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Steuerrecht
30.03.2023
Steuerrecht
EuGH: Sonderregelungen für Kunstgegenstände – Differenzbesteuerung – Steuerpflichtige Wiederverkäufer –

... Lieferung von Kunstgegenständen durch ihren Urheber oder dessen Rechtsnachfolger

GA Szpunar, Schlussanträge vom 23.3.2023 – C-180/22; Finanzamt Hamm gegen Harry Mensing

Volltext BB-Online BBL2023-789-1

Schlussanträge

Die Art. 312, 315 und 317 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem sind dahin auszulegen, dass die Mehrwertsteuer, die ein steuerpflichtiger Wiederverkäufer auf den innergemeinschaftlichen Erwerb eines Kunstgegenstands entrichtet hat, dessen spätere Lieferung durch diesen steuerpflichtigen Wiederverkäufer der Differenzbesteuerung gemäß Art. 316 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie unterliegt, in die Steuerbemessungsgrundlage dieser späteren Lieferung einzubeziehen ist.

 

Aus den Gründen

Einleitung

1.         Im Urteil vom 29. November 2018, Mensing (C‑264/17, EU:C:2018:968, im Folgenden: Urteil Mensing), hat der Gerichtshof u. a. entschieden, dass Art. 316 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem(2) dahin auszulegen ist, dass ein steuerpflichtiger Wiederverkäufer für die Anwendung der Differenzbesteuerung auf eine Lieferung von Kunstgegenständen optieren kann, die er zuvor im Rahmen einer steuerbefreiten innergemeinschaftlichen Lieferung vom Urheber oder dessen Rechtsnachfolgern erworben hat(3). Dieses Urteil stellt die Vereinbarkeit der deutschen Rechtsvorschriften, die diese Möglichkeit ausschließen, mit der Richtlinie 2006/112 infrage.

2.         In meinen Schlussanträgen in der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, habe ich in Erwiderung auf eines der Argumente, die von der deutschen Regierung zur Verteidigung der angeführten nationalen Rechtsvorschriften vorgebracht wurden, ausgeführt, dass die betreffende Richtlinie tatsächlich eine Regelungslücke enthält, die zur Folge hat, dass Kunstgegenstände, die im Rahmen von steuerbefreiten innergemeinschaftlichen Lieferungen an steuerpflichtige Wiederverkäufer geliefert wurden, teilweise einer Doppelbesteuerung unterliegen(4). Ich habe dabei die Ansicht vertreten, dass diese Lücke durch die Gerichte nicht durch Auslegung der Mehrwertsteuervorschriften geschlossen werden kann, sondern dazu ein Tätigwerden des Unionsgesetzgebers erforderlich ist(5).

3.         Nunmehr will der Bundesfinanzhof (Deutschland) im Rahmen eines Revisionsverfahrens gegen die Entscheidung des nationalen Gerichts, die im Anschluss an das Urteil Mensing ergangen ist, diese Ansicht überprüfen und wirft die Frage auf, ob die angeführte Regelungslücke im Wege der Auslegung der Richtlinie 2006/112 bzw. der betreffenden nationalen Rechtsvorschriften geschlossen werden kann.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

4.         Art. 73 der Richtlinie 2006/112 bestimmt:

„Bei der Lieferung von Gegenständen und Dienstleistungen … umfasst die Steuerbemessungsgrundlage alles, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistungserbringer für diese Umsätze vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger oder einem Dritten erhält oder erhalten soll, einschließlich der unmittelbar mit dem Preis dieser Umsätze zusammenhängenden Subventionen.“

5.         In Art. 78 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie heißt es:

„In die Steuerbemessungsgrundlage sind folgende Elemente einzubeziehen:

a)         Steuern, Zölle, Abschöpfungen und Abgaben mit Ausnahme der Mehrwertsteuer selbst;

b)         Nebenkosten wie Provisions‑, Verpackungs‑, Beförderungs‑ und Versicherungskosten, die der Lieferer oder Dienstleistungserbringer vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger fordert. …“

6.         Art. 83 der angeführten Richtlinie bestimmt:

„Beim innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen setzt sich die Steuerbemessungsgrundlage aus denselben Elementen zusammen wie denen, die zur Bestimmung der Steuerbemessungsgrundlage für die Lieferung derselben Gegenstände innerhalb des Gebiets des Mitgliedstaats gemäß Kapitel 2 dienen. …“

7.         Titel XII Kapitel 4 der Richtlinie 2006/112 stellt Sonderregelungen für Gebraucht‑ und Kunstgegenstände, Sammlungsstücke und Antiquitäten auf. Unterabschnitt 1 im Abschnitt 2 dieses Kapitels regelt die Differenzbesteuerung für steuerpflichtige Wiederverkäufer. Diese Bestimmungen sehen insbesondere vor:

„Artikel 312

Für die Zwecke dieses Unterabschnitts gelten folgende Begriffsbestimmungen:

1.         ‚Verkaufspreis‘ ist die gesamte Gegenleistung, die der steuerpflichtige Wiederverkäufer vom Erwerber oder von einem Dritten erhält oder zu erhalten hat, einschließlich der unmittelbar mit dem Umsatz zusammenhängenden Zuschüsse, Steuern, Zölle, Abschöpfungen und Abgaben sowie der Nebenkosten wie Provisions‑, Verpackungs‑, Beförderungs‑ und Versicherungskosten, die der steuerpflichtige Wiederverkäufer dem Erwerber in Rechnung stellt, mit Ausnahme der in Artikel 79 genannten Beträge;

2.         ‚Einkaufspreis‘ ist die gesamte Gegenleistung gemäß der Begriffsbestimmung unter Nummer 1, die der Lieferer von dem steuerpflichtigen Wiederverkäufer erhält oder zu erhalten hat.

Artikel 313

(1)        Die Mitgliedstaaten wenden auf die Lieferungen von Gebrauchtgegenständen, Kunstgegenständen, Sammlungsstücken und Antiquitäten durch steuerpflichtige Wiederverkäufer eine Sonderregelung zur Besteuerung der von dem steuerpflichtigen Wiederverkäufer erzielten Differenz (Handelsspanne) gemäß diesem Unterabschnitt an. …

Artikel 315

Die Steuerbemessungsgrundlage bei der Lieferung von Gegenständen nach Artikel 314 ist die von dem steuerpflichtigen Wiederverkäufer erzielte Differenz (Handelsspanne), abzüglich des Betrags der auf diese Spanne erhobenen Mehrwertsteuer.

Die Differenz (Handelsspanne) des steuerpflichtigen Wiederverkäufers entspricht dem Unterschied zwischen dem von ihm geforderten Verkaufspreis und dem Einkaufspreis des Gegenstands.

Artikel 316

(1)        Die Mitgliedstaaten räumen den steuerpflichtigen Wiederverkäufern das Recht ein, die Differenzbesteuerung bei der Lieferung folgender Gegenstände anzuwenden: …

b)         Kunstgegenstände, die ihnen vom Urheber oder von dessen Rechtsnachfolgern geliefert wurden; …

Artikel 317

Macht ein steuerpflichtiger Wiederverkäufer von der Option des Artikels 316 Gebrauch, wird die Steuerbemessungsgrundlage gemäß Artikel 315 ermittelt. …

Artikel 319

Der steuerpflichtige Wiederverkäufer kann auf jede der Differenzbesteuerung unterliegende Lieferung die normale Mehrwertsteuerregelung anwenden.

