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Steuerrecht
11.09.2025
Steuerrecht
EuGH: Nichtzahlung der erklärten Mehrwertsteuerschuld – gesamtschuldnerische Haftung eines Dritten – Insolvenz und Löschung des Steuerpflichtigen – Grundsatz der Rechtssicherheit – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (rumänisches Vorabentscheidungsersuchen)

GAin Kokott, Schlussanträge vom 4.9.2025 – C-121/24

ECLI:EU:C:2025:675

Volltext BB-Online BBL2025-2133-2

 

1. Art. 205 der Richtlinie 2006/112 ist dahin gehend auszulegen, dass er keine Steuerschuldverlagerung auf einen Drit-ten, sondern nur eine akzessorische Haf-tung bezüglich einer noch nicht erlosche-nen Steuerschuld eines (noch) existieren-den Steuerschuldners erlaubt. Die Fest-setzung einer Haftungsschuld nach Ab-schluss des Insolvenzverfahrens und Erlöschen des Steuerpflichtigen ist von Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie daher nicht gedeckt.

2. Art. 205 in Verbindung mit Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie ermöglicht auch die Inanspruchnahme des Leistungsemp-fängers, wenn er wusste oder hätte wis-sen müssen, dass er mit seinem Umsatz in einen Betrug seines Vertragspartners involviert ist oder sich selbst missbräuch-lich verhält. Die bloße Nichtzahlung der erklärten Steuer stellt aber keinen Mehr-wertsteuerbetrug dar. Sofern dem Leis-tungsempfänger kein missbräuchliches Verhalten vorgeworfen werden kann, begründet allein die Tatsache, dass er wusste oder hätte wissen müssen, dass sein Vertragspartner die erklärte Steuer nicht zahlen würde, keine Haftung seiner-seits.

 

I.          Einführung

1.         Dieses Vorabentscheidungsersuchen betrifft die gesamtschuldnerische Haftung eines Dritten für Mehrwertsteuerschulden eines nicht mehr existenten Steuerschuldners (einer Gesellschaft), wobei die Haftung erst nach dessen Liquidation (hier Löschung) angeordnet wurde. Die Verbindung zwischen dem Steuerschuldner und dem Dritten bildet ein Vertrag zur Erbringung einer Lieferung oder Dienstleistung, der in der Vergangenheit ordnungsgemäß durchgeführt worden ist.

 

2.         Laut dem vorlegenden Gericht soll es nach der in Frage stehenden bulgarischen Regelung anscheinend ausreichen, dass der Haftende wusste oder hätte wissen müssen, dass sein Geschäftspartner seine Steuerschuld nicht begleichen wird. Es fragt, ob eine so weitgehende Regelung zur Haftung für Steuerschulden eines bereits gelöschten Geschäftspartners mit den Vorgaben der Mehrwertsteuerrichtlinie vereinbar ist.

 

3.         Darüber hinaus bietet sich dem Gerichtshof die Gelegenheit, einen möglichen Widerspruch in seiner Rechtsprechung zu beheben.(2) Denn einerseits forderte er für die „Sanktionierung“ von Unternehmen bislang, dass sie von den betrügerischen Aktivitäten eines Dritten in einer Leistungskette zumindest hätten wissen müssen.(3) Andererseits lässt ein neueres Urteil ein Wissenmüssen von einer bloßen Nichtabführung der Steuer durch den Dritten ausreichen,(4) obwohl die Nichtzahlung der Steuer als solche gerade – auch hierzu gibt es mehrere Entscheidungen des Gerichtshofs – nicht genügt, um einen Steuerbetrug anzunehmen.(5) Warum das Wissenmüssen von einem Nicht-Betrug (Nichtzahlung der Steuerschuld) mit dem Wissenmüssen von einem Betrug (Nichterklärung der Steuer) in der Rechtsfolge (Haftung für die fremde Steuerschuld bzw. die Versagung des Vorsteuerabzugs) gleichgesetzt werden kann, leuchtet nicht ein.

 

4.         Zwar hält der Gerichtshof bei der „Sanktionierung“ von Beteiligten eines Mehrwertsteuerbetrugs mittlerweile viele staatliche Maßnahmen für verhältnismäßig. Man könnte sogar den Eindruck gewinnen, dass nunmehr – frei nach einem bekannten idiomatischen Ausdruck – im Krieg, in der Liebe und bei der Bekämpfung des Mehrwertsteuerbetrugs alles erlaubt ist. Dennoch sind die rechtsstaatlichen Bindungen der Staatsgewalt auch gegenüber möglichen Betrügern einzufordern.

 

II.         Rechtlicher Rahmen

A.         Unionsrecht

5.         Den unionsrechtlichen Rahmen bildet die Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem(6) (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie). Der 44. Erwägungsgrund dieser Richtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten sollten auch Regelungen treffen können, nach denen eine andere Person als der Steuerschuldner gesamtschuldnerisch für die Entrichtung der Steuer haftet.“

 

6.         Art. 193 der Mehrwertsteuerrichtlinie legt den Steuerschuldner fest:

„Die Mehrwertsteuer schuldet der Steuerpflichtige, der Gegenstände steuerpflichtig liefert oder eine Dienstleistung steuerpflichtig erbringt, außer in den Fällen, in denen die Steuer gemäß den Artikeln 194 bis 199b sowie 202 von einer anderen Person geschuldet wird.“

 

7.         Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie gibt die Möglichkeit, neben dem Steuerschuldner eine weitere Person zu bestimmen, die die Steuerschuld gesamtschuldnerisch zu entrichten hat:

„In den in den Artikeln 193 bis 200 sowie 202, 203 und 204 genannten Fällen können die Mitgliedstaaten bestimmen, dass eine andere Person als der Steuerschuldner die Steuer gesamtschuldnerisch zu entrichten hat.“

 

8.         Art. 273 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht Möglichkeiten der Mitgliedstaaten u. a. zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung vor:

„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.“

 

B.         Bulgarisches Recht

–       Danachno-osiguritelen protsesualen kodeks (Steuer- und Sozialversicherungsverfahrensordnung, im Folgenden: DOPK)

9.         Art. 21 Abs. 2 und 3 DOPK regelt die Dauer der Haftung Dritter:

„(2) Die Haftung Dritter tritt auch dann ein, wenn in Bezug auf den Schuldner die in Art. 168 Nr. 5 bis 7 genannten Sachverhalte vorliegen.

(3) Die Haftung Dritter entfällt, wenn die Schuld, für die sie mit einem rechtskräftigen Rechtsakt festgestellt wurde, erlischt. …“

 

10.       Art. 112 Abs. 1 DOPK betrifft den Beginn des Steuerprüfungsverfahrens:

„(1) Das Steuerprüfungsverfahren wird mit dem Erlass einer Steuerprüfungsanordnung eingeleitet.“

 

11.       Art. 168 Nrn. 6 und 7 DOPK regelt, wann die öffentlich-rechtliche Forderung erlischt:

„6. nach Verteilung der Erlöse aus der Verwertung des Vermögens einer juristischen Person, die für insolvent erklärt wurde, es sei denn, Dritte haften für die öffentlich-rechtliche Forderung;

7. bei der Löschung einer juristischen Person nach Beendigung des Liquidationsverfahrens, es sei denn, Dritte haften für die öffentlich-rechtliche Forderung“.

 

–       Zakon za danak varhu dobavenata stoynost (Mehrwertsteuergesetz, im Folgenden: ZDDS)

12.       Art. 177 ZDDS ist überschrieben mit „Haftung einer Person im Fall eines Missbrauchs“ und sieht unter bestimmten Umständen eine Haftung des Leistungsempfängers vor, der den Vorsteuerabzug geltend gemacht hat:

„(1) Die registrierte Person, die Empfänger einer steuerpflichtigen Lieferung oder Dienstleistung ist, haftet für die von einer anderen registrierten Person geschuldete und nicht gezahlte Steuer, soweit sie vom Recht auf Abzug der Vorsteuer, die in unmittelbarem oder mittelbarem Zusammenhang mit der geschuldeten und nicht gezahlten Steuer steht, Gebrauch gemacht hat.

