: Rechtliches Gehör bei Klageabweisung nach Wechsel des Berichterstatters
BFH, Urteil vom 11.11.2008 - IX R 14/07
Vorinstanz: FG Baden-Württemberg, Außensenate Karlsruhe, vom 13.9.2006 - 7 K 71/02 (EFG 2007, 1137)
LEITSATZ
Erklärt der Berichterstatter ausdrücklich auch im Namen seiner Senatskollegen im Rahmen mehrerer eingehend begründeter Berichterstatterschreiben, die Klage werde Erfolg haben, so stellt es eine Verletzung des rechtlichen Gehörs wie auch der Anforderungen an ein faires Gerichtsverfahren dar, wenn das FG die Klage nach einem Wechsel des Berichterstatters ohne einen entsprechenden Hinweis an den Kläger abweist.
GG Art 103 Abs. 1; FGO § 96 Abs. 2, § 119 Nr. 3; AO § 163; EStG § 22 Nr. 3
SACHVERHALT
I.
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) erhielt u.a. in den Streitjahren 1996 bis 1998 als nichtselbständig tätiger Bereichsleiter für Projektentwicklung/Baumanagement bei der X-Immobiliengesellschaft mbH für verschiedene Projekte Schmiergelder, die er im Laufe des im April 2000 eröffneten Strafverfahrens an seine Arbeitgeberin abführte.
Die Schmiergelder waren in den Steuererklärungen für die Streitjahre nicht erklärt worden. Nachdem der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) von den Zahlungen Kenntnis erlangt hatte, änderte er die Einkommensteuerbescheide der betreffenden Jahre gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) und behandelte die Schmiergeldzahlungen als sonstige Einkünfte gemäß § 22 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG). Aus der Anlage der Schmiergelder auf einem Schweizer Konto wurden zudem Guthabenzinsen geschätzt. Es kam zu Nachzahlungen von insgesamt 1 979 712,14 DM (Einkommensteuer, Solidaritätszuschlag und Nachzahlungszinsen). Über den Einspruch gegen die geänderten Einkommensteuerbescheide ist noch nicht entschieden.
Bei der Veranlagung für das Jahr 2000 machte der Kläger die an die Arbeitgeberin abgeführten Schmiergelder in Höhe von 2 405 490 DM als Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit geltend. Das FA setzte diesen Betrag als Werbungskosten bei den sonstigen Einkünften nach § 22 Nr. 3 EStG an, was zu einem verrechenbaren Verlust i.S. von § 22 Nr. 3 Satz 4 EStG führte, der sich jedoch aufgrund der gesetzlichen Verlustverrechnungsbeschränkung bei der Einkommensteuerveranlagung im Jahre 2000 nicht auswirkte. Der im Jahr 2000 entstandene Verlust wurde in Höhe von 200 000 DM in das Jahr 1999 zurückgetragen. Den verbleibenden Verlust von 2 205 490 DM stellte das FA auf den 31. Dezember 2000 gesondert fest.
Im Februar 2001 stellte der Kläger den Antrag, im Billigkeitswege von der Anwendung des Zu- und Abflussprinzips abzusehen und bei der Veranlagung der Streitjahre 1996 bis 1998 die im Jahr 2000 abgeführten Gelder als Werbungskosten bzw. negative Einnahmen bei den sonstigen Einkünften anzusetzen; dies lehnte das FA ab. Der Einspruch hiergegen blieb ohne Erfolg.
Im finanzgerichtlichen Verfahren führte der Berichterstatter am 19. November 2003 einen Erörterungstermin durch; nach dem Protokoll hierzu äußerte er sich dahingehend, dass seiner Auffassung nach Abwägungsdefizite in der Ermessensentscheidung des FA bestünden. Die Beteiligten kamen überein, dass ihnen eine ausführliche rechtliche Einschätzung des erkennenden Senats durch ein Berichterstatterschreiben mitgeteilt werden solle; auf Grundlage des Berichterstatterschreibens sollten sich die Kläger- und Beklagtenseite untereinander über das weitere Vorgehen verständigen. Dem folgte unter dem 21. November 2003 das angekündigte Berichterstatterschreiben zu den "mit den übrigen Senatsmitgliedern abgestimmten rechtlichen Einschätzungen zu dem Streitfall". Danach sind "in der angegriffenen ablehnenden Ermessensentscheidung grundlegende (verfassungs-)rechtliche Aspekte unberücksichtigt geblieben, so dass der Senat schon aus diesem Grunde jedenfalls zu einer aufhebenden Entscheidung gelangen müsste". Nach einem weiteren Berichterstatterschreiben vom 6. Juli 2004 wird die materielle Rechtslage "gegenwärtig dahingehend eingeschätzt, dass nichts dafür spricht, dass der Ermessensspielraum des Beklagten hinsichtlich des begehrten Erlasses --nämlich Änderung der Einkommensteuer 1996 bis 1998-- auf null reduziert wäre, also nur der Erlass in Betracht kommt. ... Denn auch eine Entscheidung des Beklagten, die Rückzahlungen der Bestechungsgelder im Veranlagungszeitraum der tatsächlichen Rückführung einkommensteuerlich zu berücksichtigen, erscheint dem Gericht als ermessensgerecht". Eine streitige Entscheidung "könnte mangels Ermessensreduzierung auf null und aus den im Berichterstatterschreiben vom 21. November 2003 näher dargelegten Gründen nur dahingehend lauten, dass die angegriffenen Entscheidungen des Beklagten aufgehoben werden und der Beklagte verurteilt wird, ... den Erlassantrag erneut zu bescheiden". Der Berichterstatter schlug im Schreiben vom 6. Juli 2004 eine Konsenslösung vor. Hierauf folgte ein reger Schriftsatzwechsel zwischen den Beteiligten, die sich nicht auf eine Konsenslösung verständigten.