Artikel 320

(1)        …

Wendet der steuerpflichtige Wiederverkäufer die normale Mehrwertsteuerregelung an, ist er berechtigt, bei der Lieferung eines Kunstgegenstands, der ihm von seinem Urheber oder dessen Rechtsnachfolgern oder von einem Steuerpflichtigen, der kein steuerpflichtiger Wiederverkäufer ist, geliefert wurde, die von ihm dafür geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer als Vorsteuer abzuziehen. …

Artikel 322

Sofern die Gegenstände für Lieferungen verwendet werden, die der Differenzbesteuerung unterliegen, darf der steuerpflichtige Wiederverkäufer von seiner Steuerschuld folgende Beträge nicht abziehen: …

b)         die geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer auf Kunstgegenstände, die ihm vom Urheber oder von dessen Rechtsnachfolgern geliefert werden; …“

Deutsches Recht

8.         Die Bestimmungen zur Differenzbesteuerung wurden durch § 25a des Umsatzsteuergesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 21. Februar 2005(6) (im Folgenden: UStG) in deutsches Recht umgesetzt. Abs. 3 dieses Paragrafen lautet:

„Der Umsatz wird nach dem Betrag bemessen, um den der Verkaufspreis den Einkaufspreis für den Gegenstand übersteigt; bei Lieferungen im Sinne des § 3 Abs. 1b und in den Fällen des § 10 Abs. 5 tritt an die Stelle des Verkaufspreises der Wert nach § 10 Abs. 4 Nr. 1. Lässt sich der Einkaufspreis eines Kunstgegenstandes (Nummer 53 der Anlage 2) nicht ermitteln oder ist der Einkaufspreis unbedeutend, wird der Betrag, nach dem sich der Umsatz bemisst, mit 30 Prozent des Verkaufspreises angesetzt. Die Umsatzsteuer gehört nicht zur Bemessungsgrundlage. Im Fall des Absatzes 2 Satz 1 Nr. 1 gilt als Einkaufspreis der Wert im Sinne des § 11 Abs. 1 zuzüglich der Einfuhrumsatzsteuer. Im Fall des Absatzes 2 Satz 1 Nr. 2 schließt der Einkaufspreis die Umsatzsteuer des Lieferers ein.“

9.         § 25a Abs. 7 Nr. 1 Buchst. a UStG schließt die Anwendung der Differenzbesteuerung auf die Lieferungen von Gegenständen aus, die durch die steuerpflichtigen Wiederverkäufer im Wege einer steuerbefreiten Lieferung innergemeinschaftlich erworben werden. Nach dem Erlass des Urteils Mensing scheint diese Bestimmung, soweit sie sich auf Kunstgegenstände bezieht, die den steuerpflichtigen Wiederverkäufern vom Urheber oder dessen Rechtsnachfolgern geliefert werden, offensichtlich gegen Art. 316 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/112 zu verstoßen.

Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen

10.       Herr Harry Mensing ist ein steuerpflichtiger Wiederverkäufer im Sinne von Art. 311 Abs. 1 Nr. 5 der Richtlinie 2006/112 und § 25a Abs. 1 Nr. 1 UStG. Er betreibt Kunstgalerien in verschiedenen Städten in Deutschland. Im Steuerjahr 2014 erwarb er u. a. Kunstgegenstände von Urhebern aus anderen Mitgliedstaaten. Diese Lieferungen wurden zwar in den Ursprungsmitgliedstaaten von der Mehrwertsteuer befreit, doch hat Herr Mensing die auf diese innergemeinschaftlichen Erwerbe entfallende Steuer entrichtet. Er machte dabei keinen Vorsteuerabzug geltend.

11.       Anfang 2014 begehrte Herr Mensing vom Finanzamt Hamm (Deutschland) die Anwendung der Differenzbesteuerung auf die Lieferungen von Kunstgegenständen, die er von ihren Urhebern erworben hatte. Das Finanzamt verweigerte jedoch unter Berufung auf § 25a Abs. 7 Nr. 1 Buchst. a UStG die Anwendung der Differenzbesteuerung in Bezug auf die Kunstgegenstände, die er von den Urhebern aus anderen Mitgliedstaaten erworben hatte, und erhöhte infolgedessen den Betrag der geschuldeten Mehrwertsteuer.

12.       Nach erfolglosem Einspruch klagte Herr Mensing beim Finanzgericht Münster (Deutschland) gegen den Bescheid des Finanzamts Hamm. Es waren die Vorlagefragen dieses Gerichts, die dem Urteil Mensing zugrunde lagen.

13.       In diesem Urteil hat der Gerichtshof entschieden, dass die Differenzbesteuerung auf Kunstgegenstände angewendet werden kann, die steuerpflichtige Wiederverkäufer oder ihre Rechtsnachfolger im Rahmen einer steuerbefreiten innergemeinschaftlichen Lieferung erworben haben, wobei diese Steuerpflichtigen die Vorsteuer, die sie auf den innergemeinschaftlichen Erwerb dieser Kunstgegenstände entrichtet haben, nicht abziehen dürfen(7).

14.       Im Anschluss an dieses Urteil gab das Finanzgericht Münster (Deutschland) der Klage mit Urteil vom 7. November 2019 statt. Das Gericht entschied dabei, dass zu Zwecken der Berechnung der Handelsspanne der Einkaufspreis von Kunstgegenständen um die Mehrwertsteuer erhöht werden müsse, die der steuerpflichtige Wiederverkäufer auf den innergemeinschaftlichen Erwerb entrichtet habe, was eine Verringerung der Bemessungsgrundlage im Rahmen der Differenzbesteuerung zur Folge habe.

15.       Die Steuerverwaltung war mit dieser Auslegung nicht einverstanden und wies darauf hin, dass weder die Bestimmungen der Richtlinie 2006/112 noch die nationalen Rechtsvorschriften eine Grundlage dafür böten, den Einkaufspreis um die Mehrwertsteuer zu erhöhen, die auf den innergemeinschaftlichen Erwerb entrichtet worden sei. Diese Behörde legte daraufhin Revision gegen das angeführte Urteil des Finanzgerichts Münster beim nunmehr vorlegenden Gericht ein. Dieses letztgenannte Gericht hält es für möglich, die nationalen Rechtsvorschriften so auszulegen, wie es in der angefochtenen Entscheidung getan worden sei, hat jedoch Zweifel, ob eine solche Auslegung mit der Richtlinie 2006/112 vereinbar ist.

16.       Unter diesen Umständen hat der Bundesfinanzhof das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.         Ist unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, in denen sich ein Steuerpflichtiger aufgrund des Urteils Mensing darauf beruft, dass auch die Lieferung von Kunstgegenständen, die er zuvor im Rahmen einer steuerbefreiten innergemeinschaftlichen Lieferung vom Urheber (oder dessen Rechtsnachfolgern) erworben hat, unter die Differenzbesteuerung der Art. 311 ff. der Richtlinie 2006/112 fällt, nach Rz. 49 dieses Urteils die Bemessungsgrundlage ausschließlich nach Unionsrecht zu bestimmen, so dass die Auslegung einer Vorschrift des nationalen Rechts (hier: § 25a Abs. 3 Satz 3 UStG), dass die auf den innergemeinschaftlichen Erwerb entfallende Steuer nicht zur Bemessungsgrundlage gehört, durch das letztinstanzliche nationale Gericht nicht zulässig ist?

2.         Falls die Frage 1 bejaht wird: Sind die Art. 311 ff der Richtlinie 2006/112 dahin gehend zu verstehen, dass bei Anwendung der Differenzbesteuerung auf Lieferungen von Kunstgegenständen, die zuvor vom Urheber (oder dessen Rechtsnachfolgern) innergemeinschaftlich erworben wurden, die auf den innergemeinschaftlichen Erwerb entfallende Steuer die Handelsspanne (Marge) mindert, oder liegt insoweit eine planwidrige Lücke des Unionsrechts vor, die nicht von der Rechtsprechung im Wege der Rechtsfortbildung, sondern nur vom Richtliniengeber geschlossen werden darf?

17.       Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 9. März 2022 beim Gerichtshof eingegangen. Herr Mensing, die deutsche Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Der Gerichtshof hat beschlossen, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden.

Würdigung

18.       Das vorlegende Gericht legt dem Gerichtshof zwei Fragen zur Vorabentscheidung vor. Diese betreffen die Möglichkeit, die nationalen Rechtsvorschriften (erste Frage) oder die Bestimmungen der Richtlinie 2006/112 (zweite Frage) dahin auszulegen, dass im Fall der Anwendung der Differenzbesteuerung auf eine Lieferung von Kunstgegenständen durch einen steuerpflichtigen Wiederverkäufer, die er im Rahmen einer innergemeinschaftlichen Lieferung erworben hat, die durch diesen Steuerpflichtigen auf den innergemeinschaftlichen Erwerb entrichtete Steuer nicht in die Steuerbemessungsgrundlage einbezogen wird.

19.       Die erste Frage beruht auf der Annahme, dass die vom vorlegenden Gericht vorgeschlagene Auslegung der nationalen Rechtsvorschriften mit der Richtlinie 2006/112 vereinbar ist. Ob diese Annahme zutrifft, wird jedoch erst die Antwort auf die zweite Frage zeigen. Daher schlage ich vor, zunächst die zweite Vorlagefrage zu prüfen.