(2) Die Haftung nach Abs. 1 tritt ein, wenn die registrierte Person wusste oder hätte wissen müssen, dass die Steuer nicht gezahlt werden wird, und dies von der Prüfungsbehörde gemäß den Art. 117 bis 120 des Danachno-osiguritelen protsesualen kodeks bewiesen wird.

(3) Für die Zwecke des Abs. 2 wird angenommen, dass die Person hätte wissen müssen, dass die Steuer nicht gezahlt werden wird, wenn die folgenden Voraussetzungen kumulativ vorliegen:

1. Die geschuldete Steuer nach Abs. 1 wurde von keinem der vorgelagerten Lieferer oder Dienstleistungserbringer, die mit demselben Gegenstand oder derselben Dienstleistung, gleichviel ob in derselben, einer veränderten oder einer verarbeiteten Form, einen steuerpflichtigen Umsatz bewirkt haben, effektiv als Ergebnis für einen Steuerzeitraum gezahlt;

2. der steuerpflichtige Umsatz erfolgt nur dem Anschein nach, umgeht das Gesetz oder erfolgt zu einem sich vom Marktpreis erheblich unterscheidenden Preis.

(4) Die Haftung nach Abs. 1 ist nicht an die Erlangung eines bestimmten Vorteils aufgrund der Nichtzahlung der geschuldeten Steuer geknüpft.

(5) Unter den Voraussetzungen gemäß Abs. 2 und 3 haftet auch ein Lieferer oder Dienstleistungserbringer, der dem Steuerpflichtigen, der die nicht gezahlte Steuer schuldet, vorgelagert ist.

(6) In den Fällen der Abs. 1 und 2 trifft die Haftung den Steuerpflichtigen, der unmittelbarer Empfänger der Lieferung oder Dienstleistung ist, für die die geschuldete Steuer nicht gezahlt wurde, und bei Erfolglosigkeit der Beitreibung kann jeder nachgelagerte Empfänger in der Lieferkette haftbar gemacht werden.

(7) Abs. 6 gilt entsprechend für die vorgelagerten Lieferer oder Dienstleistungserbringer.“

 

III.        Sachverhalt und Vorabentscheidungsersuchen

13.       Die „Vaniz“ EOOD (im Folgenden: Vaniz) ist eine registrierte Handelsgesellschaft. Gegenstand ihrer Tätigkeit ist der Kraft- und Güterverkehr. In ihrer Eigenschaft als Steuerpflichtige ist Vaniz Empfängerin von steuerbaren Lieferungen (Kauf von Lastkraftwagen und Fahrzeugen) und Dienstleistungen (Miete von Kraftfahrzeugen), die von der „Stars International“ EOOD in 2017 erbracht wurden. Offenbar wurden diese Rechnungen von Vaniz auch bezahlt. Mit den ausgestellten Rechnungen übte Vaniz das Recht auf Vorsteuerabzug aus.

 

14.       Nach einer Prüfung stellten die Finanzbehörden fest, dass für die angeführten Steuerzeiträume der Lieferant die für die erfolgten Lieferungen abzuführende Mehrwertsteuer (die in den Rechnungen an Vaniz ausgewiesen war) zwar angegeben, jedoch nicht entrichtet hat. Im Jahr 2019 wurde das Insolvenzverfahren über „Stars International“ eröffnet, am 4. August 2020 beendet und die Löschung der Gesellschaft im Handelsregister angeordnet.

 

15.       Im Jahr 2022 wurde gegen Vaniz ein Steuerprüfungsverfahren eingeleitet, um die Haftung gemäß Art. 177 ZDDS für die von „Stars International“ geschuldete und nicht entrichtete Mehrwertsteuer, die sich auf die an Vaniz erbrachten Lieferungen und Dienstleistungen bezog, festzustellen. Ein Steuerbescheid nahm gemäß Art. 177 ZDDS Vaniz für die Schulden von „Stars International“ für die Steuerzeiträume Juli, August und September 2017 in Haftung. Dies begründeten die Finanzbehörden mit Art. 177 Abs. 2 ZDDS, wonach der Tatbestand von Art. 177 Abs. 1 ZDDS dann erfüllt ist, wenn der Empfänger einer steuerbaren Lieferung wusste oder hätte wissen müssen, dass die in den ihm ausgestellten Rechnungen ausgewiesene Steuer nicht entrichtet werden wird.

 

16.       Vaniz focht den Steuerprüfungsbescheid im Verwaltungsverfahren erfolglos an. Danach klagte sie beim vorlegenden Gericht. Dieses betont, dass der Haftende (hier Vaniz) erstmalig nach Einleitung der Steuerprüfung davon erfahren hat, dass eine solche Haftung in Betracht kommt. Zu diesem Zeitpunkt existierte sein Vertragspartner – der Steuerschuldner – bereits nicht mehr. Insofern fragt es sich, ob eine derartige Auslegung im Einklang mit der Mehrwertsteuerrichtlinie steht.

 

17.       Daher hat das Administrativen sad Veliko Tarnovo (Verwaltungsgericht Veliko Tarnovo, Bulgarien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Lassen der 44. Erwägungsgrund und Art. 205 der Richtlinie 2006/112 und entsprechend die Grundsätze der Transparenz und Verhältnismäßigkeit der Haftung die Einleitung eines Verfahrens zu, mit dem die Eigenschaft eines Gesamtschuldners von Mehrwertsteuerverbindlichkeiten und der Umfang der gesamtschuldnerischen Haftung festgestellt werden sollen, nachdem der Hauptschuldner aufgehört hat, als Rechtssubjekt zu existieren?

2. Stehen sie nach der Löschung des Schuldners im Handelsregister ohne einen in die Rechte und Pflichten eintretenden Rechtsnachfolger dem Fortbestand einer eingetragenen Forderung gegen diese Person entgegen, für die im Nachhinein ein Dritter haften soll?

3. Entspricht die so dargestellte Verwaltungspraxis der nationalen Steuerbehörden der Verwirklichung des Grundsatzes der Rechtssicherheit?

 

18.       Im Verfahren vor dem Gerichtshof haben Vaniz, die Republik Bulgarien, die bulgarische Finanzverwaltung, das Königreich Spanien und die Europäische Kommission schriftlich Stellung genommen. Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung hat der Gerichtshof gemäß Art. 76 Abs. 2 der Verfahrensordnung abgesehen.

 

IV.        Rechtliche Würdigung

19.       Mit seinen drei Fragen möchte das vorlegende Gericht im Ergebnis wissen, wie weit die gesamtschuldnerische Haftung nach Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie reicht, insbesondere wenn der Hauptschuldner als Rechtssubjekt bereits vor der Inanspruchnahme als Haftungsschuldner weggefallen ist. Ich werde daher die drei Fragen zusammen beantworten.

 

20.       Bedeutung erlangen diese Fragen, weil das nationale Recht, wenn man allein auf Art. 177 Abs. 2 ZDDS abstellt, eine solche Haftung dem Wortlaut nach großzügig erlaubt. Allerdings ergibt sich aus der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass eine Haftung für fremde Steuerschulden nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig ist. Diese Voraussetzungen sind leichter zu erfüllen, sofern es sich bei der Haftung um eine Maßnahme der Betrugsbekämpfung handelt, nicht aber, wenn es um das „normale“ Insolvenzrisiko geht. Aus diesem Grund muss der Gerichtshof hier entscheiden, ob ein „Wissenmüssen“ von der Nichtzahlung einer zutreffend erklärten Steuer genauso wie die Mitwirkung an einem Steuerbetrug behandelt werden kann (unter A.). Auch wenn der Gerichtshof sich in der Rechtssache ALTI(7) mit Art. 177 ZDDS beschäftigt hat, ermöglicht diese Entscheidung keine unbegrenzte Haftung eines Dritten (unter B.).

 

21.       Aufgrund der – möglicherweise durch die Entscheidung in der Rechtssache ALTI inspirierten – Vorlagefragen ist hier also zu untersuchen, ob Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie es erlaubt, jemanden nur deshalb für Steuerschulden einer bereits liquidierten (gelöschten) Gesellschaft haften zu lassen, weil er deren Vertragspartner war, oder ob es dafür eines besonderen Haftungsgrundes bedarf (unter C.).

