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Steuerrecht
04.08.2022
Steuerrecht
BFH: Rechtliches Gehör: wiederholende Schriftsätze; Sachdienlichkeit der Antragstellung

BFH, Beschluss vom 28.6.2022 – II B 94/21

ECLI:DE:BFH:2022:B.280622.IIB94.21.0

Volltext BB-Online BBL2022-1813-4

Amtliche Leitsätze

1. NV: Die unterlassene Übermittlung eines wiederholenden Schriftsatzes stellt regelmäßig keine Verletzung rechtlichen Gehörs dar.

2. NV: Ein Antrag ist im Allgemeinen sachdienlich, wenn er dem Gericht ermöglicht, über das sachliche Anliegen des Klägers zu entscheiden.

 

Sachverhalt

I.

Die Kläger und Beschwerdeführer (Klägerin und Kläger) sind Miterben nach ihrem 2015 verstorbenen, im Zeitpunkt seines Todes unter Betreuung stehenden Bruder. Der Bruder war neben weiteren Familienangehörigen Miterbe nach seinem im Jahre 1945 verstorbenen Vater. Der Beklagte und Beschwerdegegner (Finanzamt ‑‑FA‑‑) setzte gegenüber beiden Klägern Erbschaftsteuer fest und berücksichtigte dabei jeweils Verbindlichkeiten aus einer Ausgleichsverpflichtung des Bruders gegenüber der Erbengemeinschaft nach dem Vater. Deren Höhe ist zwischen den Beteiligten streitig.

Mit Schreiben vom 28.12.2018 ersuchte das FA das für den Bruder zuständige Betreuungsgericht (Amtsgericht ‑‑AG‑‑) um Übersendung aller dessen Vermögensverhältnisse betreffenden Vorgänge, hilfsweise die Überlassung der Betreuungsakte, um die Nachlassverbindlichkeit zu prüfen. Unterlagen, die das Persönlichkeitsrecht des Verstorbenen oder innerfamiliäre Angelegenheiten beträfen, benötige es nicht.

Die Kläger legten gegen das Auskunftsersuchen Einspruch ein. Das AG teilte dem FA mit, eine Aussonderung der tatsächlich erforderlichen Aktenbestandteile sei nicht möglich, da sich nahezu der gesamte Akteninhalt auf das Erbauseinandersetzungsverfahren beziehe. Mit Einspruchsentscheidung vom 26.08.2019 wies das FA den Einspruch (nur) der Klägerin zurück. In der Einspruchsentscheidung heißt es u.a.:

"Die Übersendung der erbetenen Unterlagen stellt auch keine Überforderung des AG dar, wie die Einspruchsführerin dem Schreiben des AG vom 05.04.19 zu entnehmen meint. Wenn sich - wie das AG ausführt - 'nahezu der gesamte Akteninhalt' mit dem Thema Erbauseinandersetzung/Ausgleichsforderung befasst, dürfte es kein Problem sein, die Aktenteile, die z.B. Gesundheitszustand des [Bruders] oder Pflegeheimfragen betreffen, auszusondern. ... "

Die Kläger erhoben Anfechtungsklage, der sie die Einspruchsentscheidung beifügten. Vor Eingang einer Klagebegründung erwiderte das FA auf die Klage durch Verweisung auf die Einspruchsentscheidung. Nach Eingang der Klagebegründung, mit der die Kläger ankündigten, dass die Klägerin die Aufhebung der Einspruchsentscheidung, der Kläger die Aussetzung des Verfahrens bis zum Erlass einer Einspruchsentscheidung beantragen werde, nahm das FA mit einem Schriftsatz vom 30.08.2021 zur Sache Stellung. Darin hieß es u.a.:

"Wenn sich - ausweislich der Angabe des Amtsgerichts […] - der Akteninhalt nahezu vollständig auf die Erbauseinandersetzung bezieht, dürfte es unproblematisch sein, etwaige, die Persönlichkeit des Erblassers oder Angaben zu seinen gesundheitlichen Einschränkungen betreffende Aktenstücke auszusondern, sofern sich diese nicht ohnehin in getrennten Aktenstücken befinden."

