EuGH: Regelung über die Differenzbesteuerung auf die Lieferung von Baugrundstücken – Steuerpflichtiger, der beim Erwerb der Gebäude nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt war (Französisches Vorabentscheidungsersuchen)
EuGH, Urteil vom 30.9.2021 – C-299/20, Icade Promotion SAS gegen Ministère de l’Action et des Comptes publics
ECLI:EU:C:2021:783
BB-ONLINE BBL2021-2389-2
Tenor
1. Art. 392 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass er die Anwendung der Regelung über die Differenzbesteuerung auf die Lieferung von Baugrundstücken sowohl dann erlaubt, wenn deren Erwerb der Mehrwertsteuer unterlag, ohne dass der Steuerpflichtige, der sie wiederverkauft, zum Vorsteuerabzug berechtigt war, als auch dann, wenn ihr Erwerb nicht der Mehrwertsteuer unterlag, obwohl der Preis, zu dem der steuerpflichtige Wiederverkäufer diese Gegenstände erwarb, einen Mehrwertsteuerbetrag enthält, der vom ursprünglichen Verkäufer zuvor entrichtet wurde. Abgesehen von diesem Fall gilt diese Bestimmung jedoch nicht für die Lieferung von Baugrundstücken, deren ursprünglicher Erwerb nicht der Mehrwertsteuer unterlag, weil er nicht in ihrem Anwendungsbereich liegt oder von dieser Steuer befreit ist.
2. Art. 392 der Richtlinie 2006/112 ist dahin auszulegen, dass er die Anwendung der Regelung über die Differenzbesteuerung auf die Lieferung von Baugrundstücken ausschließt, wenn diese unbebaut erworbenen Grundstücke in der Zeit zwischen ihrem Erwerb und ihrem Wiederverkauf durch den Steuerpflichtigen zu Baugrundstücken wurden, aber die Anwendung dieser Regelung auf die Lieferung von Baugrundstücken nicht ausschließt, wenn die Merkmale dieser Grundstücke in der Zeit zwischen ihrem Erwerb und ihrem Wiederverkauf durch den Steuerpflichtigen z. B. durch ihre Aufteilung in Parzellen oder wegen der Durchführung von Arbeiten zum Anschluss an Gas- oder Stromnetze, geändert wurden.
Aus den Gründen
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 392 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Icade Promotion SAS, vormals Icade Promotion Logement SAS, und dem ministère de l’Action et des Comptes publics (Ministerium für staatliches Handeln und öffentliche Haushalte, Frankreich) (im Folgenden: Finanzverwaltung) wegen dessen Weigerung, die von dieser Gesellschaft entrichtete Mehrwertsteuer auf Verkäufe von Baugrundstücken an Privatpersonen in den Jahren 2007 und 2008 zu erstatten.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Mehrwertsteuerrichtlinie
3 Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:
a) Lieferungen von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt tätigt“.
4 Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor:
„Als ‚Steuerpflichtiger‘ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt.
Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit‘ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.“
5 Art. 12 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten können Personen als Steuerpflichtige betrachten, die gelegentlich eine der in Artikel 9 Absatz 1 Unterabsatz 2 genannten Tätigkeiten ausüben und insbesondere einen der folgenden Umsätze bewirken:
a) Lieferung von Gebäuden oder Gebäudeteilen und dem dazugehörigen Grund und Boden, wenn sie vor dem Erstbezug erfolgt;
b) Lieferung von Baugrundstücken.
(2) Als ‚Gebäude‘ im Sinne des Absatzes 1 Buchstabe a gilt jedes mit dem Boden fest verbundene Bauwerk.
Die Mitgliedstaaten können die Einzelheiten der Anwendung des in Absatz 1 Buchstabe a genannten Kriteriums des Erstbezugs auf Umbauten von Gebäuden und den Begriff ,dazugehöriger Grund und Boden‘ festlegen.
Die Mitgliedstaaten können andere Kriterien als das des Erstbezugs bestimmen, wie etwa den Zeitraum zwischen der Fertigstellung des Gebäudes und dem Zeitpunkt seiner ersten Lieferung, oder den Zeitraum zwischen dem Erstbezug und der späteren Lieferung, sofern diese Zeiträume fünf bzw. zwei Jahre nicht überschreiten.