 

A.         Grenzen einer „Haftungsschuld“ nach Art. 205 in Verbindung mit Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie im Rahmen der Betrugsbekämpfung

22.       Ausgangspunkt für die Grenzen einer Haftung für Steuerschulden eines Dritten ist hier Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie. Sofern die Haftung zur Betrugs- oder Missbrauchsbekämpfung dient, ist jedoch Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie einzubeziehen.(8) Danach können die Mitgliedstaaten vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.

 

1. Vorsätzliche Beteiligung an einem Mehrwertsteuerbetrug

23.       Ursprünglich bestand Einigkeit, dass Maßnahmen wie die Versagung des Vorsteuerabzugs oder der Wegfall der Steuerfreiheit nur dann in Betracht kommen, wenn die betreffende Person sich vorsätzlich an einer Steuerhinterziehung beteiligt.(9) Diese Grenze muss ebenso für die Anordnung einer gesamtschuldnerischen Haftung gelten. Denn ob Vaniz der Vorsteuerabzug aus den Umsätzen mit dem Vertragspartner versagt wird oder ob Vaniz für die Steuerschuld des Vertragspartners aus diesen Umsätzen haftet, ergibt fast keinen Unterschied. Der Betrag ist exakt derselbe.

 

2. „Wissenmüssen“ von einem Mehrwertsteuerbetrug in der Leistungskette

24.       Die gerade skizzierte Rechtsprechung zur Betrugsbekämpfung wurde allerdings erweitert, wenn die Person hätte wissen müssen(10), dass ein Vertragspartner (bzw. ein in die Leistungskette involvierter weiterer Unternehmer) an einem Mehrwertsteuerbetrug beteiligt war.(11) Aber auch mit dieser Erweiterung konnte ohne das Vorliegen eines Mehrwertsteuerbetrugs jedenfalls bislang kein Dritter für das Verhalten eines anderen „haftbar“ gemacht werden.(12) Ich kann dem Gerichtshof nicht empfehlen, seine ohnehin schon sehr weitgehende Rechtsprechung im Kontext von Betrug und Missbrauch noch mehr auszudehnen. Das hätte auch Widersprüche zu seiner bisherigen Rechtsprechung zur Folge.

 

25.       Die Große Kammer hat 2018 ausdrücklich klargestellt, dass die bloße Nichtzahlung einer erklärten Steuer keinen Mehrwertsteuerbetrug darstellt.(13) Die Nichtabführung von Mehrwertsteuer, für die bereits eine Erklärung abgegeben wurde, ist – so der Gerichtshof ausdrücklich(14) – nicht so schwerwiegend wie ein Mehrwertsteuerbetrug. Ist der Steuerpflichtige seinen Erklärungspflichten ordnungsgemäß nachgekommen, verfügt die Finanzverwaltung bereits über alle erforderlichen Angaben für die Festsetzung der geschuldeten Mehrwertsteuer und die Feststellung ihrer etwaigen Nichtabführung.(15) Dabei betonte der Gerichtshof, dass die Säumnis bei der Zahlung der Steuerschulden durch Geldbußen gegenüber dem säumigen Steuerpflichtigen geahndet werden kann.(16)

 

26.       In der Rechtssache HA.EN.(17) hat der Gerichtshof – meinen Schlussanträgen folgend(18) – daher ausdrücklich klargestellt, dass, soweit der Steuerpflichtige seinen Erklärungspflichten auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer nachgekommen ist, die Nichtabführung der ordnungsgemäß erklärten Mehrwertsteuer allein keinen Mehrwertsteuerbetrug darstellen kann. Die gilt unabhängig davon, ob diese Unterlassung (durch den Verkäufer eines Grundstücks) vorsätzlich erfolgt oder nicht.(19) Folglich konnte die Finanzverwaltung dem Erwerber eines Grundstücks nicht vorwerfen, dass er wusste oder hätte wissen müssen, dass er durch den Erwerb des Gegenstands an einem Umsatz beteiligt war, der in einen Mehrwertsteuerbetrug einbezogen war,(20) obwohl er möglicherweise wusste, dass der Verkäufer des Grundstücks aufgrund seiner finanziellen Lage wahrscheinlich seine Mehrwertsteuerschuld nicht wird bezahlen können.

 

27.       Dies gilt auch hier. Laut dem Vorabentscheidungsersuchen hat der Lieferant die für die erbrachten Lieferungen abzuführende Mehrwertsteuer (die auch in den Rechnungen an Vaniz ausgewiesen war) ordnungsgemäß erklärt. Die daraus resultierende Steuerschuld wurde „lediglich“ nicht entrichtet. Damit fehlt es an einem Mehrwertsteuerbetrug. Dann kann aber auch demjenigen, der wusste oder hätte wissen müssen, dass sein Vertragspartner die erklärte Steuer nicht zahlen wird, keine Mitwirkung an einem Betrug, sondern allenfalls die Mitwirkung an dessen Säumnis bei der Bezahlung vorgeworfen werden.

 

28.       Die „Mitwirkung an der Säumnis“ eines Steuerpflichtigen ist jedoch nicht so schwerwiegend wie die Mitwirkung an einem Mehrwertsteuerbetrug, denn auch hier verfügt die Finanzverwaltung bereits über alle für die Festsetzung der geschuldeten Mehrwertsteuer und die Feststellung ihrer etwaigen Nichtabführung erforderlichen Angaben. Die Argumentation der Großen Kammer in der Rechtssache Scialdone(21) kann auf die vorliegende Situation übertragen werden. Die bloße „Mitwirkung an der Säumnis“ rechtfertigt weder die Annahme eines eigenen Mehrwertsteuerbetrugs noch die Versagung des Vorsteuerabzugs und auch nicht eine Haftung für fremde Steuerschulden.

 

3. Missbräuchliches Verhalten durch Ausnutzen der Vermögenslosigkeit

29.       Etwas anderes kann daher nur gelten, wenn Vaniz ein missbräuchliches Verhalten durch das (bewusste) Ausnutzen der Vermögenslosigkeit des Vertragspartners vorgeworfen werden könnte, wovon die Finanzverwaltung laut ihrer Stellungnahme auszugehen scheint. Ein solches Verhalten könnte z. B. auch einem Vorsteuerabzug entgegenstehen, wenn die Umsätze, die dieses Recht begründen, eine missbräuchliche Praxis darstellen.(22)

 

30.       Da der Vorsteuerabzug bei Vaniz in der Höhe identisch mit der Steuerschuld des Vertragspartners ist, sollte anstelle der Versagung des Vorsteuerabzugs als milderes Mittel über Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie auch eine Haftung für diese Steuerschuld angeordnet werden können, sofern Vaniz ein missbräuchliches Verhalten vorgeworfen werden kann. Bei Lichte betrachtet fällt dies aber aus den typischerweise von Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie erfassten Fallkonstellationen (dazu näher unter C.) heraus. Wie auch die bulgarische Regierung andeutet, geht es bei Art. 177 ZDDS vielmehr um eine Art Sanktionierung durch die Schaffung eines zusätzlichen Steuerschuldners, um das Steueraufkommen gegen Betrug und Missbrauch zu schützen.

 

31.       Allerdings ist es nicht missbräuchlich, seinen Vertragspartner zu bezahlen, selbst wenn der Leistungsempfänger weiß oder wissen musste (woher auch immer), dass dieser die im Preis enthaltene Mehrwertsteuer zukünftig zwar erklären, aber nicht rechtzeitig abführen wird. Zivilrechtlich ist der Leistungsempfänger zur Zahlung des Preises verpflichtet. Folglich kann die Bezahlung einer zivilrechtlich geschuldeten Gegenleistung normalerweise nicht missbräuchlich sein und damit auch keine Haftung für fremde Steuerschulden begründen.