Zur zweiten Vorlagefrage

20.       Mit seiner zweiten Vorlagefrage möchte das nationale Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Art. 312, 315 und 317 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen sind, dass die Mehrwertsteuer, die ein steuerpflichtiger Wiederverkäufer auf einen innergemeinschaftlichen Erwerb eines Kunstgegenstands entrichtet hat, dessen spätere Lieferung durch den steuerpflichtigen Wiederverkäufer der Differenzbesteuerung nach Art. 316 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie unterliegt, von der Steuerbemessungsgrundlage dieser späteren Lieferung ausgenommen bleibt. Es ergibt Sinn, der eigentlichen Prüfung dieser Frage einen kurzen Problemaufriss voranzustellen.

Problem der Doppelbesteuerung bei Anwendung der Differenzbesteuerung auf die Lieferung von Kunstgegenständen, die ein steuerpflichtiger Wiederverkäufer im Rahmen einer innergemeinschaftlichen Lieferung erworben hat

21.       Die Mehrwertsteuer ist eine Steuer auf den Umsatz, die kaskadenartig anfällt, d. h., sie wird auf einer jeden Umsatzstufe erhoben, wobei ihre Last jedes Mal im Preis für die Gegenstände und Dienstleistungen weitergereicht wird und letztendlich von den Verbrauchern zu tragen ist. Im Unterschied zu den klassischen Kaskadensteuern kommt es bei der Mehrwertsteuer jedoch zu keiner Kumulation auf den einzelnen Umsatzstufen. Ihr absoluter Betrag erhöht sich jedes Mal proportional zum Mehrwert auf der folgenden Umsatzstufe und belastet letztendlich den Endpreis des Gegenstands oder der Dienstleistung. Dieses Ergebnis wird durch den Abzugsmechanismus erreicht – auf jeder Umsatzstufe verringert sich die Steuerlast um die Steuer, die auf der früheren Umsatzstufe entrichtet wurde.

22.       Waren wie Gebrauchtgegenstände, Kunstgegenstände, Antiquitäten und Sammlerstücke spielen jedoch im Wirtschaftsleben nicht die gleiche Rolle wie solche, die als „Neuwaren“ erstmals an Verbraucher geliefert werden. Solche Gegenstände befinden sich vielfach schon im Besitz von Verbrauchern, die bei ihrem Erwerb die Mehrwertsteuerlast(8) getragen haben und bei ihrem Verkauf nicht als Mehrwertsteuerpflichtige auftreten, so dass auf diesen Verkauf keine Steuer anfällt. Bei einer späteren Lieferung solcher Gegenstände durch steuerpflichtige Wiederverkäufer würde ihre Besteuerung nach den allgemeinen Grundsätzen, d. h. proportional zum Gesamtverkaufspreis, zu einer erneuten Besteuerung dieser Gegenstände führen, für die die Steuer schon einmal entrichtet worden ist.

23.       Aus diesem Grund hat der Unionsgesetzgeber die Differenzbesteuerung eingeführt, die es erlaubt, nur den „Mehrwert“ auf der Stufe der Lieferung durch den steuerpflichtigen Wiederverkäufer zu besteuern, d. h. die von ihm erzielte Handelsspanne, worunter die Differenz zwischen dem von ihm entrichteten Einkaufspreis des Gegenstands und seinem Verkaufspreis zu verstehen ist. Die Mehrwertsteuer fällt folglich nicht proportional auf den gesamten Verkaufspreis an, sondern nur auf den Teil des Preises, der die Handelsspanne darstellt.

24.       Die logische Folge dieser Regelung ist, dass der steuerpflichtige Wiederverkäufer nicht berechtigt ist, die Steuer abzuziehen, die er beim Erwerb des Gegenstands entrichtet hat, dessen Lieferung anschließend der Differenzbesteuerung unterliegt. Wenn die Lieferung der Gegenstände an den steuerpflichtigen Wiederverkäufer steuerfrei ist, stellt sich die Frage des Abzugs nicht, da keine Steuer anfällt, die gegebenenfalls abgezogen werden könnte. Der Unionsgesetzgeber hat die Anwendung der Differenzbesteuerung jedoch auch auf Gegenstände zugelassen, deren Lieferung an den steuerpflichtigen Wiederverkäufer besteuert wird. Dies kann z. B. dann der Fall sein, wenn ein steuerpflichtiger Wiederverkäufer Kunstgegenstände von einem steuerpflichtigen Urheber erwirbt. In dieser Situation, in der keine Abzugsmöglichkeit gegeben ist, wird eine doppelte Besteuerung durch die Art und Weise der Bestimmung der Handelsspanne vermieden, die der Differenz zwischen dem Einkaufspreis des Gegenstands, den der steuerpflichtige Wiederverkäufer bezahlt hat, und seinem Verkaufspreis entspricht, wobei der Einkaufspreis alles umfasst, was der Lieferer vom steuerpflichtigen Wiederverkäufer erlangt hat, einschließlich der geschuldeten Mehrwertsteuer. Diese Steuer wird folglich nicht in die Handelsspanne einbezogen, so dass sie keinen Bestandteil der Steuerbemessungsgrundlage darstellt und keiner Doppelbesteuerung unterliegt.

25.       Die Lage verkompliziert sich jedoch, wenn es um Umsätze geht, bei denen die Steuerpflicht nicht durch eine Lieferung ausgelöst wird, sondern durch den Erwerb des Gegenstands durch den Steuerpflichtigen. Einen dieser Fälle stellt die Einfuhr von Gegenständen von außerhalb des Zollgebiets der Union dar. Bei dem zweiten handelt es sich um innergemeinschaftliche Umsätze (d. h. zwischen verschiedenen Mitgliedstaaten).

26.       Bei innergemeinschaftlichen Umsätzen ist die Lieferung der Gegenstände selbst steuerfrei, wohingegen ihr Erwerb besteuert wird(9). Der offensichtliche Zweck dieser Regelung besteht darin, die Steuerhoheit vom Mitgliedstaat des Verkaufs auf den Mitgliedstaat des Erwerbs zu übertragen, wie es der Grundsatz der Besteuerung am Ort des Verbrauchs fordert. Im Hinblick auf die Differenzbesteuerung hat dies zur Folge, dass die Steuer auf den innergemeinschaftlichen Erwerb, da sie keinen Bestandteil des Einkaufspreises darstellt, den der steuerpflichtige Wiederverkäufer bezahlt hat, automatisch der Handelsspanne hinzugerechnet wird, d. h. der Steuerbemessungsgrundlage für die Lieferung des Gegenstands durch den steuerpflichtigen Wiederverkäufer auf der nächsten Umsatzstufe. Dies führt in gewisser Weise zu einer teilweisen Doppelbesteuerung durch die Kumulation der Steuer – der vom steuerpflichtigen Wiederverkäufer als Steuer auf den innergemeinschaftlichen Erwerb gezahlte Betrag wird anschließend als Bestandteil der Handelsspanne besteuert.

27.       Zwar hat der Unionsgesetzgeber für den vergleichbaren Fall der Einfuhr von außerhalb des Unionszollgebiets mit Art. 317 Abs. 2 der Richtlinie 2006/112 eine entsprechende Bestimmung eingeführt, wonach die für die Einfuhr geschuldete Steuer beim Einkaufspreis des Gegenstands zu berücksichtigen ist, doch fehlt es an einer solchen Regelung in Bezug auf innergemeinschaftliche Lieferungen. Genau dieses Problem der Regelungslücke will das nationale Gericht mit seinem Vorabentscheidungsersuchen in der vorliegenden Rechtssache lösen.

Auslegung der Bestimmungen der Richtlinie 2006/112

28.       Ich möchte daran erinnern, dass nach Art. 315 der Richtlinie 2006/112 die Steuerbemessungsgrundlage bei der Differenzbesteuerung durch die Handelsspanne abzüglich des Betrags der auf diese Spanne erhobenen Mehrwertsteuer gebildet wird. Die Handelsspanne entspricht dem Unterschied zwischen dem Verkaufspreis des Gegenstands im Rahmen der differenzbesteuerten Lieferung und dem Preis seines Erwerbs durch den steuerpflichtigen Wiederverkäufer.

29.       Der Verkaufs- und der Einkaufspreis sind in Art. 312 dieser Richtlinie definiert. Nach dieser Definition ist unter dem „Verkaufspreis“ die gesamte Gegenleistung zu verstehen, die der steuerpflichtige Wiederverkäufer vom Erwerber oder von einem Dritten erhält oder zu erhalten hat, einschließlich insbesondere aller Steuern und vergleichbaren Abgaben sowie der Nebenkosten, die der steuerpflichtige Wiederverkäufer dem Erwerber in Rechnung stellt. Der Einkaufspreis umfasst die gleichen Bestandteile der Gegenleistung, die der Lieferer vom steuerpflichtigen Wiederverkäufer erhält oder zu erhalten hat.

