/08, EU:C:2009:647, Rn. 36).

35                   Umsätze aus dem Verkauf von Unfallfahrzeugwracks wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden werden aufgrund von Verträgen bewirkt, die gegenüber den Versicherungsverträgen über diese Fahrzeuge eigenständig sind, vom Versicherungsunternehmen mit anderen Personen als den Versicherten geschlossen werden und nicht unter ein Versicherungsverhältnis fallen.

36                   Der Verkauf eines Gegenstands hat nämlich mit der Deckung eines Risikos nichts zu tun, und der Preis entspricht dem Wert des Gegenstands zum Zeitpunkt des Verkaufs. Die Festlegung der Bemessungsgrundlage der Mehrwertsteuer bereitet in diesem Fall keine Schwierigkeiten.

37                   Dabei spielt es keine Rolle, dass sich dieser Umsatz, wie in Rn. 27 des vorliegenden Urteils ausgeführt, auf das Unfallfahrzeugwrack aus einem Schadensfall bezieht, der von dem Versicherungsunternehmen, das es verkauft, gedeckt ist, und dass der Betrag der dem Versicherten aus diesem Schadensfall zustehenden Entschädigung den Kaufpreis dieses Wracks enthält. Der Wert des Wracks stellt nämlich den Restwert des versicherten Fahrzeugs nach einem Unfall dar und gehört somit per definitionem nicht zu dem Schaden, der dem Versicherten entstanden ist. Folglich gehört dieser Preis nicht zur eigentlichen Versicherungsleistung, da er an den Versicherten in Erfüllung eines Kaufvertrags gezahlt wird, der gegenüber dem Versicherungsvertrag eigenständig und von diesem trennbar ist.

38                   Daher ist ein Umsatz aus dem Verkauf eines Fahrzeugwracks wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden kein „Versicherungsumsatz“ im Sinne von Art. 135 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie.

39                   Schließlich kann nicht davon ausgegangen werden, dass ein solcher Verkaufsumsatz untrennbar mit dem Versicherungsvertrag für das betreffende Fahrzeug verbunden und deshalb steuerlich genauso zu behandeln ist wie dieser Vertrag.

40                   Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs geht zwar hervor, dass mehrere formal eigenständige Leistungen, die getrennt erbracht werden und damit jede für sich zu einer Besteuerung oder Befreiung führen könnten, unter bestimmten Umständen als einheitlicher Umsatz anzusehen sind, wenn sie nicht voneinander unabhängig sind. Ein einheitlicher Umsatz liegt namentlich vor, wenn die Leistung des Steuerpflichtigen aus zwei oder mehreren Elementen oder Handlungen besteht, die so eng miteinander verbunden sind, dass sie objektiv eine einzige untrennbare wirtschaftliche Leistung bilden, deren Aufspaltung wirklichkeitsfremd wäre. Dies ist auch dann der Fall, wenn eine oder mehrere Leistungen die Hauptleistung und die andere Leistung oder die anderen Leistungen Nebenleistungen darstellen, die steuerlich ebenso zu behandeln sind wie die Hauptleistung (Urteil vom 16. April 2015, Wojskowa Agencja Mieszkaniowa w Warszawie, C‑42/14, EU:C:2015:229, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41                   Der Gerichtshof hat jedoch auch festgestellt, dass zwar naturgemäß jeder Versicherungsumsatz eine Verbindung zu dem Gegenstand aufweist, auf den er sich erstreckt, so dass zwischen diesem Umsatz und einem anderen Umsatz, der sich auf denselben Gegenstand bezieht, ein gewisser Zusammenhang besteht; dieser kann jedoch für sich genommen nicht zur Klärung der Frage ausreichen, ob mehrwertsteuerlich eine einheitliche zusammengesetzte Leistung vorliegt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Januar 2013, BGŻ Leasing, C‑224/11, EU:C:2013:15, Rn. 36).

42                   Im vorliegenden Fall ergeben sich, wie in Rn. 35 des vorliegenden Urteils festgestellt, die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verkäufe von Unfallfahrzeugwracks aus Verträgen, die gegenüber den Versicherungsverträgen über diese Fahrzeuge eigenständig sind und von dem Versicherungsunternehmen mit anderen Personen als den Versicherten geschlossen werden. Darüber hinaus geht aus Rn. 27 des vorliegenden Urteils hervor, dass Letztere, die ursprünglichen Eigentümer dieser Wracks, nicht verpflichtet sind, diese an das Versicherungsunternehmen zu verkaufen, so dass die Entscheidung dieser Versicherten von diesen Versicherungsverträgen unabhängig ist und nach deren Abschluss und sogar nach Eintritt des Versicherungsfalls getroffen wird.

43                   Daher kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Umstand, dass Verkäufe wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden von einem Versicherungsunternehmen getätigt werden und Unfallfahrzeugwracks aus von ihm versicherten Schadensfällen betreffen, zur Folge hat, dass diese Verkäufe und die Versicherungsverträge über diese Fahrzeuge so eng miteinander verbunden sind, dass sie in wirtschaftlicher Hinsicht objektiv ein Ganzes bilden, dessen Trennung wirklichkeitsfremd wäre.

44                   Was zweitens den Begriff „[zu den Versicherungs- und Rückversicherungsumsätzen gehörende] Dienstleistungen, die von Versicherungsmaklern und ‑vertretern erbracht werden“, im Sinne von Art. 135 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass „Dienstleistungen“ in Art. 24 Abs. 1 dieser Richtlinie definiert sind als jeder Umsatz, der keine Lieferung von Gegenständen ist.