(3) Als ‚Baugrundstück‘ im Sinne des Absatzes 1 Buchstabe b gelten erschlossene oder unerschlossene Grundstücke entsprechend den Begriffsbestimmungen der Mitgliedstaaten.“
6 Art. 73 dieser Richtlinie lautet:
„Bei der Lieferung von Gegenständen und Dienstleistungen, die nicht unter die Artikel 74 bis 77 fallen, umfasst die Steuerbemessungsgrundlage alles, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistungserbringer für diese Umsätze vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger oder einem Dritten erhält oder erhalten soll, einschließlich der unmittelbar mit dem Preis dieser Umsätze zusammenhängenden Subventionen.“
7 In Art. 135 der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es:
„(1) Die Mitgliedstaaten befreien folgende Umsätze von der Steuer:
…
j) Lieferung von anderen Gebäuden oder Gebäudeteilen und dem dazugehörigen Grund und Boden als den in Artikel 12 Absatz 1 Buchstabe a genannten;
k) Lieferung unbebauter Grundstücke mit Ausnahme von Baugrundstücken im Sinne des Artikels 12 Absatz 1 Buchstabe b;
…“
8 Art. 137 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten können ihren Steuerpflichtigen das Recht einräumen, sich bei folgenden Umsätzen für eine Besteuerung zu entscheiden:
…
b) Lieferung von anderen Gebäuden oder Gebäudeteilen und dem dazugehörigen Grund und Boden als den in Artikel 12 Absatz 1 Buchstabe a genannten;
c) Lieferung unbebauter Grundstücke mit Ausnahme von Baugrundstücken im Sinne des Artikels 12 Absatz 1 Buchstabe b;
…“
9 Art. 392 in Titel XIII („Ausnahmen“) Kapitel 1 („Bis zur Annahme einer endgültigen Regelung geltende Ausnahmen“) dieser Richtlinie lautet:
„Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass bei der Lieferung von Gebäuden und Baugrundstücken, die ein Steuerpflichtiger, der beim Erwerb kein Recht auf Vorsteuerabzug hatte, zum Zwecke des Wiederverkaufs erworben hat, die Steuerbemessungsgrundlage in der Differenz zwischen dem Verkaufspreis und dem Ankaufspreis besteht.“
Durchführungsverordnung Nr. 282/2011
10 Die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 282/2011 des Rates vom 15. März 2011 zur Festlegung von Durchführungsvorschriften zur Richtlinie 2006/112 (ABl. 2011, L 77, S. 1) in der durch die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 1042/2013 des Rates vom 7. Oktober 2013 (ABl. 2013, L 284, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Durchführungsverordnung Nr. 282/2011) sieht in Art. 13b vor:
„Für die Zwecke der Anwendung der [Mehrwertsteuerrichtlinie] gilt als ‚Grundstück‘
…
b) jedes mit oder in dem Boden über oder unter dem Meeresspiegel befestigte Gebäude oder jedes derartige Bauwerk, das nicht leicht abgebaut oder bewegt werden kann;
…“
11 Art. 31a der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 bestimmt:
„(1) Dienstleistungen im Zusammenhang mit einem Grundstück im Sinne von Artikel 47 der [Mehrwertsteuerrichtlinie] umfassen nur Dienstleistungen, die in einem hinreichend direkten Zusammenhang mit dem Grundstück stehen. In folgenden Fällen sind Dienstleistungen als in einem hinreichend direkten Zusammenhang mit einem Grundstück stehend anzusehen:
a) wenn sie von einem Grundstück abgeleitet sind und das Grundstück einen wesentlichen Bestandteil der Dienstleistung darstellt und zentral und wesentlich für die erbrachte Dienstleistung ist;
b) wenn sie für das Grundstück selbst erbracht werden oder auf das Grundstück selbst gerichtet sind, und deren Zweck in rechtlichen oder physischen Veränderungen an dem Grundstück besteht.
(2) Unter Absatz 1 fällt insbesondere Folgendes:
…
d) Errichtung anderer auf Dauer angelegter Konstruktionen an Land sowie Bauleistungen und Abrissarbeiten an anderen auf Dauer angelegten Konstruktionen wie Leitungen für Gas, Wasser, Abwasser und dergleichen;
…“
Französisches Recht
12 Art. 257 des Code général des impôts (Allgemeines Steuergesetzbuch) sah in der auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung vor:
„Der Mehrwertsteuer unterliegen auch:
…
6° Vorbehaltlich Nr. 7:
a) Umsätze, die sich auf Gebäude beziehen … und deren Ergebnisse als Einkünfte aus Gewerbebetrieb in die Bemessungsgrundlagen der Einkommensteuer einzubeziehen sind;
…
7° Umsätze, die der Herstellung oder Lieferung von Gebäuden dienen.
Diese Umsätze sind steuerbar, auch wenn sie zivilrechtlicher Natur sind.
(1) Darunter fallen insbesondere:
a) die Veräußerung … von Baugrundstücken …;
Unter Abs. 1 fallen insbesondere Grundstücke, für die der Erwerber … innerhalb von vier Jahren nach dem Zeitpunkt der Beurkundung des Geschäfts die Bau- bzw. Erschließungsgenehmigung erhält oder die notwendigen Arbeiten für die Errichtung eines Gebäudes oder Gebäudekomplexes oder für die Aufstockung mit neuen Räumlichkeiten beginnt.
Diese Bestimmungen gelten nicht für Grundstücke, die von natürlichen Personen zur Errichtung von Gebäuden erworben werden, die diese Personen für Wohnzwecke bestimmen.