 

32.       Etwas anderes mag gelten, wenn Vaniz z. B. aufgrund seines gesellschaftsrechtlichen Einflusses die Nichtabführung der erklärten Mehrwertsteuer selbst steuert. Vaniz könnte dann die Insolvenz des Vertragspartners bewusst nutzen, um sich über den Vorsteuerabzug zu bereichern und das Steueraufkommen durch die Insolvenz des Leistenden zu schädigen.(23) Aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergeben sich insoweit jedoch keine Anhaltspunkte.

 

33.       Allerdings hat die Finanzverwaltung in ihrer Stellungnahme auf eine besondere Verknüpfung der beiden Vertragspartner hingewiesen. Der dort geschilderte Sachverhalt könnte einer missbräuchlichen Ausnutzung des Vorsteuerabzugs und Insolvenzrechts nahekommen. Für die Sachverhaltsfeststellung ist jedoch das vorlegende Gericht zuständig. Die Schlussanträge müssen daher von dem durch das vorlegende Gericht mitgeteilten Sachverhalt ausgehen. Danach sind beide Gesellschaften voneinander unabhängige fremde Dritte. Es ist Aufgabe des vorlegenden Gerichts, dies zu verifizieren.

 

4. Zwischenergebnis

34.       Die bulgarischen Gerichte müssen Art. 177 Abs. 2 ZDDS einschränkend bzw. im Zusammenhang mit Abs. 3 auslegen. Art. 177 Abs. 2 ZDDS knüpft für sich betrachtet nicht an das Vorliegen eines Betrugs (oder einer Steuerhinterziehung oder eines Rechtsmissbrauchs) an. Vielmehr tritt danach die Haftung ein, „wenn die registrierte Person wusste oder hätte wissen müssen, dass die Steuer nicht gezahlt werden wird“.(24)

 

35.       Jedoch erfordert das Unionsrecht, dass der Haftungsschuldner zugleich wusste oder wissen musste, dass er in einen Mehrwertsteuerbetrug (oder eine Mehrwertsteuerhinterziehung) des Steuerschuldners involviert ist oder sich selbst – z. B. durch die gezielte Einbeziehung eines insolventen Leistenden – missbräuchlich verhält. Zu diesem Ergebnis kommt man, wenn man Art. 177 Abs. 2 ZDDS im systematischen Kontext mit seinem Abs. 3 liest. Denn Art. 177 Abs. 3 ZDDS setzt voraus, dass der steuerpflichtige Umsatz nur dem Anschein nach erfolgt, das Gesetz umgeht oder zu einem sich vom Marktpreis erheblich unterscheidenden Preis erfolgt. Laut Bulgarien regelt Art. 177 ZDDS daher auch nur die Haftung im Falle eines Missbrauchs oder Betrugs. Als Betrugsbekämpfungsvorschrift, d. h., sofern Abs. 3 conditio sine qua non für die Anwendung von Abs. 2 ist, ist Art. 177 ZDDS unionsrechtlich grundsätzlich unbedenklich.

 

36.       Für das Vorliegen dieser Voraussetzungen aus Art. 177 Abs. 3 ZDDS sind in dem Vorabentscheidungsersuchen jedoch keine hinreichenden Anhaltspunkte ersichtlich. Ohne solche Feststellungen – die allein das vorlegende Gericht treffen kann – erlaubt Art. 205 in Verbindung mit Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie allerdings keine Haftung für fremde Steuerschulden zum Zwecke der Betrugsbekämpfung.

 

B.         Das Urteil in der Rechtssache ALTI: keine unbegrenzte Haftung

37.       Daran ändert auch die Entscheidung in der Rechtssache ALTI(25) nichts. Dort führte der Gerichtshof allerdings aus, dass Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie einen Mitgliedstaat ermächtigt, eine Person, die Kenntnis hätte haben müssen, dass die für diesen Umsatz geschuldete Steuer unbezahlt bleiben wird, gesamtschuldnerisch auf Zahlung der Mehrwertsteuer in Anspruch zu nehmen.(26)

 

38.       Jedoch – so der Gerichtshof weiter – dürfe dadurch nicht ein System der unbedingten Haftung eingeführt werden. Wirtschaftsteilnehmer, die alle Maßnahmen treffen, die vernünftigerweise von ihnen verlangt werden können, um sicherzustellen, dass ihre Umsätze nicht zu einer missbräuchlichen oder betrügerischen Lieferkette gehören, müssen nämlich auf die Rechtmäßigkeit dieser Umsätze vertrauen können dürfen, ohne Gefahr zu laufen, für die Zahlung dieser von einem anderen Steuerpflichtigen geschuldeten Steuer gesamtschuldnerisch in Anspruch genommen zu werden.(27)

 

39.       Dabei betonte der Gerichtshof, dass der Umstand, dass bei dem Dritten eine Beteiligung an einem Missbrauch oder einem Betrug ausgeschlossen ist, Kriterien sind, die im Rahmen der Feststellung zu berücksichtigen sind, ob diese Person als Gesamtschuldner zu der geschuldeten Mehrwertsteuer herangezogen werden kann.(28) Unter diesen Umständen sei laut dem Gerichtshof davon auszugehen, dass eine Bestimmung wie Art. 177 des Mehrwertsteuergesetzes den Anforderungen an die Anwendung von Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie entspricht.(29) Offenbar ging der Gerichtshof – trotz des insofern missverständlichen Tenors – somit von einem Fall des Missbrauchs oder Betrugs als Grundvoraussetzung für die Anwendung von Art. 177 ZDDS aus.

 

40.       Hier könnte der Fall aber anders liegen. Denn laut dem Vorabentscheidungsersuchen wurde die Inanspruchnahme von Vaniz allein mit dem Vorliegen des Tatbestands von Art. 177 Abs. 2 ZDDS begründet. Dem Ersuchen zufolge ist Art. 177 Abs. 1 ZDDS anscheinend bereits dann erfüllt, wenn der Empfänger einer steuerbaren Lieferung wusste oder hätte wissen müssen, dass die in den ihm ausgestellten Rechnungen ausgewiesene Steuer nicht entrichtet werden wird und die Finanzverwaltung dies beweisen kann. Nach dieser Lesart vermutet Art. 177 Abs. 2 ZDDS, dass mit dieser (bewiesenen) Kenntnis von der Nichtzahlung der (hier sogar ordnungsgemäß erklärten) Steuer die Kenntnis einhergehe, dass der Vertragspartner an einem Mehrwertsteuerbetrug beteiligt sei. Sollte eine solche Vermutung unwiderlegbar sein, widerspräche sie offensichtlich dem Unionsrecht.(30) Und selbst wenn sie widerlegbar wäre, widerspräche sie der Rechtsprechung des Gerichtshofs (dazu bereits unter A.).

 

41.       Im Übrigen ist die im vorliegenden Verfahren viel zitierte Entscheidung ALTI hier nicht relevant. Der Gerichtshof stützte sich darin vor allem auf Art. 177 Abs. 3 ZDDS und bezog sich nur auf die Frage, ob die gesamtschuldnerische Haftung nach Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie neben der Steuerschuld auch die geschuldeten Verzugszinsen des Steuerschuldners erfasst. Für die vom vorlegenden Gericht erbetene unionsrechtskonforme Auslegung von Art. 177 Abs. 2 ZDDS enthält diese Entscheidung hingegen keine Hinweise.

 

42.       Insofern kommt es hier darauf an, ob Vaniz ein missbräuchliches Verhalten (z. B. ein kollusives Ausnutzen der Insolvenz des Vertragspartners) vorgeworfen werden kann. Dann würde das Unionsrecht eine Inanspruchnahme von Vaniz grundsätzlich erlauben, in dem z. B. Vaniz der Vorsteuerabzug versagt wird.(31) Daraus würde eine eigene Steuerschuld von Vaniz resultieren, die losgelöst von der Steuerschuld des Dritten ist. Ob dieser liquidiert wurde oder ob dessen Steuerschuld noch existiert oder nicht, wäre dann – jedenfalls nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs – irrelevant. Die Fragen des vorlegenden Gerichts würden sich dann alle nicht stellen. Gleiches gilt, wenn eine solche Sanktionierung auf Grundlage von Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie eingeführt und als Haftung bezeichnet wird, im Ergebnis aber nur eine zusätzliche Steuerschuld darstellt.