Das Finanzgericht (FG) übersandte diesen Schriftsatz ausweislich des Absendevermerks am 09.09.2021 dem Prozessbevollmächtigten der Kläger an dessen ihm zum damaligen Zeitpunkt bekannte Anschrift. Kurz danach erfuhr es von der neuen Kanzleianschrift seit dem 06.09.2021.

Am 22.09.2021 führte das FG die mündliche Verhandlung in Anwesenheit des Prozessbevollmächtigten durch. Das FA erklärte erneut, es sei mit einer Filterung der Gesundheitsdaten einverstanden, während der Prozessbevollmächtigte bekundete, er könne nicht übersehen, ob das möglich sei. Beide Kläger beantragten, das FA zu verpflichten, das Amtshilfeersuchen an das AG zurückzunehmen.

Das FG wies die Klagen ab. Beide Klagen seien zulässig, diejenige des Klägers ohne Vorverfahren, da das Amtshilfeersuchen kein Verwaltungsakt sei, diejenige der Klägerin trotz rechtswidriger Einspruchsentscheidung, da ihr dies die Leistungsklage nicht nehme. In der Sache sei das Amtshilfeersuchen zur Sachaufklärung gerechtfertigt. In den schriftlichen Gründen führte das FG u.a. aus, das FA habe ausdrücklich erklärt, keine Gesundheitsdaten zu benötigen.

Einen Tatbestandsberichtigungsantrag mit verschiedenen Berichtigungsbegehren vom 01.11.2021 hat das FG mit Beschluss vom 15.12.2021 zurückgewiesen. Darin hat es u.a. ausgeführt, dem Prozessbevollmächtigten sei der per Fax übermittelte Schriftsatz des FA vom 30.08.2021 bereits am 01.09.2021 per Post übersandt worden.

Mit ihrer Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision rügen die Kläger einen Verfahrensmangel i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) in Gestalt einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes i.V.m. § 119 Nr. 3 FGO. Zum einen sei durch die unterlassene Übersendung der Stellungnahme des FA vom 30.08.2021 § 96 Abs. 2 FGO verletzt. Hätten sie ‑‑die Kläger‑‑ rechtzeitig von der darin enthaltenen Behauptung erfahren, nicht benötigte Aktenstücke könnten unproblematisch ausgesondert werden, hätten sie dazu Beweisantrag gestellt, zumal das AG zuvor gerade das Gegenteil erklärt habe. Zum anderen habe das FG in der mündlichen Verhandlung unter Verletzung seiner Hinweispflicht aus § 76 Abs. 2 FGO auf einen ungünstigen, nämlich zur Klageabweisung führenden Antrag hingewirkt. Hätte es stattdessen auf die Rechtswidrigkeit der Einspruchsentscheidung hingewiesen, hätte die Klägerin den Antrag nicht umgestellt, so dass der Klage stattzugeben gewesen wäre. Offenbar habe das FG unter Verstoß gegen seine Pflicht zur Unparteilichkeit unbedingt die Akteneinsicht gewähren wollen.

Aus den Gründen

II.

10        Die Beschwerde ist unbegründet. Die gerügten Verfahrensmängel liegen nicht vor.

11        1. Soweit die Kläger den Schriftsatz vom 30.08.2021 nicht vor der mündlichen Verhandlung zur Kenntnis erhalten haben, begründet dies keine Verletzung rechtlichen Gehörs.