…
b) die Veräußerung von Gebäuden …“
13 Art. 268 des Code général des impôts sieht in seiner für den Ausgangsrechtsstreit maßgeblichen Fassung vor:
„Bei den in Art. 257 Nr. 6 genannten Umsätzen ist die Bemessungsgrundlage für die Mehrwertsteuer der Unterschied zwischen
a) zum einen dem angegebenen Preis und den zusätzlichen Lasten oder dem Verkehrswert des Gegenstands, wenn dieser höher ist als der Preis zuzüglich der Lasten;
b) zum anderen …
– … den Beträgen, die der Übertragende für den Erwerb des Gegenstands auf einer beliebigen Grundlage gezahlt hat;
…“
14 Art. 231 Abs. 1 des Anhangs 2 des Code général des impôts in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung bestimmt:
„Die in Art. 257 Nr. 6 des Code général des impôts genannten Personen sind nicht zum Abzug der auf den Preis für den Erwerb bzw. die Errichtung der Gebäude erhobenen Steuer berechtigt …“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
15 Icade Promotion, die eine Bauträgertätigkeit ausübt, erwarb unerschlossene Grundstücke von nicht mehrwertsteuerpflichtigen Personen (Privatpersonen oder lokalen Gebietskörperschaften). Diese Erwerbsgeschäfte wurden daher nicht der Mehrwertsteuer unterworfen.
16 Zunächst teilte die Icade Promotion diese Grundstücke in Parzellen auf und führte Erschließungsarbeiten für verschiedene Netze wie Straßen und Wege, Trinkwasser, Stromversorgung, Gas, Kanalisation und Telekommunikation durch, bevor sie die so erschlossenen Parzellen als Baugrundstücke zur Errichtung von Wohngebäuden an natürliche Personen veräußerte.
17 Die in der Zeit vom 1. Januar 2007 bis zum 31. Dezember 2008 vorgenommenen Veräußerungen der Baugrundstücke unterwarf Icade Promotion nach Art. 257 Nr. 6 und Art. 268 des Code général des impôts der Regelung über die Mehrwert-Differenzbesteuerung (im Folgenden: Regelung über die Differenzbesteuerung).
18 Sodann verlangte Icade Promotion von der Finanzverwaltung die Erstattung dieser auf den Differenzbetrag entrichteten Mehrwertsteuer in Höhe von 2 826 814 Euro für 2007 und 2 369 881 Euro für 2008. Sie machte geltend, dass die fraglichen Umsätze nicht gemäß Art. 257 Nr. 7 des Code général des impôts der Mehrwertsteuer auf unbewegliche Sachen unterworfen werden könnten, da sie in der Veräußerung von Baugrundstücken an Privatpersonen zur Errichtung von Wohngebäuden bestünden und auch nicht unter die in Art. 257 Nr. 6 in Verbindung mit Art. 268 des Code général des impôts vorgesehene Regelung über die Differenzbesteuerung fielen, so dass keine Mehrwertsteuer zu entrichten sei.
19 Nachdem ihr Einspruch von der Finanzverwaltung zurückgewiesen worden war, erhob Icade Promotion dagegen beim Tribunal administratif de Montreuil (Verwaltungsgericht Montreuil, Frankreich) Klage, die mit Urteil vom 27. April 2012 als unbegründet abgewiesen wurde.
20 Icade Promotion legte gegen dieses Urteil bei der Cour administrative d’appel de Versailles (Verwaltungsberufungsgericht Versailles, Frankreich) Berufung ein, die mit Urteil vom 18. Juli 2014 mit der Begründung zurückgewiesen wurde, dass der Einspruch unzulässig sei.
21 Mit Entscheidung vom 28. Dezember 2016 hob der Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) auf das von Icade Promotion eingelegte Rechtsmittel das Urteil der Cour administrative d’appel de Versailles (Verwaltungsberufungsgericht Versailles) teilweise auf und verwies die Sache an diese zurück, die mit einem zweiten Urteil vom 19. Oktober 2017 die von dieser Gesellschaft gegen das Urteil des Tribunal administratif de Montreuil (Verwaltungsgericht Montreuil) vom 27. April 2012 eingelegte Berufung als unbegründet zurückwies.
22 Daraufhin legte Icade Promotion beim vorlegenden Gericht Rechtsmittel gegen dieses Urteil ein.
23 Icade Promotion wendet sich dagegen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verkäufe der Differenzbesteuerung nach Art. 257 Nr. 6 und Art. 268 des Code général des impôts unterliegen, und macht insoweit geltend, dass die Anwendung der Regelung über die Differenzbesteuerung auf diese Verkäufe in zweierlei Hinsicht mit Art. 392 der Mehrwertsteuerrichtlinie unvereinbar sei.
24 Erstens ermächtige Art. 392 dieser Richtlinie die Mitgliedstaaten nur dann, die Lieferung von Baugrundstücken einer Differenzbesteuerung zu unterwerfen, wenn der Steuerpflichtige, der solche Lieferungen vornehme, beim Erwerb der Grundstücke die Mehrwertsteuer getragen habe, ihm aber das Recht auf den entsprechenden Vorsteuerabzug verweigert worden sei. Dazu stützt sich Icade Promotion insbesondere auf die englische Sprachfassung von Art. 392 der Mehrwertsteuerrichtlinie, die ausdrücklich die „Nichtabzugsfähigkeit der Mehrwertsteuer“ beim Ankauf vorsehe.
25 Zweitens ermächtige Art. 392 der Mehrwertsteuerrichtlinie die Mitgliedstaaten nur dann, die Lieferung von Baugrundstücken einer Regelung über die Differenzbesteuerung zu unterwerfen, wenn sich der Steuerpflichtige, der solche Lieferungen vornehme, darauf beschränke, diese Grundstücke zu kaufen und unverändert wiederzuverkaufen. Daher sei diese Bestimmung auf den Verkauf von Baugrundstücken, die nach ihrem Erwerb verändert worden seien, nicht anwendbar.