45                   Der Verkauf eines Fahrzeugwracks ist eine „Lieferung von Gegenständen“ im Sinne von Art. 14 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie, der sich auf die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen, bezieht. Ein solcher Verkauf kann daher nicht unter den in der vorstehenden Randnummer genannten Begriff fallen.

46                   Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 135 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass Umsätze, die darin bestehen, dass ein Versicherungsunternehmen Unfallfahrzeugwracks aus von ihm versicherten Schadensfällen, die es von seinen Versicherten erworben hat, an Dritte verkauft, nicht in den Geltungsbereich dieser Bestimmung fallen.

 

Zur zweiten Frage

47                   Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 136 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass Umsätze, die darin bestehen, dass ein Versicherungsunternehmen Unfallfahrzeugwracks aus von ihm versicherten Schadensfällen, die es von seinen Versicherten erworben hat, an Dritte verkauft, in den Geltungsbereich dieser Bestimmung fallen und daher nach dieser Bestimmung von der Steuer befreit sind.

48                   Nach Art. 136 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie sind Lieferungen von Gegenständen, die ausschließlich für eine u. a. aufgrund von Art. 135 dieser Richtlinie von der Steuer befreite Tätigkeit bestimmt waren, von der Steuer befreit, wenn für diese Gegenstände kein Recht auf Vorsteuerabzug bestanden hat.

49                   Im Rahmen von Art. 136 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie bezieht sich der Begriff „bestimmt“ darauf, dass ein Gegenstand für eine bestimmte Verwendung bestimmt ist, im vorliegenden Fall zur Verwendung für eine Tätigkeit, die darin besteht, Versicherungsumsätze im Sinne der Rn. 33 und 34 des vorliegenden Urteils zu bewirken.

50                   Dies ist nicht der Fall bei Gegenständen, die ein Versicherungsunternehmen bei von ihm versicherten Schadensfällen erwirbt und die es nicht für ihre Verwendung im Rahmen seiner Versicherungstätigkeit, sondern dafür bestimmt, dass sie in unverändertem Zustand und ohne vorherige Nutzung an Dritte weiterverkauft werden. Dieser letztgenannte Umstand genügt im Übrigen, um festzustellen, dass solche Gegenstände im Rahmen dieser Versicherungstätigkeit nicht von Interesse sind.

51                   Daher ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 136 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass Umsätze, die darin bestehen, dass ein Versicherungsunternehmen Unfallfahrzeugwracks aus von ihm versicherten Schadensfällen, die es von seinen Versicherten erworben hat, an Dritte verkauft, nicht in den Geltungsbereich dieser Bestimmung fallen.

 

Zur dritten Frage

52                   Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der Grundsatz der steuerlichen Neutralität, auf dem das gemeinsame Mehrwertsteuersystem beruht, dahin auszulegen ist, dass es ihm zuwiderläuft, dass Umsätze, die darin bestehen, dass ein Versicherungsunternehmen Unfallfahrzeugwracks aus von ihm versicherten Schadensfällen, die es von seinen Versicherten erworben hat, an Dritte verkauft, nicht von der Steuer befreit sind, wenn diese Erwerbe nicht zu einem Recht auf Vorsteuerabzug geführt haben.

53                   Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität spiegelt sich in der Regelung über den Vorsteuerabzug wider, die den Unternehmer vollständig von der im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlasten soll. Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem gewährleistet daher eine völlige Neutralität hinsichtlich der steuerlichen Belastung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis, sofern diese selbst der Mehrwertsteuer unterliegen (Urteil vom 13. März 2014, Malburg, C‑204/13, EU:C:2014:147, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

54                   Zwar muss, wie sich aus Rn. 29 des vorliegenden Urteils ergibt, die Auslegung der Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie, die Steuerbefreiungen vorsehen, den Erfordernissen des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität entsprechen, doch erlaubt es dieser Grundsatz nicht, den Geltungsbereich einer Steuerbefreiung auszuweiten, ohne dass hierfür eine eindeutige Bestimmung existiert. Dieser Grundsatz ist nämlich keine Regel des Primärrechts, die für den Umfang eines Befreiungstatbestands bestimmend sein könnte, sondern ein Auslegungsgrundsatz, der neben dem Grundsatz der engen Auslegung von Befreiungen anzuwenden ist (Urteile vom 19. Juli 2012, Deutsche Bank, C‑44/11, EU:C:2012:484, Rn. 45, und vom 8. Juli 2021, Rádio Popular, C‑695/19, EU:C:2021:549, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).

55                   Der Ausschluss von Umsätzen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden aus dem Geltungsbereich der in Art. 135 Abs. 1 Buchst. a und Art. 136 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Steuerbefreiungen kann daher nicht mit der Begründung in Frage gestellt werden, dass er gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität verstoße.

56                   Auf die dritte Frage ist daher zu antworten, dass der Grundsatz der steuerlichen Neutralität, auf dem das gemeinsame Mehrwertsteuersystem beruht, dahin auszulegen ist, dass es ihm nicht zuwiderläuft, dass Umsätze, die darin bestehen, dass ein Versicherungsunternehmen Unfallfahrzeugwracks aus von ihm versicherten Schadensfällen, die es von seinen Versicherten erworben hat, an Dritte verkauft, nicht von der Steuer befreit sind, wenn diese Erwerbe nicht zu einem Recht auf Vorsteuerabzug geführt haben.

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