30.       Sowohl Herr Mensing als auch die Kommission machen in ihren Erklärungen in der vorliegenden Rechtssache geltend, dass im Fall eines steuerpflichtigen innergemeinschaftlichen Erwerbs von Kunstgegenständen durch einen steuerpflichtigen Wiederverkäufer dem Einkaufspreis die Mehrwertsteuer hinzugerechnet werden müsse, die er auf diesen Erwerb bezahlt habe. Diese Steuer falle unter den Begriff „Steuern, Zölle, Abschöpfungen und Abgaben“ in der Definition des Verkaufspreises, auf die wiederum die Definition des Einkaufspreises verweise.

31.       Diese Auffassung beruht jedoch auf einer fragmentarischen Betrachtung der in Art. 312 der Richtlinie 2006/112 enthaltenen Definitionen. Sie lässt völlig außer Acht, dass sowohl die Definition des Verkaufspreises als auch die Definition des Einkaufspreises ausschließlich Kostenbestandteile umfassen, die der steuerpflichtige Wiederverkäufer entsprechend als Vergütung im Rahmen der differenzbesteuerten Lieferung erhalten hat oder die er dem Lieferer für den Erwerb des Gegenstands gezahlt hat, der anschließend durch ihn geliefert wird.

32.       Diese Formulierung der beiden Definitionen ist nicht zufällig, und man kann nicht einfach darüber hinwegsehen, wie es Herr Mensing und die Kommission vorschlagen. Ganz offensichtlich hat der Unionsgesetzgeber bei der Formulierung beider Definitionen nur den Austausch von finanziellen Leistungen im Rahmen einzelner Umsätze im Auge gehabt und nicht alle Kosten und Vorteile, die möglicherweise mit dem Erwerb oder der Lieferung eines Gegenstands verbunden sind. Die Definition des Einkaufspreises in Art. 312 der Richtlinie 2006/112 umfasst mithin nur diejenigen Nebenkosten, die der steuerpflichtige Wiederverkäufer im Verhältnis zum Lieferer trägt, ebenso wie die Definition des Verkaufspreises nur diejenigen umfasst, die der steuerpflichtige Wiederverkäufer als Teil des Preises für den Gegenstand erstattet bekommt.

33.       Alle etwaigen Nebenkosten des steuerpflichtigen Wiederverkäufers im Zusammenhang mit dem Erwerb des Gegenstands, wie Verpackungs‑, Transport‑ oder Versicherungskosten, die er jedoch Dritten gegenüber trägt, sind hingegen keine Bestandteile des Einkaufspreises und werden in die Handelsspanne im Sinne von Art. 315 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/112 einbezogen.

34.       Auch wenn dies unlogisch erscheinen mag, müssen – in Anbetracht des klaren und unbedingten Wortlauts von Art. 312 dieser Richtlinie – die gleichen Grundsätze auf die Mehrwertsteuer Anwendung finden, die auf einen Umsatz anfällt, bei dem der steuerpflichtige Wiederverkäufer einen Gegenstand erwirbt. Wenn die Lieferung eines Gegenstands an einen steuerpflichtigen Wiederverkäufer der Besteuerung unterliegt und in einem Mitgliedstaat erfolgt, obliegt nach der normalen Regelung der Richtlinie 2006/112 die Entrichtung der Mehrwertsteuer dem Lieferer, der sie auf den steuerpflichtigen Wiederverkäufer im Preis des Gegenstands abwälzt. Diese Steuer stellt damit einen Bestandteil des Einkaufspreises dar und ist daher von der Handelsspanne ausgenommen. Ist hingegen, wie es bei einer innergemeinschaftlichen Lieferung der Fall ist, der steuerpflichtige Wiederverkäufer zur Entrichtung der Mehrwertsteuer an den Fiskus verpflichtet, ist diese Steuer nicht im Einkaufspreis enthalten und erhöht somit die Handelsspanne(10). Wenn der Unionsgesetzgeber vom Einkaufspreis im Sinne von Art. 312 Nr. 2 der Richtlinie 2006/112 die Steuer hätte ausnehmen wollen, die der steuerpflichtige Wiederverkäufer unmittelbar an den Fiskus entrichtet hat, dann hätte er eine ähnliche Formulierung wie in Art. 320 Abs. 1 Unterabs. 2 dieser Richtlinie verwendet, wonach, wenn der steuerpflichtige Wiederverkäufer seine Umsätze nach der normalen Mehrwertsteuerregelung besteuert, er berechtigt ist, „bei der Lieferung eines Kunstgegenstands, der ihm … geliefert wurde, die von ihm dafür geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer als Vorsteuer abzuziehen“, und zwar ohne angeben zu müssen, wem er die Steuer geschuldet oder bezahlt hat.

35.       Einer der Bestandteile des in Art. 312 Nr. 1 der Richtlinie 2006/112 definierten Verkaufspreises ist die im Rahmen der Differenzbesteuerung anfallende Mehrwertsteuer, die der steuerpflichtige Wiederverkäufer vom Erwerber des Gegenstands als Preisbestandteil erhebt und die er an den Fiskus entrichten muss. Diese Steuer wird gemäß Art. 315 Abs. 1 dieser Richtlinie von der Steuerbemessungsgrundlage abgezogen. In dieser Bestimmung heißt es jedoch ausdrücklich, dass von der Steuerbemessungsgrundlage der Betrag „der auf diese Spanne erhobenen Mehrwertsteuer“ abgezogen wird.

36.       Entgegen dem Vorbringen von Herrn Mensing in seinen Erklärungen stimmen die oben genannten Grundsätze der Bestimmung der Steuerbemessungsgrundlage bei der Differenzbesteuerung mit den Grundsätzen überein, die im Fall von Umsätzen gelten, die nach der normalen Regelung gemäß den Art. 73 und 78 der Richtlinie 2006/112 besteuert werden. Nach diesen Bestimmungen umfasst die Steuerbemessungsgrundlage bei der Lieferung von Gegenständen(11) alles – und nichts darüber hinaus – was der Lieferer als Entgelt für diese Lieferung erhält, einschließlich Steuern und ähnliche Kosten, mit Ausnahme der Mehrwertsteuer selbst, die von der Steuerbemessungsgrundlage des betreffenden Umsatzes abhängig ist.

37.       Es gibt hier keinen Beurteilungsspielraum, der es erlauben würde – wie vom vorlegenden Gericht in seinem Beschluss vorgeschlagen – von der Steuerbemessungsgrundlage auch die Mehrwertsteuer auszunehmen, die der steuerpflichtige Wiederverkäufer unmittelbar an den Fiskus auf den Umsatz gezahlt hat, der auf der früheren Stufe getätigt wurde. Wenn in Art. 315 Abs. 1 von dem Betrag „der auf diese Spanne erhobenen“ Mehrwertsteuer die Rede ist, dann ist damit keinesfalls die Steuer gemeint, die der steuerpflichtige Wiederverkäufer auf den Erwerb des Gegenstands gezahlt hat, da diese Steuer auf den Preis für den Erwerb dieses Gegenstands „erhoben“ wird, d. h. auf einen Betrag, der kein Bestandteil der Handelsspanne ist.

38.       Rn. 46 des Urteils Mensing ändert nichts an diesem Ergebnis. In dieser Randnummer hat der Gerichtshof lediglich festgestellt, dass bei Anwendung der Differenzbesteuerung anders als im Fall der normalen Regelung der Einkaufspreis, den der steuerpflichtige Wiederverkäufer für den Gegenstand gezahlt hat, den er anschließend liefert, keinen Bestandteil der Steuerbemessungsgrundlage dieses Umsatzes darstellt, so dass diesem Steuerpflichtigen auch nicht das Recht eingeräumt werden kann, die Mehrwertsteuer, die er auf den Erwerb dieses Gegenstands gezahlt hat, von der Steuer abzuziehen, die auf seinen eigenen Umsatz anfällt. Daraus folgt jedoch nicht, dass nach Ansicht des Gerichtshofs die vom steuerpflichtigen Wiederverkäufer auf einen innergemeinschaftlichen Erwerb eines Gegenstands, der später unter Anwendung der Differenzbesteuerung geliefert wurde, gezahlte Mehrwertsteuer entgegen dem eindeutigen Wortlaut von Art. 315 der Richtlinie 2006/112 von der Steuerbemessungsgrundlage dieses Umsatzes ausgenommen bleibt. Der Gerichtshof hat sich zu dieser Frage überhaupt nicht geäußert, da sie nicht Gegenstand des Vorabentscheidungsersuchens in der Rechtssache war, in der das Urteil Mensing ergangen ist.