26 Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die Cour administrative d’appel de Versailles (Verwaltungsberufungsgericht Versailles), als sie auf diese Argumente eingegangen ist, entschieden hat, dass das Fehlen eines „Rechts auf Vorsteuerabzug“ beim Erwerb im Sinne von Art. 392 der Mehrwertsteuerrichtlinie die Fälle erfasse, in denen der Erwerb nicht der Mehrwertsteuer unterlegen habe. Dieses Gericht ist im Übrigen der Ansicht, dass die Erwähnung der Lieferungen von Baugrundstücken in diesem Artikel, die „zum Zwecke des Wiederverkaufs erworben“ worden seien, den Ausschluss des Ankaufs unbebauter Grundstücke und deren anschließenden Wiederverkauf als Baugrundstücke weder bezwecke noch bewirke.
27 Unter diesen Umständen hat der Conseil d’État (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art. 392 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen, dass er die Anwendung der Regelung über die Differenzbesteuerung der Lieferung unbeweglicher Sachen vorbehält, deren Erwerb der Mehrwertsteuer unterlag, ohne dass der Steuerpflichtige, der sie wiederverkauft, zum Vorsteuerabzug berechtigt war? Oder erlaubt er es, diese Regelung auf die Lieferung unbeweglicher Sachen anzuwenden, deren Erwerb nicht mehrwertsteuerpflichtig war, weil dieser Erwerb entweder nicht in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer fällt oder zwar in deren Anwendungsbereich fällt, aber befreit ist?
2. Ist Art. 392 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen, dass er die Anwendung der Regelung über die Differenzbesteuerung auf die Lieferung von Baugrundstücken in den beiden folgenden Fällen ausschließt:
– wenn diese unbebaut erworbenen Grundstücke in der Zeit zwischen ihrem Erwerb und ihrem Wiederverkauf durch den Steuerpflichtigen zu Baugrundstücken wurden;
– wenn die Merkmale dieser Grundstücke in der Zeit zwischen ihrem Erwerb und ihrem Wiederverkauf durch den Steuerpflichtigen z. B. wegen ihrer Aufteilung in Parzellen oder wegen der Durchführung von Arbeiten zu ihrem Anschluss an verschiedene Netze (Straßen und Wege, Trinkwasser, Stromversorgung, Gas, Kanalisation, Telekommunikation) geändert wurden?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
28 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 392 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass er die Anwendung der Regelung über die Differenzbesteuerung auf die Lieferung unbeweglicher Sachen beschränkt, deren Erwerb der Mehrwertsteuer unterlag, ohne dass der Steuerpflichtige, der sie wiederverkauft, berechtigt war, die Vorsteuer bei diesem Erwerb abzuziehen, oder dahin, dass er die Anwendung dieser Regelung auch auf die Lieferung unbeweglicher Sachen erlaubt, deren Erwerb nicht mehrwertsteuerpflichtig war, weil dieser Erwerb entweder nicht in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer fällt oder zwar in deren Anwendungsbereich fällt, aber befreit ist.
29 Zunächst ist festzustellen, dass die Sprachfassungen von Art. 392 der Mehrwertsteuerrichtlinie Unterschiede aufweisen. So heißt es in der französischen Fassung dieser Bestimmung nur, dass kein „Recht auf Vorsteuerabzug“ besteht, ohne dass präzisiert würde, ob das Fehlen dieses Rechts bloß darauf zurückzuführen ist, dass der ursprüngliche Umsatz nicht mehrwertsteuerpflichtig war, oder darauf, dass er zwar mehrwertsteuerpflichtig war, aber nicht zu einem späteren Vorsteuerabzug berechtigte. Die englische Fassung dieser Bestimmung spricht hingegen ausdrücklich von der „Mehrwertsteuer auf den Ankauf“ mit der Klarstellung, dass diese „nicht abzugsfähig war“ („the VAT on the purchase was not deductible“), und gibt damit zu verstehen, dass die Übertragung solcher Grundstücke grundsätzlich wohl mehrwertsteuerpflichtig sein muss.
30 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass, wenn die verschiedenen Sprachfassungen eines Unionstexts voneinander abweichen, die fragliche Vorschrift nach dem Zusammenhang und dem Zweck der Regelung ausgelegt werden muss, zu der sie gehört (Urteil vom 8. Oktober 2020, United Biscuits [Pensions Trustees] und United Biscuits Pension Investments, C‑235/19, EU:C:2020:801, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).