 

43.       Laut Vorabentscheidungsersuchen sind die Voraussetzungen dafür aber nicht gegeben. Aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt sich keine Nähe und kein kollusives Zusammenwirken der beiden Vertragspartner. Wenn dies zutrifft, würde der vorliegende Sachverhalt allein es nicht rechtfertigen, den Vorsteuerabzug zu versagen (siehe oben unter A.).

 

C.         Voraussetzungen der Haftung nach Art. 205

44.       In diesem Fall käme es darauf an, ob Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie eine Haftung von Vaniz für die Steuerschulden des bereits liquidierten (beziehungsweise gelöschten) Vertragspartners ermöglicht. Daher ist zu klären, ob Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie, und wenn ja in welchen Grenzen, eine Art. 177 Abs. 2 ZDDS entsprechende Haftungsschuld erlaubt.

 

45.       Dies betrifft Grundfragen einer gesamtschuldnerischen Haftung für Steuerschulden eines anderen im öffentlichen Recht. Anders als im Zivilrecht entsteht die Haftung für Schulden eines anderen nicht, weil jemand freiwillig bereit ist, für die Schulden einer anderen Person einzustehen, sondern weil der Staat diese einseitig anordnet. Eine hoheitliche Anordnung einer gesamtschuldnerischen Haftung für fremde Steuerschulden unterliegt aber – im Vergleich zu einer zivilrechtlichen Absicherung fremder Schulden – besonderen rechtsstaatlichen Bindungen. Dies betrifft den Haftungsgrund für die Rechtfertigung einer Haftung (dazu unter 1.a.), aber auch die Existenz einer Steuerschuld (dazu unter 1.b.) und eines Steuerschuldners (dazu unter 1.c.) im Moment der Festsetzung der Haftung.

 

1. Tatbestandsvoraussetzungen einer Haftung nach Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie

46.       Der Vorlagefrage entsprechend sind folglich die Voraussetzungen für eine „normale“ Haftung nach Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie zu klären. Wie ich bereits mehrfach ausgeführt habe,(32) ermächtigt Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie die Mitgliedstaaten in den in den Art. 193 bis 200 sowie 202, 203 und 204 genannten Fällen, zu bestimmen, dass eine andere Person als der Steuerschuldner die Steuer gesamtschuldnerisch zu entrichten hat.(33) Dabei handelt es sich – anders als z. B. bei der Versagung des Vorsteuerabzugs bei eigenem missbräuchlichen Verhalten (dazu oben, Nrn. 29 ff.) – um eine akzessorische Haftung. Das heißt, ihre Höhe und ihr Fortbestand hängen von der Steuerschuld des Steuerschuldners ab (dazu näher unten, Nrn. 57 ff.).

 

47.       Die Vorschrift von Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie verlagert nicht die Steuerschuld auf eine andere Person, wie dies z. B. bei Art. 196 der Fall ist. Sie sieht neben dem Steuerpflichtigen eine weitere Person vor, die zur Entrichtung der Steuer verpflichtet ist. Diese Entrichtungspflicht ist gesamtschuldnerisch ausgestaltet, knüpft jedoch an die bestehende Steuerschuld eines anderen an. Damit entspricht sie im Ergebnis der Haftung eines Dritten für eine fremde Steuerschuld. Um diese Schuld von einer originären Steuerschuld begrifflich abzugrenzen, wird daher im Folgenden von einer (akzessorischen) Haftungsschuld gesprochen.

 

48.       Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie erlaubt eine solche Haftungsschuld grundsätzlich. Jedoch müssen die Mitgliedstaaten bei der Ausübung der Befugnisse, die ihnen die Unionsrichtlinien übertragen, die allgemeinen Rechtsgrundsätze beachten, die Bestandteil der Unionsrechtsordnung sind und zu denen insbesondere die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit zählen.(34) Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist es zwar legitim, dass die Maßnahmen der Mitgliedstaaten darauf abzielen, die Ansprüche der Staatskasse möglichst wirksam zu schützen und abzusichern; sie dürfen jedoch nicht über das hinausgehen, was hierzu erforderlich ist.(35)

 

a) Existenz eines Haftungsgrundes

49.       Daher kommt eine unbegrenzte Haftung für eine fremde Steuerschuld nicht in Betracht. Vielmehr setzt Art. 205 für eine gesamtschuldnerische Haftung einen besonderen Haftungsgrund voraus.

 

50.       Zwar sieht der hier vom vorlegenden Gericht bemühte Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie einen Haftungsgrund nicht explizit vor. Seine Notwendigkeit ergibt sich jedoch aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Andernfalls könnte man einem beliebigen Dritten, der keine Verbindung zum Steuerschuldner hat, für dessen Steuerschuld haften lassen. Ein so gravierender Eingriff in die Rechte eines Dritten lässt sich mit dem Ziel einer Absicherung der Steuereinnahmen des Staates nicht rechtfertigen und geht schon über das Erforderliche(36) hinaus.

 

51.       Auch der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass Maßnahmen, die de facto eine verschuldensunabhängige gesamtschuldnerische Haftung einführen, unverhältnismäßig sind.(37) Vielmehr „muss die Ausübung der Befugnis der Mitgliedstaaten, zur Sicherung einer wirksamen Erhebung der Mehrwertsteuer neben dem Steuerschuldner einen Gesamtschuldner zu bestimmen, im Hinblick auf die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit durch das tatsächliche und/oder rechtliche Verhältnis zwischen den beiden betroffenen Personen gerechtfertigt sein“(38) (Hervorhebung nur hier). Dies ist nichts anderes, als das Erfordernis eines hinreichenden Haftungsgrundes.

 

52.       Die Tatsache, dass ein Vertragspartner, mithin ein unabhängiger Dritter, die erhaltene Zahlung nicht dazu verwendet hat, die entstandene Mehrwertsteuerschuld zu bezahlen, ist dabei kein hinreichender Grund, der eine Haftung rechtfertigen kann. Zum einen ist dies ein Risiko, das im indirekten Steuersystem angelegt und vom Gesetzgeber bewusst hingenommen wird. Bei einer direkten Steuererhebung (z. B. im Anwendungsbereich der Verlagerung der Steuerschuld nach Art. 196 der Mehrwertsteuerrichtlinie) existiert ein solches Risiko z. B. nicht.

 

53.       Zum andern hat der zahlende Vertragspartner (hier wäre dies Vaniz) auf das Verhalten des Dritten (hier die Säumnis, d. h. die in der Zukunft liegende Nichtzahlung einer ordnungsgemäß erklärten Steuer) normalerweise keinen Einfluss. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist ein solcher Einfluss aber notwendig. „Es wäre nämlich offenkundig unverhältnismäßig, dieser Person uneingeschränkt den Verlust von Steuereinnahmen anzulasten, der durch das Tun eines Dritten verursacht worden ist, auf das sie keinen Einfluss hat.“(39) Daran ändert auch eine mögliche – hier ohnehin leerlaufende – zivilrechtliche Regressmöglichkeit im Wege eines Gesamtschuldnerausgleichs nichts.(40)

 

54.       Auch ein systematischer Vergleich mit anerkannten Fällen einer gesamtschuldnerischen Haftung zeigt, dass stets ein Haftungsgrund vorliegen muss, der eine hinreichende Verbindung zu dem haftenden Dritten sicherstellt.(41)

 

55.       Die Haftung des Fiskalvertreters nach Art. 204 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie trägt z. B. dem Umstand Rechnung, dass dieser für einen schwer greifbaren auswärtigen Steuerpflichtigen agiert und diese Haftungsschuld in seiner Vergütung einkalkulieren kann und die Vertretung auch nicht übernehmen muss. Ähnliches gilt für die gesamtschuldnerische Haftung des Geschäftsführers für die Steuerschuld des Unternehmens,(42) wenn und weil dieser bestimmenden Einfluss darauf hat, dass das Unternehmen seine Steuerschulden bezahlt.(43)

 

56.       Also setzt Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie einen (rechtfertigenden) Haftungsgrund voraus, um eine Haftung für fremde Steuerschulden auszulösen. Die Mitwirkung an einem Betrug oder eigenes missbräuchliches Verhalten können in Verbindung mit Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie einen solchen Haftungsgrund darstellen (dazu oben, unter Nrn. 29 ff.). Dies löst auch nach der Rechtsprechung bereits eine eigene Steuerschuld des Beteiligten aus.(44) Die Kenntnis von einer möglichen zukünftigen Säumnis des Vertragspartners bei der Zahlung von dessen ordnungsgemäß erklärten Steuerschulden genügt aber nicht.