39.       Ich bin daher der Ansicht, dass sich aus dem Wortlaut der Bestimmungen der Richtlinie 2006/112 eindeutig ergibt, dass die von einem steuerpflichtigen Wiederverkäufer auf einen innergemeinschaftlichen Erwerb eines Kunstgegenstands, der später unter Anwendung der Differenzbesteuerung geliefert wurde, gezahlte Mehrwertsteuer kein Bestandteil des Einkaufspreises dieses Gegenstands im Sinne dieser Bestimmungen ist und es keine Gründe gibt, den Betrag dieser Steuer von der Steuerbemessungsgrundlage jener späteren Lieferung auszunehmen.

40.       Entgegen dem, was die Kommission anzudeuten scheint, habe ich in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache, in der das Urteil Mensing ergangen ist, diesen Zustand nicht als begrüßenswert bezeichnet.

41.       Meines Erachtens war es ein Fehler des Unionsgesetzgebers, von der Steuerbemessungsgrundlage für eine differenzbesteuerte Lieferung nicht die Steuer auszunehmen, die der steuerpflichtige Wiederverkäufer beim Erwerb des Gegenstands jenes Umsatzes unmittelbar an den Fiskus entrichtet hat. Die Gegenstände, die ein steuerpflichtiger Wiederverkäufer zu Zwecken ihrer anschließenden differenzbesteuerten Lieferung erwirbt, stellen nämlich den einzigen Kostenposten seiner Tätigkeit dar, der den steuerpflichtigen Wiederverkäufer nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt, wenn die Lieferung an ihn steuerpflichtig war(12). Die Einbeziehung des für den Erwerb dieser Gegenstände entrichteten Steuerbetrags in die Steuerbemessungsgrundlage der Differenzbesteuerung führt folglich, wie ich bereits ausgeführt habe, zu ihrer teilweisen Doppelbesteuerung(13), die gegen den Grundsatz der Steuerneutralität und der Nichtkumulierung der Mehrwertsteuer verstößt.

42.       Zu lösen bleibt noch die Frage, wie dieser Widerspruch ausgeräumt werden kann.

Zur Möglichkeit der Ausräumung des festgestellten Widerspruchs im Wege gerichtlicher Auslegung

43.       Nach Ansicht der Kommission kann Art. 312 der Richtlinie 2006/112 teleologisch und systematisch dahin ausgelegt werden, dass die vom steuerpflichtigen Wiederverkäufer auf den innergemeinschaftlichen Erwerb von Kunstgegenständen, die anschließend unter Anwendung der Differenzbesteuerung geliefert werden, entrichtete Mehrwertsteuer dem Einkaufspreis im Sinne von Nr. 2 dieses Artikels hinzugerechnet werden kann.

44.       Wie ich jedoch im vorangehenden Abschnitt der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt habe, beschränkt sich die dortige Definition des Einkaufspreises ausdrücklich und zielgerichtet auf Beträge, die der Lieferer vom steuerpflichtigen Wiederverkäufer erhält oder zu erhalten hat. Jede Auslegung, die die Beträge berücksichtigt, die der steuerpflichtige Wiederverkäufer an eine andere Person als den Verkäufer gezahlt hat, insbesondere die Steuern, die er unmittelbar an den Fiskus entrichtet hat, liefe dem eindeutigen Wortlaut der in Rede stehenden Bestimmung zuwider.

45.       Wenn die Kommission dem Gerichtshof diese Auslegung nahelegt, die meines Erachtens eine Auslegung contra legem wäre, dann will sie den Gerichtshof eigentlich dazu bewegen, anstelle des Unionsgesetzgebers den Widerspruch auszuräumen, der zwischen dem Wortlaut von Art. 315 der Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit ihrem Art. 312 und dem Grundsatz der einmaligen Erhebung der Mehrwertsteuer auf jeder Umsatzstufe besteht, wenn der steuerpflichtige Wiederverkäufer die Steuer auf die von ihm erworbenen Kunstgegenstände entrichten muss, die er anschließend unter Anwendung der Differenzbesteuerung liefert.

46.       In Anbetracht dieser Erwartungshaltung muss die Frage nach den Grenzen der Rechtsetzungstätigkeit des Gerichtshofs aufgeworfen werden.

47.       Es ist natürlich richtig, dass dem Gerichtshof durch Art. 267 AEUV eine sehr weitgehende Zuständigkeit für die Auslegung von Unionsrechtsakten verliehen wurde. Es trifft auch zu, dass der Gerichtshof von dieser Zuständigkeit mehrfach Gebrauch gemacht hat, um Lücken auszufüllen oder Unstimmigkeiten in diesen Akten auszuräumen, und sich dabei auf die Ziele, die mit diesen Bestimmungen verfolgt werden, und den Kontext, in dem sie in dem normativen Akt auftreten, gestützt hat(14).

48.       Dies gilt auch für das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, das derzeit in der Richtlinie 2006/112 geregelt ist. In begründeten Fällen ging der Gerichtshof sogar über den Wortlaut der Bestimmungen dieser Richtlinie hinaus und stützte seine Entscheidung auf grundlegende Rechtsprinzipien oder auf die generelle Wirkungsweise der Mehrwertsteuer. Auf diese Weise hat der Gerichtshof beispielsweise den Begriff des Rechtsmissbrauchs auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer in das Unionsrecht eingeführt(15) und einem Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug versagt, der bewusst oder aus Fahrlässigkeit an einer Steuerhinterziehung mitgewirkt hatte(16).

49.       Ein Eingreifen des Gerichtshofs in den normativen Inhalt der geltenden Rechtsvorschriften ist gerechtfertigt, wenn diese Bestimmungen unklar bzw. unvollständig sind oder zueinander im Widerspruch stehen oder wenn ihre Wortlautauslegung zu Ergebnissen führen würde, die nicht nur den Zielen dieser Regelungen, sondern auch den fundamentalen Grundsätzen der gesamten Rechtsordnung zuwiderlaufen, wie dies in den Rechtssachen der Fall war, in denen die in der vorstehenden Nummer angeführten Urteile ergangen sind. Ich habe jedoch Zweifel, ob eine teleologische oder systematische Auslegung eine Abweichung vom eindeutigen Wortlaut der Vorschriften rechtfertigen kann, wenn ihre wortlautgetreue Anwendung zwar nicht ganz mit der Logik der Regelung übereinstimmt, der diese Bestimmungen angehören, aber weder die Wirksamkeit dieser Regelung völlig untergräbt noch gegen die grundlegenden Prinzipien der Rechtsordnung verstößt.

50.       Einen solchen Ansatz schlägt die Kommission indes unter Bezugnahme auf das Urteil Mensing vor. In diesem Urteil ist der Gerichtshof jedoch nicht von einer wörtlichen Auslegung der einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie 2006/112 abgewichen. Im Gegenteil, die Entscheidung in diesem Urteil stützt sich in erster Linie auf den Wortlaut von Art. 316 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie(17), und der Gerichtshof bringt Aspekte der systematischen und teleologischen Auslegung nur zur Bekräftigung der Schlüsse vor, die er aus dem Wortlaut dieser Bestimmung zieht(18).

51.       Infolge der Einbeziehung des Mehrwertsteuerbetrags, den der steuerpflichtige Wiederverkäufer auf den Erwerb eines Kunstgegenstands entrichtet hat, der anschließend unter Anwendung der Differenzbesteuerung geliefert wird, in die Steuerbemessungsgrundlage der Differenzbesteuerung, kommt es, wie ich bereits zu Beginn der vorliegenden Erwägungen ausgeführt habe(19), zu einer teilweisen Doppelbesteuerung, die gegen den Grundsatz der Steuerneutralität im Sinne eines Verbots der Ungleichbehandlung gleichartiger Umsätze und den Grundsatz der Nichtkumulierung der Mehrwertsteuer verstößt.