Nachdem der Kläger bereits zu einem früheren Zeitpunkt auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet hatte, erklärte das FA mit Schreiben vom 9. Dezember 2004, nicht auf mündliche Verhandlung zu verzichten. Am 6. Juli 2006 erfolgte die Ladung zur mündlichen Verhandlung am 13. September 2006. Mit Schreiben vom 4. August 2006 verzichtete das FA daraufhin auf mündliche Verhandlung. Nach einem in den Akten befindlichen Vermerk des mittlerweile für den ursprünglichen Berichterstatter neu eingetretenen Berichterstatters rief der Kläger am 15. August 2008 beim Finanzgericht (FG) an, um mitzuteilen, dass er weiterhin auf mündliche Verhandlung verzichten wolle. Er weise noch einmal auf seine Auffassung hin, wonach das vom FA gefundene Ergebnis verfassungswidrig sei. Er wolle keinen weiteren Schriftsatz mehr einreichen.
Mit seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte 2007, 1137, veröffentlichten Urteil entschied das FG, die Ablehnung des beantragten Erlasses durch abweichende Festsetzung der Einkommensteuer 1996, 1997 und 1998 aus Billigkeitsgründen gemäß § 163 AO sei ermessensfehlerfrei.
Hiergegen richtet sich die Revision des Klägers, mit der er die Verletzung seines rechtlichen Gehörs wie auch die Verletzung materiellen Rechts rügt.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils und des Ablehnungsbescheids vom 16. Mai 2001 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 12. März 2002 den Beklagten zu verpflichten, die Einkommensteuer für die Jahre 1996 bis 1998 unter Berücksichtigung der in den Jahren 2000 und 2001 abgeführten Schmiergelder als negative Einnahmen oder Werbungskosten festzusetzen.
Das FA beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
AUS DEN GRÜNDEN
II.
Die Revision ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Entscheidung des FG und Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
Das FG hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (§ 119 Nr. 3 FGO, Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes) verletzt, indem es im Widerspruch zu den vorangegangenen eindeutigen Berichterstatterschreiben ohne einen entsprechenden richterlichen Hinweis die Klage abgewiesen hat (§ 96 Abs. 2 FGO).
Zwar geht die Rechtsprechung grundsätzlich davon aus, dass der in seiner Entscheidung freie Vollsenat im Rahmen einer mündlichen Verhandlung die Beteiligten nicht darauf hinzuweisen brauche, dass er möglicherweise eine Rechtsansicht vertrete, die von einer vor der Entscheidung des Senats bekundeten Auffassung des Berichterstatters abweiche (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 28. November 2006 X B 160/05, BFH/NV 2007, 480). Auch lässt ein Wechsel in der Besetzung des Gerichts die Wirksamkeit eines zuvor erklärten Verzichts auf mündliche Verhandlung grundsätzlich unberührt (BFH-Beschlüsse vom 22. Oktober 2003 I B 39/03, BFH/NV 2004, 350; vom 3. Dezember 1995 VIII S 3/96, BFH/NV 1997, 292, m.w.N.).
Vorliegend hat das FG jedoch eine unzulässige Überraschungsentscheidung (vgl. zum Begriff BFH-Beschluss vom 17. März 2008 IX B 258/07, BFH/NV 2008, 1180, m.w.N.) getroffen, nachdem sich der frühere Berichterstatter nicht nur im Erörterungstermin, sondern --ausdrücklich auch im Namen des Senats-- in zwei weiteren Berichterstatterschreiben mit umfangreicher verfassungsrechtlicher wie einfachrechtlicher Begründung dahingehend geäußert hatte, dass die Klage Erfolg haben müsse. Vor diesem Hintergrund stellt es einen Verstoß gegen die Anforderungen eines fairen Verfahrens wie auch des rechtlichen Gehörs dar, wenn das FG im Widerspruch zu seiner vorherigen eindeutigen Äußerung nach einem Wechsel des Berichterstatters die Klage ohne einen Hinweis im schriftlichen Verfahren abweist.