EuGH: MwSt-Befreiung bei Ausfuhr
EuGH, Urteil vom 29.6.2017 – C-288/16, L.C., L.Č.“ IK gegen Valsts ieņēmumu dienests
ECLI:EU:C:2017:502
Volltext: BB-ONLINE BBL2017-1621-2
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Amtlicher Leitsatz
Art. 146 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene Steuerbefreiung auf eine Dienstleistung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende betreffend einen Umsatz in Form der Beförderung von Gegenständen in einen Drittstaat nicht zur Anwendung kommt, wenn die betreffenden Dienste nicht unmittelbar an den Versender oder den Empfänger dieser Gegenstände geleistet werden.
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 146 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen „L.Č.“ IK und dem Valsts ieņēmumu dienests (Steuerverwaltung, Lettland) wegen der Anwendung von Mehrwertsteuer auf Umsätze in Form der Beförderung von Waren in den Jahren 2008 bis 2010.
Rechtlicher Rahmen
3 Art. 131 der Richtlinie 2006/112 sieht vor:
„Die Steuerbefreiungen der Kapitel 2 bis 9 werden unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften und unter den Bedingungen angewandt, die die Mitgliedstaaten zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung dieser Befreiungen und zur Verhinderung von Steuerhinterziehung, Steuerumgehung oder Missbrauch festlegen.“
4 Art. 146 dieser Richtlinie, der in Kapitel 6 („Steuerbefreiungen bei der Ausfuhr“) des Titels IX der Richtlinie steht, bestimmt in Abs. 1:
„Die Mitgliedstaaten befreien folgende Umsätze von der Steuer:
a) die Lieferungen von Gegenständen, die durch den Verkäufer oder für dessen Rechnung nach Orten außerhalb der Gemeinschaft versandt oder befördert werden;
…
e) Dienstleistungen, einschließlich Beförderungsleistungen und Nebentätigkeiten zur Beförderung, ausgenommen die gemäß den Artikeln 132 und 135 von der Steuer befreiten Dienstleistungen, wenn sie in unmittelbarem Zusammenhang mit der Ausfuhr oder der Einfuhr von Gegenständen stehen, für die Artikel 61 oder Artikel 157 Absatz 1 Buchstabe a gilt.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
5 Aufgrund von mit mehreren Versendern geschlossenen Verträgen verpflichtete sich die „Atek“ SIA, den Transitfrachttransport vom Hafen Riga (Lettland) nach Belarus sicherzustellen.
6 Aufgrund eines anderen Vertrags übertrug „Atek“ die tatsächliche Durchführung dieses Warentransports auf „L.Č.“.
7 Der Transport wurde mit Fahrzeugen durchgeführt, die „Atek“ gehören und an „L.Č.“ vermietet wurden, wobei „Atek“ gegenüber den Versendern der Waren als Frachtführer auftrat. „L.Č.“ übernahm bei der Erbringung der Transportleistungen die Lenkung, die Reparaturen und die Betankung der Fahrzeuge sowie die Zollformalitäten an den Grenzübergangsstellen, die Überwachung der Fracht, ihre Übergabe an den Empfänger und die notwendigen Be- und Entladearbeiten.
8 In der Annahme, dass die erbrachten Dienstleistungen in Zusammenhang mit dem Transit stünden, wandte „L.Č.“ einen Mehrwertsteuersatz von 0 % an.
9 „L.Č.“ war Gegenstand einer Steuerprüfung für den Zeitraum von Januar 2008 bis Dezember 2010. Im Anschluss an diese Steuerprüfung erließ die Steuerverwaltung einen Nacherhebungsbescheid über Mehrwertsteuer, eine Geldbuße und Verzugszinsen.
10 Mit Entscheidung vom 21. September 2011 bestätigte die Steuerverwaltung diesen Bescheid, da „L.Č.“ nicht berechtigt gewesen sei, den Mehrwertsteuersatz von 0 % für die Dienstleistungen, die er im Rahmen seines Vertrags mit „Atek“ erbracht habe, anzuwenden, weil diese zum einen mangels einer Rechtsbeziehung mit dem Versender oder dem Empfänger der beförderten Waren nicht den Dienstleistungen eines Transithändlers oder eines Spediteurs gleichgestellt werden könnten und „L.Č.“ zum anderen, da er nicht Inhaber der im lettischen Recht verlangten Lizenz sei, nicht als Frachtführer angesehen werden könne und daher nicht berechtigt sei, Warentransporte durchzuführen.
11 „L.Č.“ erhob gegen die Entscheidung der Steuerverwaltung Klage bei der Administratīvā rajona tiesa (Bezirksverwaltungsgericht, Lettland), die diese mit Urteil vom 11. Dezember 2012 abwies.