52.       Darüber hinaus ist festzuhalten, dass in Fällen, in denen sowohl der innergemeinschaftliche Erwerb eines Kunstgegenstands durch einen steuerpflichtigen Wiederverkäufer als auch seine spätere Lieferung durch diesen steuerpflichtigen Wiederverkäufer dem normalen Mehrwertsteuersatz unterliegen, die steuerliche Belastung der Lieferung des Kunstgegenstands bei der Anwendung der Differenzbesteuerung höher ausfällt als im Fall der Besteuerung nach der normalen Regelung, was die Wahlmöglichkeit in Art. 316 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/112 unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten sinnlos erscheinen lässt. Zu bedenken ist jedoch, dass, wenn sowohl die Lieferung des Kunstgegenstands an den steuerpflichtigen Wiederverkäufer als auch die spätere Lieferung dieses Kunstgegenstands durch den steuerpflichtigen Wiederverkäufer mit demselben (normalen) Steuersatz besteuert werden, die Wahl der Differenzbesteuerung keine besonderen wirtschaftlichen Vorteile bietet, denn selbst in dem Fall, dass die Mehrwertsteuer im Einkaufspreis enthalten ist, ist die steuerliche Belastung bei der Differenzbesteuerung die gleiche wie im Fall der Besteuerung nach der normalen Regelung(20).

53.       Der eigentliche Sinn der Regelung in Art. 316 der Richtlinie 2006/112 wird deutlich, wenn der Umsatz, bei dem der steuerpflichtige Wiederverkäufer einen Kunstgegenstand erwirbt, dem ermäßigten Steuersatz unterliegt. Art. 103 der Richtlinie 2006/112 erlaubt es den Mitgliedstaaten nämlich, einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf die Einfuhr und in manchen Fällen auch auf die Lieferung von Kunstgegenständen anzuwenden, insbesondere auf die Lieferung durch den Urheber oder dessen Rechtsnachfolger. In diesem Fall unterliegt die Lieferung von Kunstgegenständen durch den steuerpflichtigen Wiederverkäufer dem normalen Steuersatz nur in Bezug auf den Betrag der Handelsspanne, wohingegen es im Übrigen bei dem ermäßigten Satz bleibt. Dadurch kann die Gesamtsteuerlast im Vergleich zur Besteuerung nach der normalen Regelung verringert werden, da in diesem letztgenannten Fall der steuerpflichtige Wiederverkäufer die Mehrwertsteuer auf den Verkaufspreis nach dem normalen Satz entrichten müsste, wohingegen er die auf der früheren Umsatzstufe entrichtete Steuer nur nach dem ermäßigten Satz abziehen könnte(21).

54.       Ich teile jedoch nicht die in den Erklärungen von Herrn Mensing vertretene Auffassung, wonach die Einbeziehung der durch den steuerpflichtigen Wiederverkäufer auf den innergemeinschaftlichen Erwerb entrichteten Steuer in die Handelsspanne und die dadurch bedingte teilweise Doppelbesteuerung die Möglichkeit ausschließe, das Ziel der Regelung in Art. 316 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/112 zu erreichen, das darin bestehe, den Verkauf von Kunstgegenständen durch ihre Urheber unter Vermittlung von steuerpflichtigen Wiederverkäufern zu fördern, indem bei der Lieferung von Kunstgegenständen durch diese Wiederverkäufer ihre Besteuerung mit dem ermäßigten Satz auf der früheren Umsatzstufe in vollem Umfang berücksichtigt werde.

55.       Erstens nämlich macht Art. 316 Abs. 1 Buchst. b der angeführten Richtlinie die Anwendbarkeit der Differenzbesteuerung auf Kunstgegenstände, die der steuerpflichtige Wiederverkäufer vom Urheber oder dessen Rechtsnachfolgern erworben hat, nicht davon abhängig, ob die Lieferung dieser Kunstgegenstände an den steuerpflichtigen Wiederverkäufer einem ermäßigten Steuersatz unterlag. Diese Bedingung findet sich nur in Art. 316 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2006/112, der sich jedoch auf Kunstgegenstände bezieht, die der steuerpflichtige Wiederverkäufer von anderen Steuerpflichtigen (die keine Wiederverkäufer sind) erwirbt(22). Art. 316 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie kommt indes unabhängig vom Steuersatz zur Anwendung, mit dem die Lieferung des Kunstgegenstands an den steuerpflichtigen Wiederverkäufer besteuert wurde.

56.       Zweitens fällt die Erhöhung der Steuerlast, die sich aus der Einbeziehung der Steuer auf den innergemeinschaftlichen Erwerb in die Handelsspanne ergibt, nur relativ gering aus, wenn der Erwerb des Gegenstands durch den steuerpflichtigen Wiederverkäufer mit dem ermäßigten Satz besteuert wurde, so dass die Anwendung dieses ermäßigten Satzes weiterhin spürbar bleibt(23). Die Gesamtsteuerlast bleibt nämlich geringer als im Fall der Besteuerung nach der normalen Regelung. Das von Herrn Mensing genannte Ziel der betreffenden Regelung wird daher verwirklicht, wenn auch in etwas geringerem Umfang. Dieses Argument spricht folglich nicht dafür, Art. 312 der Richtlinie 2006/112 anders auszulegen, als es sein Wortlaut vorgibt.

57.       Was sodann den Grundsatz der steuerlichen Neutralität angeht, hatte der Gerichtshof bereits Gelegenheit festzustellen, dass dieser Grundsatz, bei dem es sich um einen allgemeinen Grundsatz des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems auf der Ebene des abgeleiteten Rechts handelt, keinen Grundsatz des Primärrechts darstellt und deswegen für die Beurteilung der Gültigkeit der Bestimmungen der Richtlinie, durch die dieses System geschaffen wurde, nicht maßgeblich sein kann. Er rechtfertigt auch nicht eine Auslegung dieser Bestimmungen, die in ihrem Wortlaut keine Grundlage findet(24). So kann zwar die kumulative Anwendung der Art. 312 und 315, des Art. 316 Abs. 1 Buchst. b sowie des Art. 317 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 auf Kunstgegenstände, die ein steuerpflichtiger Wiederverkäufer im Wege einer innergemeinschaftlichen Lieferung erwirbt, zu einer Verletzung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität durch die unterschiedliche Behandlung dieser Kunstgegenstände im Vergleich zu Kunstgegenständen führen, die der Steuerpflichtige im Inland erwirbt, doch rechtfertigt dieser Verstoß keine Auslegung dieser Bestimmungen, die ihrem eindeutigen Wortlaut zuwiderläuft.

58.       Zu berücksichtigen ist dabei, dass Kunstgegenstände Waren besonderer Art sind. Es liegt in der Natur der Sache, dass sie einzigartig und untereinander nicht direkt austauschbar sind, wobei relativ geringe Preisunterschiede sich nicht auf die Kaufentscheidung auswirken. Die Wettbewerbsverzerrungen, die sich aus der höheren Steuerlast ergeben, sind folglich in diesem Fall nur begrenzt und wesentlich geringer als im Fall von massenhaft hergestellten Alltagsgütern.

59.       Ähnliches gilt für den Verstoß gegen den Grundsatz der Nichtkumulierung der Mehrwertsteuer in Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2006/112. Es handelt sich dabei um einen dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem eigenen Grundsatz. Seine Verletzung erzeugt zwar gewisse Funktionsstörungen dieses Systems, rechtfertigt es jedoch weder, Bestimmungen dieser Richtlinie, die möglicherweise diese Störung erzeugen, für ungültig zu erklären, noch, diese Bestimmungen entgegen ihrem eindeutigen Wortlaut auszulegen.

60.       Die vorstehenden Erwägungen führen mich zu dem Schluss, dass der Gerichtshof weder Art. 312 der Richtlinie 2006/112 noch andere Bestimmungen dieser Richtlinie über die Differenzbesteuerung entgegen ihrem eindeutigen Wortlaut auslegen sollte, um Unstimmigkeiten mit den Grundsätzen der steuerlichen Neutralität und der Nichtkumulierung der Mehrwertsteuer auszuräumen, die wegen des Wortlauts dieser Bestimmungen entstehen, wenn sie auf Kunstgegenstände angewendet werden, die durch ihren Urheber oder dessen Rechtsnachfolger innergemeinschaftlich an steuerpflichtige Wiederverkäufer geliefert werden.

61.       Ich schließe mich aber nicht der Auffassung der deutschen Regierung an, wonach der jetzige Rechtszustand zufriedenstellend sei und der für den steuerpflichtigen Wiederverkäufer fakultative Charakter von Art. 316 der Richtlinie 2006/112 genüge, um das Problem der teilweisen Doppelbesteuerung, das dieser Rechtszustand erzeuge, auszuräumen. Hier ist meines Erachtens ein Eingreifen des Unionsgesetzgebers erforderlich, um die Berechnungsweise der Steuerbemessungsgrundlage bei der Differenzbesteuerung im Fall ihrer Anwendung auf Kunstgegenstände, die steuerpflichtige Wiederverkäufer im Wege einer innergemeinschaftlichen Lieferung erwerben, zu korrigieren.