12        a) Nach § 96 Abs. 2 FGO darf das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten. Es besteht ein umfassender Anspruch, über den gesamten Prozessstoff kommentarlos und ohne Einschränkungen unterrichtet zu werden. Das FG ist verpflichtet, entscheidungserhebliche Fakten und Unterlagen nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern diese auch nach § 77 Abs. 1 Satz 4 FGO dem jeweils anderen Beteiligten von Amts wegen zur Kenntnis zu geben. Die unterlassene Übersendung oder ggf. Übergabe eines entsprechenden Schriftsatzes in der mündlichen Verhandlung verletzt daher grundsätzlich das rechtliche Gehör (Beschluss des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 08.05.2017 - X B 150/16, BFH/NV 2017, 1185, Rz 14 f., m.w.N.). Das setzt allerdings voraus, dass dieser Schriftsatz für die Entscheidung des FG erheblich gewesen sein kann (BFH-Beschlüsse vom 15.02.2012 - IV B 126/10, BFH/NV 2012, 774, Rz 14, und in BFH/NV 2017, 1185, Rz 15). Die Kausalitätsvermutung des § 119 FGO ist nach ständiger Rechtsprechung auf diejenigen Fälle beschränkt, in denen sich die Verletzung rechtlichen Gehörs auf das Gesamtergebnis des Verfahrens bezieht. Betrifft sie nur einzelne Feststellungen oder rechtliche Gesichtspunkte, hat der Beschwerdeführer darzulegen, was er im Falle der Gewährung rechtlichen Gehörs noch vorgetragen hätte und inwiefern bei Berücksichtigung dieses Vorbringens eine andere Entscheidung möglich gewesen wäre (vgl. BFH-Beschlüsse vom 10.10.1994 - VI B 139/93, BFH/NV 1995, 326, und in BFH/NV 2017, 1185, Rz 17, m.w.N.). Wiederholt ein Schriftsatz nur bisheriges Vorbringen, begründet deshalb die unterlassene Übermittlung regelmäßig keine Gehörsverletzung mehr (vgl. BFH-Beschluss vom 19.11.2003 - I R 41/02, BFH/NV 2004, 604, unter II.2.).

13        b) Zwar hat nach Aktenlage der Schriftsatz vom 30.08.2021 den Prozessbevollmächtigten der Kläger bis zur mündlichen Verhandlung tatsächlich nicht erreicht. Die beanstandete Passage des Schriftsatzes vom 30.08.2021 war jedoch wiederholendes Vorbringen, das bereits in der Einspruchsentscheidung gegenüber der Klägerin enthalten war. Die Einspruchsentscheidung hatte das FA durch Bezugnahme bereits zum Gegenstand seiner Klageerwiderung gemacht. Soweit die Einspruchsentscheidung nur gegenüber der Klägerin, nicht aber gegenüber dem Kläger, ergangen war, ist das ebenfalls unerheblich, weil der gemeinsame Prozessbevollmächtigte sie angesichts der Anlage zur Klageschrift nachweislich kannte. Diese Kenntnis ist dem Kläger zuzurechnen. Inhaltlich unterscheiden sich die Einspruchsentscheidung und der Schriftsatz vom 30.08.2021 in dem streitigen Punkt nicht. In der Einspruchsentscheidung heißt es, es "dürfte ... kein Problem sein, die Aktenteile, die z.B. Gesundheitszustand ... betreffen, auszusondern", in dem Schriftsatz, "dürfte ... unproblematisch sein, etwaige, ... Angaben zu seinen gesundheitlichen Einschränkungen betreffende Aktenstücke auszusondern". Auf die Frage, ob auch die Einlassung des FA in der mündlichen Verhandlung inhaltlich dieser Aussage entsprach, kommt es deshalb nicht mehr an.

14        2. Es kann dahinstehen, ob die Kläger mit dem Vorhalt, das FG habe trotz gegenteiliger Angabe des AG einfach die Annahme des FA zu der Filterungsmöglichkeit übernommen, eine gesonderte Verfahrensrüge erheben wollen. Diese wäre ungeachtet der Darlegungsanforderungen nach § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO jedenfalls unbegründet.