 

b) Existenz einer Steuerschuld im Moment der Festsetzung der Haftungsschuld

57.       Des Weiteren setzt bereits der Tatbestand von Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie voraus, dass die Steuerschuld bei Festsetzung der Haftungsschuld noch fortbesteht. Denn die Haftungsschuld knüpft an eine fremde Steuerschuld an,(45) für die gehaftet wird. Erlischt diese Steuerschuld (so wie hier möglicherweise durch den Abschluss des Insolvenzverfahrens), besteht kein rechtfertigender Grund mehr, dass dennoch ein Dritter aus seinem eigenen Vermögen eine bereits erloschene Steuerschuld noch bezahlen muss. Denn anders als im Betrugs- oder Missbrauchsfall (dazu oben, Nrn. 29 und 30) steht hier „bloß“ eine akzessorische Haftungsschuld im Raum.

 

58.       Hintergrund ist die Tatsache, dass die Anordnung einer Haftung eines Dritten zwar geeignet ist, einem Ausfall des Steueraufkommens entgegenzuwirken, und ein legitimes Ziel darstellt. Jedoch müssen belastende Maßnahmen auch erforderlich und angemessen sein. Daran fehlt es aber, wenn sich der Steuergläubiger durch eine nachträgliche Anordnung der Haftung eines Dritten besser stellt als er eigentlich stünde. Die Haftung soll den Steueranspruch absichern, nicht erweitern. Daher ist eine derartige Haftungsschuld des Dritten im Steuerrecht immer an die Existenz einer Steuerschuld einer anderen Person gekoppelt.

 

59.       Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz erlaubt nur die Absicherung einer existierenden Steuerschuld. Deswegen ist es im modernen Steuerrecht – so auch in Bulgarien (vgl. Art. 21 Abs. 3 DOPK) oder in Deutschland (vgl. §§ 69 ff. der Abgabenordnung) – üblich, dass eine Haftungsschuld in ihrem Bestand akzessorisch(46) zur Steuerschuld ist. Besteht kein materiell-rechtlicher Steueranspruch gegen den Steuerpflichtigen, kann kein Haftungsanspruch mehr festgesetzt werden. Wurde die Steuer gegen den Steuerschuldner bisher nicht festgesetzt und kann sie dies z. B. wegen Eintritts der Verjährung nicht mehr, darf folglich auch keine Haftungsschuld mehr festgesetzt werden.

 

60.       Dies gilt auch, wenn der Steueranspruch gegen den Steuerpflichtigen wegen dessen Löschung nach Abschluss des Insolvenzverfahrens erloschen ist (laut der zweiten Frage existiert kein Rechtsnachfolger der gelöschten Gesellschaft). Das folgt logisch aus der Akzessorietät einer (öffentlich-rechtlichen) Haftungsschuld eines Dritten im Verhältnis zur Steuerschuld des Steuerschuldners.

 

c) Existenz des Steuerschuldners

61.       Weitere Voraussetzung einer allgemeinen akzessorischen Haftungsschuld im Sinne von Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie ist, dass neben der Steuerschuld auch der Steuerschuldner zum Zeitpunkt der Festsetzung der Haftungsschuld noch existiert. Das ist hier aufgrund des abgeschlossenen Insolvenzverfahrens beim Steuerschuldner fraglich.

 

62.       Die genannten Voraussetzungen ergeben sich aus der „gesamtschuldnerischen“ Entrichtung bzw. Haftung im Sinne von Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie. Sie setzt voraus, dass es zum Zeitpunkt der Festsetzung der Haftungsschuld mindestens zwei Personen gibt, die gemeinsam diese Steuer zu zahlen haben. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs bestätigt dieses Ergebnis. Sie fordert für die Verhältnismäßigkeit einer gesetzlich vorgesehenen Gesamtschuld die Regressmöglichkeit des Gesamtschuldners beim Hauptschuldner.(47) Bei Erlöschen des Hauptschuldners als Rechtssubjekt vor Festsetzung der Haftungsschuld ist diese aber per se ausgeschlossen.

 

63.       Wird nämlich der eigentliche Steuerschuldner vorher gelöscht, würde nur noch eine einzige Person (hier Vaniz) anstelle des ursprünglichen Steuerschuldners die Steuer schulden. Damit fände aber im Ergebnis keine Haftung, sondern eine nachträgliche Steuerschuldverlagerung von dem eigentlichen Steuerschuldner auf einen Dritten (hier Vaniz) statt.

 

64.       Der Übergang der Steuerschuld ist aber abschließend in den Art. 196 ff. der Mehrwertsteuerrichtlinie geregelt und erfasst nur bestimmte, hier nicht einschlägige Konstellationen. Dazu setzt eine solche Steuerschuldverlagerung immer voraus, dass sie vor Ausführung des Umsatzes und damit vor Bezahlung der Gegenleistung feststand und bekannt war. Denn nur so kann bei einer eigentlich indirekten Steuer der Leistungsempfänger im Rahmen der Bezahlung der Gegenleistung für einen Umsatz diesen Übergang der Steuerschuld berücksichtigen und von der zu zahlenden Gegenleistung die nun selbst geschuldete Mehrwertsteuer zurückbehalten.

 

65.       In diesem Sinne verstehe ich die berechtigten Bedenken des vorlegenden Gerichts im Hinblick auf die Rechtssicherheit. Die nachträgliche Steuerschuldverlagerung (auch wenn man sie als Haftung bezeichnet) erlaubt es dem Betroffenen (hier Vaniz) nämlich nicht, sich auf diese einzustellen und zu verhindern, dass er zweimal mit Mehrwertsteuer belastet wird. Vielmehr wird er durch die Steuerschuldverlagerung und die Bezahlung des Bruttopreises doppelt mit Mehrwertsteuer belastet, ohne dass er zweimal einen Vorsteuerabzug geltend machen kann. Die widerspräche dem Neutralitätsgrundsatz und der Funktion des Mehrwertsteuerpflichtigen (Steuereinnehmer für Rechnung des Staates(48)).

 

66.       Schließlich hat der Gerichtshof bereits klargestellt, dass das „normale“ Insolvenzrisiko (bzw. Steuerausfallrisiko) bei einem säumigen Steuerschuldner durch andere Maßnahmen (effektive Kontrolle, zeitnahe Vollstreckung) bei diesem und nicht durch eine Verlagerung dieses Risikos auf einen Dritten zu minimieren ist. Daher konnte z. B. dem Dritten nicht eine Minderung der Bemessungsgrundlage nach Art. 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen seines Vertragspartners verwehrt werden.(49) Gleiches muss für die nachträgliche Inanspruchnahme als Haftungsschuldner nach Abschluss des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Steuerschuldners gelten.

 

2. Zwischenergebnis

67.       Die Haftungsschuld eines Dritten nach Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie setzt einen Haftungsgrund voraus und ist akzessorisch zur Steuerschuld des Steuerschuldners. Erlischt die Steuerschuld durch Untergang des Steuerschuldners ohne Rechtsnachfolger, so gilt dies auch für die Haftungsschuld. Eine akzessorische Gesamtschuld setzt zudem voraus, dass der Steuerschuldner im Moment der Festsetzung der Haftungsschuld noch existiert.

 

68.       Der Finanzverwaltung bleibt es jedoch unbenommen, den Leistungsempfänger im Falle eines eigenen vorsätzlichen Mehrwertsteuerbetrugs, beim Wissenmüssen von einem fremden Mehrwertsteuerbetrug in der Leistungskette oder bei einem missbräuchlichen Verhalten des Haftungsschuldners als weiteren Steuerschuldner in Anspruch zu nehmen. Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie steht einer solchen Inanspruchnahme nicht entgegen.