62.       Ein solches Eingreifen des Gesetzgebers dürfte keine größeren Schwierigkeiten bereiten. Die Richtlinie 2006/112 wurde gemäß Art. 93 EG (jetzt Art. 113 AEUV) in einem besonderen Gesetzgebungsverfahren nach Anhörung des Europäischen Parlaments erlassen, und sie wird in einem ebensolchen Verfahren geändert. Zugleich gehört sie zu den am häufigsten geänderten Rechtsakten der Union; Änderungen dieser Richtlinie sind geradezu an der Tagesordnung. Es reicht zu erwähnen, dass die Richtlinie 2006/112 seit dem Urteil Mensing(25), d. h., seit der Gerichtshof bestätigt hat, dass die Differenzbesteuerung auf Kunstgegenstände, die steuerpflichtige Wiederverkäufer im Wege einer innergemeinschaftlichen Lieferung erwerben, Anwendung findet, und das Problem der teilweisen Doppelbesteuerung zutage getreten ist, bereits zehnmal geändert wurde(26). Es gab mithin genügend Gelegenheiten, die fraglichen Bestimmungen zu verbessern.

63.       Eine Gesetzesänderung könnte auch das Problem der Doppelbesteuerung in Fällen der umgekehrten Steuerschuldnerschaft bei der Lieferung eines Gegenstands an den steuerpflichtigen Wiederverkäufer lösen, dessen Weiterlieferung durch den steuerpflichtigen Wiederverkäufer der Differenzbesteuerung unterliegt, auf das die Kommission in ihren Erklärungen hingewiesen hat(27). Dieses Problem kann der Gerichtshof durch das Urteil in der vorliegenden Rechtssache nicht lösen, da dieses, dem Gegenstand der Vorlagefragen entsprechend, zwingend auf die Frage der Steuer beschränkt bleiben muss, die der steuerpflichtige Wiederverkäufer auf einen innergemeinschaftlichen Erwerb eines Kunstgegenstands entrichtet hat.

Antwort auf die Frage

64.       Wie aus den vorstehenden Erwägungen hervorgeht, sehe ich weder die Möglichkeit noch die Notwendigkeit, die Bestimmungen der Richtlinie 2006/112 in einer Weise auszulegen, die es ermöglichen würde, die teilweise Doppelbesteuerung in einer Situation wie der zu vermeiden, die dem Ausgangsverfahren zugrunde liegt. Die entsprechende Änderung dieser Bestimmungen hat der Unionsgesetzgeber vorzunehmen.

65.       Daher schlage ich vor, auf die zweite Vorlagefrage zu antworten, dass die Art. 312, 315 und 317 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen sind, dass die Mehrwertsteuer, die ein steuerpflichtiger Wiederverkäufer auf einen innergemeinschaftlichen Erwerb eines Kunstgegenstands bezahlt hat, dessen spätere Lieferung durch diesen steuerpflichtigen Wiederverkäufer gemäß Art. 316 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie der Differenzbesteuerung unterliegt, in die Steuerbemessungsgrundlage dieser späteren Lieferung einbezogen wird.

Zur ersten Vorlagefrage

66.       Mit seiner ersten Vorlagefrage möchte das nationale Gericht im Wesentlichen wissen, ob im Fall, dass der steuerpflichtige Wiederverkäufer gemäß Art. 316 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/112 um die Anwendung der Differenzbesteuerung auf Kunstgegenstände, die er im Wege einer innergemeinschaftlichen Lieferung erworben hat, ersucht, obwohl das innerstaatliche Recht – dieser Bestimmung zuwider – ihre Anwendung nicht erlaubt, die nationalen Gerichte berechtigt sind, die Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts wie § 25a Abs. 3 Satz 3 UStG im Einklang mit dieser Richtlinie dahin auszulegen, dass die Mehrwertsteuer, die der steuerpflichtige Wiederverkäufer auf den innergemeinschaftlichen Erwerb des betreffenden Kunstgegenstands entrichtet hat, nicht in die Steuerbemessungsgrundlage der Differenzbesteuerung einbezogen wird.

67.       Es liegt auf der Hand, dass die Auslegung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften den nationalen Behörden obliegt und nicht in die Zuständigkeit des Gerichtshofs fällt. Wie sich jedoch aus meinem Vorschlag zur Beantwortung der zweiten Vorlagefrage ergibt, können die Bestimmungen der Richtlinie 2006/112 nicht dahin ausgelegt werden, dass die vom steuerpflichtigen Wiederverkäufer auf den innergemeinschaftlichen Erwerb eines Kunstgegenstands entrichtete Steuer nicht in die Steuerbemessungsgrundlage der Differenzbesteuerung einbezogen wird. In dieser Richtlinie gibt es somit keine Bestimmung, die eine solche Auslegung des nationalen Rechts erlauben würde. Meines Erachtens ist die erste Vorlagefrage daher gegenstandslos und braucht nicht beantwortet zu werden. Ich werde daher im Folgenden nur kurz auf diese Frage für den Fall eingehen, dass der Gerichtshof es für erforderlich erachten sollte, sich damit zu befassen.

68.       Das vorlegende Gericht begründet seine Zweifel, die es in der ersten Vorlagefrage zum Ausdruck bringt, mit der Feststellung des Gerichtshofs in Rn. 49 des Urteils Mensing, wonach der steuerpflichtige Wiederverkäufer im Ausgangsverfahren der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, die Anwendung der Differenzbesteuerung unter unmittelbarer Berufung auf die Richtlinie 2006/112 fordern kann. Im Zusammenhang mit dieser Feststellung des Gerichtshofs kamen dem nationalen Gericht in der vorliegenden Rechtssache Zweifel, ob es Vorschriften seines nationalen Rechts anwenden kann, die andere Gesichtspunkte der Besteuerung der Umsätze des steuerpflichtigen Wiederverkäufers regeln, oder ob es sich ausschließlich auf die Bestimmungen der angeführten Richtlinie stützen muss.

69.       Ich denke jedoch, dass die Rn. 49 des Urteils Mensing etwas anders aufgefasst werden muss. In dieser Randnummer hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass, wenn der steuerpflichtige Wiederverkäufer ein Recht in Anspruch nimmt, das sich aus der Richtlinie 2006/112 ergibt, und dabei nationale Rechtsvorschriften, die dieser Richtlinie zuwiderlaufen, unangewendet bleiben, dies im Einklang mit der gesamten Regelung erfolgen muss, zu der dieses Recht gehört. In diesem konkreten Fall folgte daraus, dass die Inanspruchnahme der Differenzbesteuerung gemäß Art. 322 Buchst. b der Richtlinie 2006/112 die Möglichkeit ausschließt, die Steuer abzuziehen, die auf der früheren Umsatzstufe entrichtet wurde. Meines Erachtens folgt daraus aber nicht, dass alle nationalen Rechtsvorschriften, die das betreffende Rechtsverhältnis regeln, unangewendet bleiben müssen, sofern sie nicht gegen das Unionsrecht verstoßen.

70.       In der Rechtssache, in der das Urteil Mensing ergangen ist, bezogen sich die Vorlagefragen des nationalen Gerichts auf § 25a Abs. 7 Nr. 1 Buchst. a UStG, der die Anwendung der Differenzbesteuerung auf Gegenstände ausschließt, die dem steuerpflichtigen Wiederverkäufer steuerfrei innergemeinschaftlich geliefert worden sind. In Anbetracht des Urteils Mensing muss das nationale Gericht diese Bestimmung für unionsrechtswidrig in Bezug auf Kunstgegenstände erachten, die steuerpflichtigen Wiederverkäufern durch den Urheber oder dessen Rechtsnachfolger geliefert worden sind, und sie bei der Streitentscheidung unangewendet lassen(28). Es gibt aber keinen Grund, weswegen dieses Gericht und – im Revisionsverfahren – das vorlegende Gericht die übrigen nationalen Rechtsvorschriften nicht anwenden sollten, die das Rechtsverhältnis des Herrn Mensing regeln, sofern die Anwendung dieser Bestimmungen sich mit dem Unionsrecht vereinbaren lässt, insbesondere mit der Auslegung der Bestimmungen der Richtlinie 2006/112, die der Gerichtshof im Urteil Mensing vorgenommen hat.