31 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die in Art. 392 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehene Besteuerungsregelung eine Ausnahme von der allgemeinen Regelung der Mehrwertsteuerrichtlinie darstellt und daher eng auszulegen ist. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die zur Umschreibung dieser Ausnahmeregelung verwendeten Begriffe in einer Weise ausgelegt werden müssen, die dieser ihre Wirkung nähme. Ihre Auslegung muss nämlich mit den Zielen im Einklang stehen, die mit der Regelung verfolgt werden, und den Erfordernissen der steuerlichen Neutralität entsprechen (vgl. entsprechend Urteil vom 29. November 2018, Mensing, C‑264/17, EU:C:2018:968, Rn. 22 und 23 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
32 Hierbei ist in Bezug auf die Systematik der Mehrwertsteuerrichtlinie zu beachten, dass nach dem Grundprinzip des Mehrwertsteuersystems diese Steuer auf jeden Produktions‑ oder Vertriebsvorgang erhoben wird, abzüglich der Mehrwertsteuer, mit der die verschiedenen Kostenelemente unmittelbar belastet worden sind (Urteil vom 30. Mai 2013, X, C‑651/11, EU:C:2013:346, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).
33 Ferner trifft die Mehrwertsteuerrichtlinie eine klare Unterscheidung zwischen der Lieferung von Baugrundstücken, die mehrwertsteuerpflichtig sind, und der Lieferung unbebauter Grundstücke, die von der Mehrwertsteuer befreit sind.
34 Nach Art. 12 Abs. 3 der Mehrwertsteuerrichtlinie gelten als „Baugrundstücke“ im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. b erschlossene oder unerschlossene Grundstücke entsprechend den Begriffsbestimmungen der Mitgliedstaaten. Letztere müssen bei der Bestimmung der Grundstücke, die als „Baugrundstücke“ anzusehen sind, das mit Art. 135 Abs. 1 Buchst. k dieser Richtlinie verfolgte Ziel beachten, nur die Lieferungen solcher unbebauter Grundstücke von der Mehrwertsteuer zu befreien, auf denen kein Gebäude errichtet werden soll (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Januar 2013, Woningstichting Maasdriel, C‑543/11, EU:C:2013:20, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).
35 Somit ist davon auszugehen, dass im Hinblick auf Art. 135 Abs. 1 Buchst. k in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie jede Lieferung von Baugrundstücken, die ein Steuerpflichtiger als solcher gegen Entgelt ausführt, grundsätzlich der Mehrwertsteuer unterliegt, entweder nach der allgemeinen Regelung des Art. 73 der Mehrwertsteuerrichtlinie, wonach die Mehrwertsteuer auf der Grundlage der Gegenleistung für die Lieferung von Gegenständen oder die Erbringung von Dienstleistungen berechnet wird, also dem Verkaufspreis, oder abweichend davon, wenn die Mitgliedstaaten diese Möglichkeit vorgesehen haben, nach der Regelung über die Differenzbesteuerung im Sinne von Art. 392 dieser Richtlinie, wonach die Steuerbemessungsgrundlage die Differenz zwischen dem Verkaufspreis und dem Ankaufspreis ist.
36 Was das mit der Mehrwertsteuerrichtlinie verfolgte Ziel angeht, ist darauf hinzuweisen, dass sie u. a. die Beachtung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität gewährleisten soll, der es zum einen nicht zulässt, gleichartige und miteinander in Wettbewerb stehende Lieferungen von Gegenständen hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich zu behandeln, und zum anderen, Wirtschaftsteilnehmer, die gleichartige Umsätze tätigen, bei der Erhebung der Mehrwertsteuer unterschiedlich zu behandeln (Urteil vom 17. Januar 2013, Woningstichting Maasdriel, C‑543/11, EU:C:2013:20, Rn. 31).
37 Die Regelung über die Differenzbesteuerung soll diesen Grundsatz gewährleisten, da diese Regelung die nicht abzugsfähige verbliebene Mehrwertsteuer ausgleichen soll.
38 Dazu geht aus der Begründung des Vorschlags der Kommission für die Sechste Richtlinie des Rates zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem (COM[73] 950 final) hervor, dass eine ermäßigte Bemessungsgrundlage angewandt werden könne, wenn ein Gegenstand, der bereits endgültig mit Mehrwertsteuer belastet worden sei (z. B. ein wegen seines Erstbezugs „verbrauchtes“ Wohngebäude), später wieder in den „Wirtschaftskreislauf“ gelange und erneut der Mehrwertsteuer unterworfen werde. In dieser Begründung heißt es: „Um diese den Immobilienhandel steuerlich zu stark belastende erneute Kommerzialisierung des Gebäudes zu berücksichtigen, ist es daher notwendig gewesen, von einer Besteuerung nach den allgemeinen Grundsätzen abzuweichen und den Mitgliedstaaten die Möglichkeit einzuräumen, die Bemessungsgrundlage für die Mehrwertsteuer dadurch zu bestimmen, dass eine Bemessungsgrundlage von der anderen abgezogen wird.“
39 Eine Besteuerung des Gesamtpreises nach dem ersten Endverbrauch würde nämlich mangels Abzugsmöglichkeit dazu führen, dass nicht nur ein Preis, der bereits mit der endgültigen Mehrwertsteuer belastet ist, in die Steuerbemessungsgrundlage einbezogen würde, sondern auch der Betrag dieser Mehrwertsteuer. Dies würde dazu führen, dass die endgültige Belastung mit Mehrwertsteuer für den gesamten Wirtschaftskreislauf insbesondere von der Zahl der aufeinanderfolgenden Endverbrauchsvorgänge und der dabei entrichteten Preise abhinge. Dagegen ermöglicht es die Differenzbesteuerung, diese nicht abzugsfähige verbliebene Mehrwertsteuer auszugleichen und die steuerliche Neutralität wiederherzustellen.