 

V.         Ergebnis

69.       Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, die Vorlagefragen des Administrativen sad Veliko Tarnovo (Verwaltungsgericht Veliko Tarnovo, Bulgarien) wie folgt zu beantworten:

1. Art. 205 der Richtlinie 2006/112 ist dahin gehend auszulegen, dass er keine Steuerschuldverlagerung auf einen Dritten, sondern nur eine akzessorische Haftung bezüglich einer noch nicht erloschenen Steuerschuld eines (noch) existierenden Steuerschuldners erlaubt. Die Festsetzung einer Haftungsschuld nach Abschluss des Insolvenzverfahrens und Erlöschen des Steuerpflichtigen ist von Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie daher nicht gedeckt.

2. Art. 205 in Verbindung mit Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie ermöglicht auch die Inanspruchnahme des Leistungsempfängers, wenn er wusste oder hätte wissen müssen, dass er mit seinem Umsatz in einen Betrug seines Vertragspartners involviert ist oder sich selbst missbräuchlich verhält. Die bloße Nichtzahlung der erklärten Steuer stellt aber keinen Mehrwertsteuerbetrug dar. Sofern dem Leistungsempfänger kein missbräuchliches Verhalten vorgeworfen werden kann, begründet allein die Tatsache, dass er wusste oder hätte wissen müssen, dass sein Vertragspartner die erklärte Steuer nicht zahlen würde, keine Haftung seinerseits.

 

1      Originalsprache: Deutsch.

 

2      Diese Gefahr wurde durch das Urteil vom 20. Mai 2021, ALTI (C‑4/20, EU:C:2021:397), geschaffen und durch das Urteil vom 12. Dezember 2024, Dranken Van Eetvelde (C‑331/23, EU:C:2024:1027), verstärkt.

 

3      So z. B. Urteile vom 1. Dezember 2022, Aquila Part Prod Com (C‑512/21, EU:C:2022:950, Rn. 39), vom 20. Juni 2018, Enteco Baltic (C‑108/17, EU:C:2018:473, Rn. 94), vom 22. Oktober 2015, PPUH Stehcemp (C‑277/14, EU:C:2015:719, Rn. 48), und vom 13. Februar 2014, Maks Pen (C‑18/13, EU:C:2014:69, Rn. 27).

 

4      Urteil vom 20. Mai 2021, ALTI (C‑4/20, EU:C:2021:397, Rn. 45).

 

5      Urteile vom 15. September 2022, HA.EN. (C‑227/21, EU:C:2022:687, Rn. 32), und vom 2. Mai 2018, Scialdone (C‑574/15, EU:C:2018:295, Rn. 38 bis 41).

 

6      Richtlinie des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1).

 

7      Allerdings nur, wenn man Rn. 40 in dem Urteil vom 20. Mai 2021, ALTI (C‑4/20, EU:C:2021:397), isoliert und losgelöst von der Frage und dem Kontext des damaligen Vorabentscheidungsersuchens liest.

 

8      So auch Urteil vom 13. Oktober 2022, Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna Praktika“ (C‑1/21, EU:C:2022:788, Rn. 85), für die Haftung eines untreuen Geschäftsführers. Ebenso für die Haftung eines Verwaltungsrates Urteil vom 30. April 2025, Genzyński (C‑278/24, EU:C:2025:299, Rn. 54), und vom 27. Februar 2025, Adjak (C‑277/24, EU:C:2025:130, Rn. 45).

 

9      So z. B. Urteil vom 7. Dezember 2010, R (C‑285/09, EU:C:2010:742, Rn. 54); vgl. auch die Zusammenfassung im Urteil vom 1. Dezember 2022, Aquila Part Prod Com (C‑512/21, EU:C:2022:950, Rn. 27 und Rn. 39).

 

10      Urteile vom 1. Dezember 2022, Aquila Part Prod Com (C‑512/21, EU:C:2022:950, Rn. 39), vom 20. Juni 2018, Enteco Baltic (C‑108/17, EU:C:2018:473, Rn. 94), vom 22. Oktober 2015, PPUH Stehcemp (C‑277/14, EU:C:2015:719, Rn. 48), vom 13. Februar 2014, Maks Pen (C‑18/13, EU:C:2014:69, Rn. 27), vom 6. September 2012, Mecsek-Gabona (C‑273/11, EU:C:2012:547, Rn. 54), vom 6. Dezember 2012, Bonik (C‑285/11, EU:C:2012:774, Rn. 39), und vom 6. Juli 2006, Kittel und Recolta Recycling (C‑439/04 und C‑440/04, EU:C:2006:446, Rn. 56).

 

      In einigen älteren Entscheidungen spricht der Gerichtshof noch von „wissen konnte“ – vgl. z. B. Urteil vom 6. Juli 2006, Kittel und Recolta Recycling (C‑439/04 und C‑440/04, EU:C:2006:446, Rn. 60). Diese zu weit geratene Formulierung, die allein auf der Vorlagefrage basierte, scheint aber mittlerweile zu Recht aufgegeben worden zu sein. Sofern in einer jüngeren Entscheidung – Urteil vom 1. Dezember 2022, Aquila Part Prod Com (C‑512/21, EU:C:2022:950, Rn. 45) – tatsächlich wieder von einem „hätte wissen können“ die Rede ist, dürfte dies lediglich eine sprachliche Ungenauigkeit darstellen, die letztendlich auf der Vorlagefrage basiert.

 

11      So Urteil vom 11. Mai 2006, Federation of Technological Industries u. a. (C‑384/04, EU:C:2006:309, Rn. 33 – mit Mehrwertsteuerbetrug behafteter Umsatz). In Bezug zur Haftung sprach der Gerichtshof zum Teil von der Beteiligung an einer Steuerhinterziehung – vgl. Urteil vom 21. Dezember 2011, Vlaamse Oliemaatschappij (C‑499/10, EU:C:2011:871, Rn. 25). Auch eine solche liegt bei einer erklärten, aber nicht bezahlten Steuer nicht vor.

 

12      Soweit das Urteil vom 11. Mai 2006, Federation of Technological Industries u. a. (C‑384/04, EU:C:2006:309), aufgrund der ungenauen Vorlagefragen auch im Tenor von einer ganz oder teilweise „unbezahlten Steuer“ spricht, ist dies missverständlich, denn diesem Fall lag ein klassischer Mehrwertsteuerbetrug und keine erklärte, aber unbezahlte Steuer zugrunde.

 

13      Urteil vom 2. Mai 2018, Scialdone (C‑574/15, EU:C:2018:295, Rn. 37 bis 43).

 

14      Urteil vom 2. Mai 2018, Scialdone (C‑574/15, EU:C:2018:295, Rn. 41).

 

15      Urteil vom 2. Mai 2018, Scialdone (C‑574/15, EU:C:2018:295, Rn. 42).

 

16      Urteil vom 2. Mai 2018, Scialdone (C‑574/15, EU:C:2018:295, Rn. 49).

 

17      Urteil vom 15. September 2022 (C‑227/21, EU:C:2022:687, Rn. 37 und 38).

 

18      Vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache HA.EN. (C‑227/21, EU:C:2022:364).

 

19      Urteil vom 15. September 2022, HA.EN. (C‑227/21, EU:C:2022:687, Rn. 32).

 

20      Urteil vom 15. September 2022, HA.EN. (C‑227/21, EU:C:2022:687, Rn. 33).

 

21      Urteil vom 2. Mai 2018, Scialdone (C‑574/15, EU:C:2018:295, Rn. 41 und 42).

 

22      Vgl. Urteile vom 15. September 2022, HA.EN. (C‑227/21, EU:C:2022:687, Rn. 34), vom 22. Dezember 2010, Weald Leasing (C‑103/09, EU:C:2010:804, Rn. 26), und vom 21. Februar 2006, Halifax u. a. (C‑255/02, EU:C:2006:121, Rn. 85).