15        Insbesondere liegt kein Verstoß gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO vor. Das FG hat es nicht mit dem FA für feststehend gehalten, dass die Akten tatsächlich gefiltert werden könnten. Das FG hat die gegenteilige Aussage des AG im Tatbestand zitiert; sie war ihm also bewusst. Das Urteil ist daher nur so zu verstehen, dass das FG die Rechtsauffassung vertritt, etwaige Schwierigkeiten bei der Aussonderung führten zu einem Anspruch des FA auf Einsicht in die gesamte Akte. Auf Grundlage dieser Rechtsauffassung war die Frage, ob tatsächlich eine Filterungsmöglichkeit bestand, für die Entscheidung unerheblich. Dann bedurfte es dazu auch keiner weiteren Sachaufklärung, so dass auch ein Verstoß gegen § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO nicht vorliegt.

16        3. Das FG hat auch nicht gegen seine Hinweispflicht aus § 76 Abs. 2 FGO verstoßen, indem es auf einen ungünstigen, nämlich zur Klageabweisung führenden Antrag der Klägerin hingewirkt haben soll.

17        a) Es kann dahinstehen, ob die Klägerin mit dieser Rüge bereits aus formellen Gründen ausgeschlossen ist, weil sich die behaupteten Hinweise nicht aus dem Protokoll ergeben. Nach § 94 FGO i.V.m. § 160 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) sind die wesentlichen Vorgänge der Verhandlung in das Protokoll aufzunehmen. Die Beachtung der für die Verhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten kann nach § 94 FGO i.V.m. § 165 Satz 1 ZPO nur durch das Protokoll bewiesen werden. Die Reichweite der negativen Beweiskraft hängt mithin davon ab, ob die Erteilung von Hinweisen hinsichtlich der Antragstellung auch gegenüber dem fachkundigen Vertreter der Klägerin als wesentlicher Vorgang nach § 160 Abs. 2 ZPO zu werten ist (zum Hinweis gegenüber dem nicht vertretenen und selbst nicht fachkundigen Kläger BFH-Beschluss vom 25.11.2014 - X B 98/14, BFH/NV 2015, 504, Rz 11). Einen Antrag auf Protokollberichtigung nach § 94 FGO i.V.m. § 164 ZPO hat die Klägerin nicht gestellt.

18        b) Anders als die Klägerin meint, hätte das FG mit einem derartigen Hinweis seine Hinweispflicht nicht verletzt, sondern gerade erfüllt. Nach § 76 Abs. 2 FGO hat der Vorsitzende darauf hinzuwirken, dass sachdienliche Anträge gestellt werden. Sachdienlich und im Zweifel gewollt ist, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der recht verstandenen Interessenlage entspricht. Allerdings darf das Gericht nicht über das Klagebegehren hinausgehen (vgl. BFH-Urteil vom 18.09.2019 - II R 15/16, BFHE 266, 57, BStBl II 2021, 64, Rz 18). "Sach"-dienlich ist nur derjenige Antrag, der dem Gericht ermöglicht, über das sachliche Anliegen des Klägers zu entscheiden. Nicht maßgebend ist, welchen Inhalt die später ergehende Entscheidung hat. In der Sache begehrte die Klägerin die Beseitigung des Amtshilfeersuchens. Das hätte sie mit der Aufhebung der Einspruchsentscheidung nicht erreicht. Sie hätte dafür einen weiteren Prozess anstrengen müssen, der sich auch hinsichtlich des Kostenrisikos nicht von dem vorliegenden Prozess unterschieden hätte.

19        c) Die Behauptung, der Hinweis zeuge von Parteilichkeit, weil das FG unbedingt die Akteneinsicht habe ermöglichen wollen, berührt die Sachdienlichkeit eines etwaigen Hinweises nicht und lässt im Übrigen keine konkrete Zulassungsrüge erkennen.

20        4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 2 FGO.

21        5. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat nach § 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 FGO ab.

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