40 Somit kann durch die Anwendung dieser Besteuerungsregelung für Umsätze, die nach einem ersten Endverbrauch durchgeführt werden, sichergestellt werden, dass die Belastung, die auf dem zweiten Endverbrauch ruht, unter den gleichen Bedingungen festgelegt wird, wie diejenige, die auf dem ersten Verbrauch ruht. Es handelt sich um einen Gesichtspunkt, der das ordnungsgemäße Funktionieren der Mehrwertsteuer gewährleistet, wenn er auf Gegenstände angewandt wird, die Gegenstand mehrerer Endverbrauchsvorgänge sein können, die die Kette des Vorsteuerabzugs unterbrechen.
41 Es ist darauf hinzuweisen, dass sich der Gerichtshof bereits zu einer ähnlichen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden geäußert hat, nämlich zur Differenzbesteuerung bei Gebrauchtgegenständen. Der Gerichtshof hat entschieden, dass es eine Doppelbesteuerung zur Folge hätte, wenn der Gesamtpreis eines von einem steuerpflichtigen Wiederverkäufer gelieferten Gebrauchtgegenstands besteuert würde, obwohl der Preis, zu dem der Wiederverkäufer den Gegenstand erworben hat, einen Mehrwertsteuerbetrag enthält, der bereits im Vorfeld durch eine Person, die unter eine der in Art. 314 Buchst. a bis d der Mehrwertsteuerrichtlinie bezeichneten Kategorien fällt, entrichtet wurde und der weder von dieser Person noch vom steuerpflichtigen Wiederverkäufer als Vorsteuer abgezogen werden konnte (Urteil vom 3. März 2011, Auto Nikolovi, C‑203/10, EU:C:2011:118, Rn. 48).
42 In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass nicht jeder Erwerb von Baugrundstücken durch einen Steuerpflichtigen zum Zwecke des Wiederverkaufs zwangsläufig mehrwertsteuerpflichtig ist.
43 Wenn aber Art. 392 der Mehrwertsteuerrichtlinie nur in dem Sinne ausgelegt würde, dass die Anwendung der Regelung über die Differenzbesteuerung allein auf die Lieferung von Baugrundstücken beschränkt wäre, deren Erwerb der Mehrwertsteuer unterlag, wobei der Steuerpflichtige, der sie wiederverkauft, nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt war – so dass die Anwendung dieser Regelung ausgeschlossen wäre, wenn der Erwerb nicht der Mehrwertsteuer unterlag (bei einer Wiedereingliederung dieser Grundstücke in einen Wirtschaftskreislauf zum Zwecke eines erneuten Verbrauchs) –, hätte dies zur Folge, dass Lieferungen gleichartiger und miteinander im Wettbewerb stehender Gegenstände sowie die Wirtschaftsteilnehmer, die diese Lieferungen durchführen, mehrwertsteuerrechtlich ungleich behandelt würden.
44 Abgesehen von dem in der vorstehenden Randnummer genannten Fall kann die in den Rn. 36 bis 42 des vorliegenden Urteils dargestellte systematische und teleologische Auslegung hingegen die Anwendung der Ausnahmebestimmung des Art. 392 der Mehrwertsteuerrichtlinie auf die Lieferung von Grundstücken, deren Erwerb nicht der Mehrwertsteuer unterlag, nicht rechtfertigen. Dies ist beim Erwerb eines Baugrundstücks der Fall, wenn der ursprüngliche Verkäufer eine Privatperson ist, die sich darauf beschränkt, ihr Privatvermögen zu verwalten, ohne dass diese Veräußerung im Rahmen der Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit erfolgt, oder beim Erwerb eines unbebauten Grundstücks, der nach Art. 135 Abs. 1 Buchst. k der Mehrwertsteuerrichtlinie vollständig von der Mehrwertsteuer befreit ist.
45 Im letztgenannten Fall bestünde, wie der Generalanwalt in Nr. 77 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, beim Wiederverkauf solcher Grundstücke keine Gefahr einer Doppelbesteuerung, auch wenn sie in der Zwischenzeit als Baugrundstücke „steuerbar“ geworden sein sollten. Ebenso wenig können unbebaute Grundstücke wegen ihrer Mehrwertsteuerbefreiung Gegenstand eines „Endverbrauchs“ im Sinne der Mehrwertsteuerrichtlinie sein, so dass sich die Frage nach ihrer „Wiedereingliederung“ in den Wirtschaftskreislauf nicht stellt. In diesen beiden Fällen ist es also nicht möglich, dass die Mehrwertsteuer aufgrund einer etwaigen früheren Besteuerung in solchen Gegenständen „verbleibt“.