71.       Dies gilt auch für § 25a Abs. 3 UStG. Ich denke jedoch nicht, dass dieser Bestimmung im Einklang mit der Richtlinie 2006/112 die Wirkung zugesprochen werden kann, die das vorlegende Gericht zu erzielen beabsichtigt. Satz 3 dieser Bestimmung dient der Umsetzung von Art. 315 Abs. 2 in fine der Richtlinie 2006/112, wonach die Steuerbemessungsgrundlage bei der Differenzbesteuerung nicht die Mehrwertsteuer beinhaltet, die sich auf die Handelsspanne selbst bezieht. § 25a Abs. 3 letzter Satz bezieht sich hingegen auf die Mehrwertsteuer, die auf die Lieferung des Gegenstands an den steuerpflichtigen Wiederverkäufer angefallen ist. In dieser Bestimmung geht es jedoch ausdrücklich um die Mehrwertsteuer des „Lieferers“, d. h. die Steuer, die der Lieferer des Gegenstands entrichtet hat und die auf den steuerpflichtigen Wiederverkäufer im Preis des Gegenstands abgewälzt wurde. Dies entspricht der Definition des Einkaufspreises in Art. 312 Nr. 2 der Richtlinie 2006/112. In Anbetracht des klaren Wortlauts der entsprechenden Bestimmung der angeführten Richtlinie können diese nationalen Rechtsvorschriften kaum anders ausgelegt werden.

72.       Dessen ungeachtet dürfen die Behörden der Mitgliedstaaten diese Rechtslage nicht dadurch „korrigieren“, dass sie die nationalen Rechtsvorschriften in einer Weise auslegen, die den Bestimmungen der Richtlinie zuwiderläuft; und zwar selbst dann nicht, wenn – wie im vorliegenden Fall – die Bestimmungen der Richtlinie lückenhaft sind und ihr Wortlaut zu Ergebnissen führt, die teilweise der Logik und den Zielen der gesamten Regelung entgegenstehen. Eine solche Vorgehensweise auf nationaler Ebene, deren Ergebnis vom konkreten Wortlaut der nationalen Rechtsvorschriften und der Art und Weise ihrer Auslegung durch die nationale Verwaltung und die Gerichte abhängt, stünde nämlich der Erreichung des grundlegenden Ziels einer jeden Richtlinie entgegen, das in der Harmonisierung der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten zu sehen ist. Die Beseitigung etwaiger Unstimmigkeiten in den Unionsrechtsvorschriften ist in erster Linie Sache des Unionsgesetzgebers und – im Rahmen einer zulässigen Auslegung – des Gerichtshofs.

73.       Wie ich jedoch zu Beginn dieses Abschnitts dargelegt habe, braucht die erste Frage in Anbetracht der von mir vorgeschlagenen Antwort auf die zweite Frage nicht beantwortet zu werden.

Ergebnis […]

 


1             Originalsprache: Polnisch.


2             ABl. 2006, L 347, S. 1, berichtigt in ABl. 2007, L 335, S. 60.


3             Nr. 1 des Tenors dieses Urteils.


4             Vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache Mensing (C‑264/17, EU:C:2018:722, Nr. 53).


5             Vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache Mensing (C‑264/17, EU:C:2018:722, Nr. 54).


6             BGBl. I S. 386.


7             Urteil Mensing, Tenor.


8             Dies gilt jedenfalls für Gegenstände, mit denen in Zeiträumen gehandelt wurde, in denen die Mehrwertsteuer erhoben wurde.


9             Von diesem Grundsatz gibt es Ausnahmen. Eine davon betrifft den innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen, die durch steuerpflichtige Wiederverkäufer geliefert werden (Art. 4 Buchst. a der Richtlinie 2006/112). In der vorliegenden Rechtssache geht es aber nicht um diesen Fall.


10           Die Kommission fügt in ihren Erklärungen hinzu, dass ein ähnliches Problem auftrete, wenn die Lieferung im Inland der sogenannten „umgekehrten Steuerschuldnerschaft“ unterfalle, d. h., wenn der Erwerber zur Entrichtung der Mehrwertsteuer verpflichtet sei. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass die Mitgliedstaaten die umgekehrte Steuerschuldnerschaft nur bei manchen Umsatzarten einführen können, insbesondere den in den Art. 199, 199a und 199b der Richtlinie 2006/112 genannten (jedoch nicht, wie die Kommission vorträgt, in ihrem Art. 205, der eine ganz andere Frage betrifft), von denen nur wenige Sachverhalte betreffen können, die der Differenzbesteuerung unterliegen. Jedenfalls ist dies nicht Gegenstand der vorliegenden Rechtssache.


11           Ebenso wie bei der Erbringung von Dienstleistungen, jedoch beschränke ich mich auf die Lieferung von Gegenständen, um die es in der vorliegenden Rechtssache geht.


12           Die Art. 322 und 323 der Richtlinie 2006/112 nehmen dem steuerpflichtigen Wiederverkäufer nur das Recht, die Mehrwertsteuer abzuziehen, die er auf den Erwerb von Gegenständen entrichtet hat, die anschließend von ihm unter Anwendung der Differenzbesteuerung geliefert werden. Er behält jedoch das Recht auf Vorsteuerabzug für alle anderen Gegenstände und Dienstleistungen, die er zu Zwecken seiner Tätigkeit nutzt, und zwar auch dann, wenn diese Tätigkeit der Differenzbesteuerung unterliegt.


13           Siehe Nr. 26 der vorliegenden Schlussanträge.


14           Nach dem in der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs verankerten Grundsatz, dass diese beiden Gesichtspunkte bei der Auslegung des Unionsrechts zu berücksichtigen sind (vgl. insbesondere Urteil Mensing, Rn. 24).


15           Urteil vom 21. Februar 2006, Halifax u. a. (C‑255/02, EU:C:2006:121).


16           Urteil vom 6. Juli 2006, Kittel und Recolta Recycling (C‑439/04 und C‑440/04, EU:C:2006:446).


17           Urteil Mensing, Rn. 25 und 26.


18           Urteil Mensing, Rn. 27 bis 37.


19           Siehe Nrn. 21 bis 27 der vorliegenden Schlussanträge.


20           Zur Veranschaulichung vgl. die Beispiele in den Erklärungen der Kommission.


21           Zur Veranschaulichung vgl. das Beispiel in den Erklärungen von Herrn Mensing.


22           Im Übrigen wäre de lege ferenda zu klären, ob Art. 316 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2006/112 auf Kunstgegenstände anwendbar ist, die von steuerpflichtigen Wiederverkäufern im Wege einer innergemeinschaftlichen Lieferung erworben werden. In dieser Bestimmung ist nämlich von Lieferungen die Rede, auf die der ermäßigte Steuersatz Anwendung findet, wohingegen im Fall eines innergemeinschaftlichen Umsatzes höchstens der innergemeinschaftliche Erwerb mit dem ermäßigten Satz besteuert werden kann, da die Lieferung als solche von der Steuer befreit ist.


23           Unterliegt beispielsweise der Erwerb eines Kunstgegenstands durch einen steuerpflichtigen Wiederverkäufer dem ermäßigten Steuersatz von 5 % und wird die Lieferung durch den steuerpflichtigen Wiederverkäufer mit dem normalen Satz von 20 % besteuert, erhöht sich sie Steuerlast in Bezug auf den Kunstgegenstand selbst (ohne die Handelsspanne des steuerpflichtigen Wiederverkäufers) von 5 % auf 6 %.


24           Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. November 2012, Zimmermann (C‑174/11, EU:C:2012:716, Rn. 50).


25           29. November 2018.


26           Richtlinien (EU) 2018/1910 vom 4. Dezember 2018 (ABl. 2018, L 311, S. 3), 2018/2057 vom 20. Dezember 2018 (ABl. 2018, L 329, S. 3), 2019/475 vom 18. Februar 2019 (ABl. 2019, L 83, S. 42), 2019/1995 vom 21. November 2019 (ABl. 2019, L 310, S. 1), 2019/2235 vom 16. Dezember 2019 (ABl. 2019, L 336, S. 10), 2020/1756 vom 20. November 2020 (ABl. 2020, L 396, S. 1), 2020/2020 vom 7. Dezember 2020 (ABl. 2020, L 419, S. 1), 2021/1159 vom 13. Juli 2021 (ABl. 2021, L 250, S. 1), 2022/542 vom 5. April 2022 (ABl. 2022, L 107, S. 1), 2022/890 vom 3. Juni 2022 (ABl. 2022, L 155, S. 1).


27           Vgl. Nr. 34 der vorliegenden Schlussanträge.


28           Vgl. zuletzt Urteil vom 18. Januar 2022, Thelen Technopark Berlin (C‑261/20, EU:C:2022:33, Rn. 30).

 

 

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