 

23      Vgl. dazu bereits meine Schlussanträge in der Rechtssache ALTI (C‑4/20, EU:C:2021:12, Nr. 65).

 

24      Insofern missverständlich der Tenor im Urteil vom 20. Mai 2021, ALTI (C‑4/20, EU:C:2021:397).

 

25      Urteil vom 20. Mai 2021 (C‑4/20, EU:C:2021:397).

 

26      Urteil vom 20. Mai 2021, ALTI (C‑4/20, EU:C:2021:397, Tenor).

 

27      Urteil vom 20. Mai 2021, ALTI (C‑4/20, EU:C:2021:397, Rn. 36).

 

28      Urteil vom 20. Mai 2021, ALTI (C‑4/20, EU:C:2021:397, Rn. 37).

 

29      Urteil vom 20. Mai 2021, ALTI (C‑4/20, EU:C:2021:397, Rn. 40).

 

30      Vgl. auch die übertragbaren Ausführungen des Gerichtshofs aus dem Zollrecht im Urteil vom 22. November 2017, Aebtri (C‑224/16, EU:C:2017:880, Rn. 109 bis 112).

 

31      Vgl. Urteile vom 15. September 2022, HA.EN. (C‑227/21, EU:C:2022:687, Rn. 34), vom 22. Dezember 2010, Weald Leasing (C‑103/09, EU:C:2010:804, Rn. 26), und vom 21. Februar 2006, Halifax u. a. (C‑255/02, EU:C:2006:121, Rn. 85).

 

32      Meine Schlussanträge in der Rechtssache ALTI (C‑4/20, EU:C:2021:12, Nrn. 26 ff.) und in der Rechtssache Dranken Van Eetvelde (C‑331/23, EU:C:2024:700, Nr. 33).

 

33      Vgl. auch Urteil vom 12. Dezember 2024, Dranken Van Eetvelde (C‑331/23, EU:C:2024:1027, Rn. 19 ff.).

 

34      Urteile vom 12. Dezember 2024, Dranken Van Eetvelde (C‑331/23, EU:C:2024:1027, Rn. 22), vom 21. Dezember 2011, Vlaamse Oliemaatschappij (C‑499/10, EU:C:2011:871, Rn. 20), vom 21. Februar 2008, Netto Supermarkt (C‑271/06, EU:C:2008:105, Rn. 18), und vom 11. Mai 2006, Federation of Technological Industries u. a. (C‑384/04, EU:C:2006:309, Rn. 29).

 

35      Urteile vom 12. Dezember 2024, Dranken Van Eetvelde (C‑331/23, EU:C:2024:1027, Rn. 23), vom 13. Oktober 2022, Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna Praktika“ (C‑1/21, EU:C:2022:788, Rn. 73), vom 21. Dezember 2011, Vlaamse Oliemaatschappij (C‑499/10, EU:C:2011:871, Rn. 22), vom 7. Dezember 2010, R (C‑285/09, EU:C:2010:742, Rn. 45), vom 21. Februar 2008, Netto Supermarkt (C‑271/06, EU:C:2008:105, Rn. 20), und vom 27. September 2007, Teleos u. a. (C‑409/04, EU:C:2007:548, Rn. 53), ähnlich Urteil vom 11. Mai 2006, Federation of Technological Industries u. a. (C‑384/04, EU:C:2006:309, Rn. 30).

 

36      Vgl. zu weniger einschneidenden Maßnahmen im Rahmen der Grundfreiheiten: Urteil vom 9. November 2006, Kommission/Belgien (C‑433/04, EU:C:2006:702, Rn. 40). Hier wäre eine zeitnahe Vollstreckung der erklärten Steuer beim Steuerschuldner wohl das angemessene Mittel.

 

37      Urteile vom 30. April 2025, Genzyński (C‑278/24, EU:C:2025:299, Rn. 61), vom 14. November 2024, Herdijk (C‑613/23, EU:C:2024:961, Rn. 25), vom 13. Oktober 2022, Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna Praktika“ (C‑1/21, EU:C:2022:788, Rn. 74); noch zur Vorgängervorschrift von Art. 21 Abs. 3 der Sechsten Richtlinie Urteile vom 21. Dezember 2011, Vlaamse Oliemaatschappij (C‑499/10, EU:C:2011:871, Rn. 24), und vom 11. Mai 2006, Federation of Technological Industries u. a. (C‑384/04, EU:C:2006:309, Rn. 32).

 

38      Urteile vom 30. April 2025, Genzyński (C‑278/24, EU:C:2025:299, Rn. 62), vom 14. November 2024, Herdijk (C‑613/23, EU:C:2024:961, Rn. 26), vom 12. Dezember 2024, Dranken Van Eetvelde (C‑331/23, EU:C:2024:1027, Rn. 24), vom 13. Oktober 2022, Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna Praktika“ (C‑1/21, EU:C:2022:788, Rn. 75), und vom 20. Mai 2021, ALTI (C‑4/20, EU:C:2021:397, Rn. 34).

 

39      So explizit und völlig zutreffend: Urteile vom 30. April 2025, Genzyński (C‑278/24, EU:C:2025:299, Rn. 61), und vom 14. November 2024, Herdijk (C‑613/23, EU:C:2024:961, Rn. 25).

 

40      Anders möglicherweise – allerdings ohne nähere Begründung – Urteil vom 12. Dezember 2024, Dranken Van Eetvelde (C‑331/23, EU:C:2024:1027, Rn. 36 und 37).

 

41      Vgl. Urteil vom 13. Oktober 2022, Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna Praktika“ (C‑1/21, EU:C:2022:788, Rn. 75).

 

42      Ein solcher lag dem Urteil vom 13. Oktober 2022, Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna Praktika“ (C‑1/21, EU:C:2022:788, Rn. 75), zugrunde.

 

43      Vgl. Urteile vom 30. April 2025, Genzyński (C‑278/24, EU:C:2025:299, Rn. 64), vom 14. November 2024, Herdijk (C‑613/23, EU:C:2024:961, Rn. 29), vom 27. Februar 2025, Adjak (C‑277/24, EU:C:2025:130, Rn. 40 und 45), und vom 13. Oktober 2022, Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna Praktika“ (C‑1/21, EU:C:2022:788, Rn. 77 ff.).

 

44      Manchmal wird diese auch als „Haftungsschuld“ bezeichnet, was wohl auch der dem Art. 177 ZDDS zugrunde liegende Gedanke sein mag.

 

45      Siehe meine Schlussanträge in der Rechtssache Dranken Van Eetvelde (C‑331/23, EU:C:2024:700, Nrn. 33 und 41) und in der Rechtssache ALTI (C‑4/20, EU:C:2021:12, Nr. 28).

 

46      Meine Schlussanträge in der Rechtssache Dranken Van Eetvelde (C‑331/23, EU:C:2024:700, Nr. 33). Ähnlich schon meine Schlussanträge in der Rechtssache ALTI (C‑4/20, EU:C:2021:12, Nr. 28).

 

47      So ausdrücklich außerhalb des Mehrwertsteuerrechts: Urteil vom 1. Juli 2010, Speranza (C‑35/09, EU:C:2010:393, Rn. 56 ff.). Im Mehrwertsteuerrecht basiert das Urteil vom 12. Dezember 2024, Dranken Van Eetvelde (C‑331/23, EU:C:2024:1027, Rn. 36 und 37), auf der bestehenden zivilrechtlichen Regressmöglichkeit.

 

48      Vgl. nur Urteile vom 8. Mai 2019, A-PACK CZ (C‑127/18, EU:C:2019:377, Rn. 22), vom 23. November 2017, Di Maura (C‑246/16, EU:C:2017:887, Rn. 23), vom 21. Februar 2008, Netto Supermarkt (C‑271/06, EU:C:2008:105, Rn. 21), und vom 20. Oktober 1993, Balocchi (C‑10/92, EU:C:1993:846, Rn. 25). Ähnlich Urteil vom 15. Oktober 2020, E. (Mehrwertsteuer – Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage) (C‑335/19, EU:C:2020:829, Rn. 48 a. E.). Siehe dazu auch meine Schlussanträge in der Rechtssache Di Maura (C‑246/16, EU:C:2017:440, Nr. 21).

 

49      Urteil vom 15. Oktober 2020, E. (Mehrwertsteuer – Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage) (C‑335/19, EU:C:2020:829, Rn. 42).

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