46 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 392 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass er die Anwendung der Regelung über die Differenzbesteuerung auf die Lieferung von Baugrundstücken sowohl dann erlaubt, wenn deren Erwerb der Mehrwertsteuer unterlag, ohne dass der Steuerpflichtige, der sie wiederverkauft, zum Vorsteuerabzug berechtigt war, als auch dann, wenn ihr Erwerb nicht der Mehrwertsteuer unterlag, obwohl der Preis, zu dem der steuerpflichtige Wiederverkäufer diese Gegenstände erwarb, einen Mehrwertsteuerbetrag enthält, der vom ursprünglichen Verkäufer zuvor entrichtet wurde. Abgesehen von diesem Fall gilt diese Bestimmung jedoch nicht für die Lieferung von Baugrundstücken, deren ursprünglicher Erwerb nicht der Mehrwertsteuer unterlag, weil er nicht in ihrem Anwendungsbereich liegt oder von dieser Steuer befreit ist.
Zur zweiten Frage
47 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 392 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass er die Anwendung der Regelung über die Differenzbesteuerung auf die Lieferung von Baugrundstücken ausschließt, wenn diese unbebaut erworbenen Grundstücke in der Zeit zwischen ihrem Erwerb und ihrem Wiederverkauf zu Baugrundstücken wurden und die Merkmale dieser Grundstücke in der Zeit zwischen ihrem Erwerb und ihrem Wiederverkauf durch den Steuerpflichtigen z. B. durch ihre Aufteilung in Parzellen oder wegen der Durchführung von Arbeiten zum Anschluss an Gas- oder Stromnetze geändert wurden.
48 Was erstens die Frage in Bezug auf die unbebaut erworbenen Grundstücke angeht, ist, wie sich aus Rn. 31 des vorliegenden Urteils ergibt, festzustellen, dass Art. 392 der Mehrwertsteuerrichtlinie eng auszulegen ist, da es sich um eine Ausnahme vom allgemeinen Prinzip der Mehrwertsteuerrichtlinie handelt, wonach die Mehrwertsteuer grundsätzlich auf den zwischen den Parteien vereinbarten Preis zu erheben ist, ohne dass diese Bestimmung allerdings ausgehöhlt werden darf.
49 Außerdem gelten nach Art. 12 Abs. 3 der Mehrwertsteuerrichtlinie als „Baugrundstücke“ unerschlossene oder erschlossene Grundstücke entsprechend den Begriffsbestimmungen der Mitgliedstaaten.
50 Wie sich jedoch aus der in Rn. 34 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt, begrenzt die Mehrwertsteuerrichtlinie deren Spielraum hinsichtlich der Tragweite des Begriffs „Baugrundstück“. Die Mitgliedstaaten müssen das mit Art. 135 Abs. 1 Buchst. k dieser Richtlinie verfolgte Ziel beachten, das darin besteht, nur die Lieferungen unbebauter Grundstücke von der Mehrwertsteuer zu befreien, auf denen kein Gebäude errichtet werden soll.
51 Im Übrigen wird die Bestimmung des Begriffs „Baugrundstück“ auch durch die Tragweite des Begriffs „Gebäude“ begrenzt, der vom Unionsgesetzgeber in Art. 12 Abs. 2 Unterabs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie recht weit gefasst wurde und „jedes mit dem Boden fest verbundene Bauwerk“ einschließt.
52 Aus der Gesamtheit dieser Bestimmungen ergibt sich, dass in Anbetracht dessen, dass der Begriff „Baugrundstück“ sowohl erschlossene als auch unerschlossene Grundstücke umfasst, das entscheidende Kriterium für die Unterscheidung zwischen einem Baugrundstück und einem unbebauten Grundstück darin besteht, ob auf dem fraglichen Grundstück zum Zeitpunkt der Transaktion ein Gebäude errichtet werden soll.
53 Aus Art. 392 der Mehrwertsteuerrichtlinie geht jedoch hervor, dass die abweichende Regelung der Differenzbesteuerung nur für Baugrundstücke gilt, die als Grundstücke, auf denen Gebäude errichtet werden sollen, als solche von den Mitgliedstaaten bestimmt werden und zum Zwecke des Wiederverkaufs erworben werden. Dagegen ist der Wiederverkauf unbebaut erworbener Grundstücke vom Anwendungsbereich dieses Artikels auszuschließen, da auf ihnen kein Gebäude errichtet werden soll und sie grundsätzlich von der Mehrwertsteuer befreit sind.
54 Zur Gewährleistung der Beachtung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität ist es weiter erforderlich, dass alle unbebauten Grundstücke, auf denen ein Gebäude errichtet werden soll und die folglich zur Bebauung bestimmt sind, von der nationalen Definition des Begriffs „Baugrundstück“ erfasst werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Januar 2013, Woningstichting Maasdriel, C‑543/11, EU:C:2013:20, Rn. 31).
55 Im vorliegenden Fall ist es Sache des vorlegenden Gerichts, unter Berücksichtigung der nationalen gesetzlichen Definitionen und aller Umstände, unter denen die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Umsätze durchgeführt wurden, festzustellen, ob die von Icade Promotion erworbenen Grundstücke unter den Begriff „Baugrundstück“ fallen oder ob es sich vielmehr um unbebaute Grundstücke handelt, die, da sie von der Mehrwertsteuer befreit sind, nicht in den Anwendungsbereich von Art. 392 der Mehrwertsteuerrichtlinie fallen.
56 Was zweitens die Frage betrifft, ob dieser Artikel die Anwendung der Regelung über die Differenzbesteuerung auf die Lieferung von Baugrundstücken ausschließt, wenn die Merkmale dieser Grundstücke in der Zeit zwischen ihrem Erwerb und ihrem Wiederverkauf durch den Steuerpflichtigen geändert wurden, wie durch die Aufteilung in Parzellen oder die Durchführung von Arbeiten zum Anschluss an verschiedene Netze, ist darauf hinzuweisen, dass die Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 jedes „mit oder in dem Boden über oder unter dem Meeresspiegel befestigte Gebäude oder jedes derartige Bauwerk, das nicht leicht abgebaut oder bewegt werden kann“ als „Grundstück“ einstuft, wie die „Errichtung anderer auf Dauer angelegter Konstruktionen an Land sowie Bauleistungen und Abrissarbeiten an anderen auf Dauer angelegten Konstruktionen wie Leitungen für Gas, Wasser, Abwasser und dergleichen“.
57 Dass solche Erschließungen „Grundstücke“ im Sinne der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 darstellen, hat jedoch keinen Einfluss auf die Einstufung eines so erschlossenen Grundstücks als „Baugrundstück“. Art. 12 Abs. 3 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht nämlich eindeutig vor, dass selbst erschlossene Grundstücke unter den Begriff „Baugrundstück“ fallen, soweit sie von den Mitgliedstaaten als solche definiert werden. Mit anderen Worten kann die Erschließung von Grundstücken wie der Anschluss an die Strom‑, Gas- und Wassernetze usw. nicht zu einer Änderung ihrer rechtlichen Einstufung als „Gebäude“ als mit dem Boden u. a. durch ein Fundament befestigtes Bauwerk führen.
58 Im Übrigen definiert Art. 12 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie zwar ein Gebäude sehr weit als „jedes mit dem Boden fest verbundene Bauwerk“, doch verweist diese Bestimmung auf Art. 12 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie, der sich auf die „Lieferung von Gebäuden oder Gebäudeteilen … vor dem Erstbezug“ bezieht. Somit kann nicht der Schluss gezogen werden, dass bloße Arbeiten zum Anschluss an Netze vom Begriff „Gebäude“ erfasst werden können.
59 Zwar ergibt sich im Wesentlichen aus den Rn. 32 und 33 des Urteils vom 16. November 2017, Kozuba Premium Selection (C‑308/16, EU:C:2017:869), dass ein Gebäude, an dem Umbau- oder Modernisierungsarbeiten vorgenommen wurden, dem allgemeinen Mehrwertsteuersystem unterliegen soll, weil diese Arbeiten dem Gebäude ebenso wie dessen ursprüngliche Errichtung einen Mehrwert verschafft haben, doch kann diese Rechtsprechung auf das Ausgangsverfahren nicht entsprechend angewandt werden. In der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, war nämlich die Frage, ob die fraglichen Modernisierungsarbeiten einen Mehrwert geschaffen hatten, entscheidend dafür, ob die Lieferung des fraglichen Gebäudes mehrwertsteuerpflichtig war. Dagegen geht es im Ausgangsverfahren nicht darum, ob die Lieferung von Grundstücken mehrwertsteuerpflichtig ist, sondern um die Anwendbarkeit einer Ausnahmeregelung, die eine abgeschwächte Besteuerungsregelung vorsieht.
60 Zwar bezieht sich Art. 392 der Mehrwertsteuerrichtlinie auf die „Lieferung von Baugrundstücken, die … zum Zwecke des Wiederverkaufs erworben“ wurden, doch lässt sich daraus nicht schließen, dass diese Wendung es verbietet, dass die Grundstücke vom steuerpflichtigen Wiederverkäufer umbaut werden, sofern sie bei ihrem Wiederverkauf als Baugrundstücke eingestuft werden können. Eine solche Schlussfolgerung ergibt sich nämlich weder aus den Absichten des Unionsgesetzgebers in Bezug auf diese Bestimmung noch aus ihrer systematischen Auslegung.
61 Wenn ein unerschlossenes Grundstück nach den nationalen Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats als Baugrundstück angesehen wird, haben die zum Zweck seiner Erschließung vorgenommenen Veränderungen dieses Grundstücks, das also weiterhin bebaut werden soll, somit keine Auswirkung auf seine Einstufung als „Baugrundstück“, solange diese Erschließungen nicht als „Gebäude“ eingestuft werden können.
62 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 392 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass er die Anwendung der Regelung über die Differenzbesteuerung auf die Lieferung von Baugrundstücken ausschließt, wenn diese unbebaut erworbenen Grundstücke in der Zeit zwischen ihrem Erwerb und ihrem Wiederverkauf durch den Steuerpflichtigen zu Baugrundstücken wurden, aber die Anwendung dieser Regelung auf die Lieferung von Baugrundstücken nicht ausschließt, wenn die Merkmale dieser Grundstücke in der Zeit zwischen ihrem Erwerb und ihrem Wiederverkauf durch den Steuerpflichtigen z. B. durch ihre Aufteilung in Parzellen oder wegen der Durchführung von Arbeiten zum Anschluss an Gas- oder Stromnetze, geändert wurden.
Kosten
63 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.