12 Die mit einer Berufung gegen dieses Urteil befasste Administratīvā apgabaltiesa (Regionales Oberverwaltungsgericht, Lettland) gab der Berufung mit Urteil vom 29. Mai 2014 teilweise statt und wies sie im Übrigen zurück. Insbesondere war dieses Gericht der Auffassung, dass mangels einer Rechtsbeziehung zwischen dem Versender oder dem Empfänger der Waren und „L.Č.“ die von Letzterem erbrachten Dienstleistungen nicht den Dienstleistungen eines Transithändlers oder eines Spediteurs gleichgestellt werden könnten, sondern Dienstleistungen als Fahrer entsprächen, die darin bestünden, für die Führung eines im Eigentum der Inhaberin einer Lizenz für den internationalen Güterkraftverkehr, im vorliegenden Fall „Atek“, stehenden Fahrzeugs zu sorgen, und dass „L.Č.“, da er nicht Inhaber einer solchen Lizenz sei, auch nicht als Frachtführer angesehen werden könne. Daher könne der Mehrwertsteuersatz von 0 % nicht auf die von „L.Č.“ erbrachten Dienstleistungen angewandt werden.
13 „L.Č.“ legte bei der Augstākā tiesa (Oberster Gerichtshof, Lettland) Kassationsbeschwerde gegen dieses Urteil ein, soweit die Administratīvā apgabaltiesa (Regionales Oberverwaltungsgericht) mit diesem seine Berufung zurückgewiesen hatte.
14 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts bestehen Zweifel im Hinblick auf die Auslegung von Art. 146 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2006/112. Insbesondere stellt sich dieses Gericht die Frage, ob es sich auf die Anwendung der in dieser Vorschrift – die einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Dienstleistungen und der Ausfuhr oder der Einfuhr der betreffenden Gegenstände verlange – vorgesehenen Steuerbefreiung auswirke, dass die von „L.Č.“ erbrachten Dienstleistungen – auch wenn sie im Zusammenhang mit Waren gestanden hätten, die im Transit durch Lettland transportiert worden seien – nicht unmittelbar für den Empfänger oder den Versender dieser Waren erbracht worden seien, mit denen „L.Č.“ keine Rechtsbeziehung gehabt habe, sondern für deren Handelspartner in Lettland, nämlich „Atek“.
15 Unter diesen Umständen hat die Augstākā tiesa (Oberster Gerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art. 146 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen, dass die Steuerbefreiung nur dann zur Anwendung kommt, wenn eine unmittelbare Rechtsbeziehung oder eine gegenseitige vertragliche Beziehung zwischen dem Erbringer der Dienstleistungen und dem Empfänger oder Versender der Waren besteht?
2. Welche Kriterien muss der in der genannten Bestimmung erwähnte unmittelbare Zusammenhang erfüllen, damit eine mit der Ein- oder Ausfuhr der Waren in Zusammenhang stehende Dienstleistung als von der Steuer befreit angesehen werden kann?
Zu den Vorlagefragen
16 Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 146 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene Steuerbefreiung auf einen Umsatz wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden anwendbar ist, nämlich eine Dienstleistung der Beförderung von Gegenständen in ein Drittland, wenn die betreffenden Dienste nicht unmittelbar an den Versender oder den Empfänger dieser Gegenstände geleistet werden.
17 Das Gericht möchte insbesondere wissen, ob die Anwendung dieser Steuerbefreiung, die verlangt, dass die betreffenden Dienstleistungen „in unmittelbarem Zusammenhang“ mit der Ausfuhr oder der Einfuhr von Gegenständen stehen, auf die sich diese Bestimmung bezieht, eine unmittelbare Rechtsbeziehung wie eine gegenseitige vertragliche Beziehung zwischen dem Erbringer der Dienstleistungen und dem Versender oder dem Empfänger der betreffenden Waren voraussetzt.
18 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 146 der Richtlinie 2006/112 die Steuerbefreiungen bei Ausfuhren nach Orten außerhalb der Europäischen Union betrifft. Im Rahmen des internationalen Handelsverkehrs dient eine solche Befreiung nämlich der Beachtung des Grundsatzes, dass die betreffenden Gegenstände oder Dienstleistungen an ihrem Bestimmungsort besteuert werden. Alle Ausfuhrumsätze und alle solchen gleichgestellten Umsätze müssen somit von der Mehrwertsteuer befreit werden, um zu gewährleisten, dass der fragliche Umsatz ausschließlich an dem Ort besteuert wird, an dem die betreffenden Erzeugnisse verbraucht werden (vgl. zu Art. 15 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage [ABl. 1977, L 145, S. 1] Urteile vom 18. Oktober 2007, Navicon, C‑97/06, EU:C:2007:609, Rn. 29, und vom 22. Dezember 2010, Feltgen und Bacino Charter Company, C‑116/10, EU:C:2010:824, Rn. 16).
19 Die Steuerbefreiung in Art. 146 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2006/112 ergänzt die in Art. 146 Abs. 1 Buchst. a vorgesehene und soll wie diese die Besteuerung der betreffenden Dienstleistungen an deren Bestimmungsort sicherstellen, d. h. an dem Ort, an dem die ausgeführten Erzeugnisse verbraucht werden.
20 Zu diesem Zweck sieht Art. 146 Abs. 1 Buchst. e u. a. vor, dass Beförderungsleistungen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Ausfuhr von Gegenständen nach Orten außerhalb der Union stehen, von der Mehrwertsteuer befreit sind.
21 Eine extensive Auslegung dieser Bestimmung, die Dienstleistungen umfassen würde, die nicht unmittelbar an den Ausführer, den Einführer oder den Empfänger solcher Gegenstände erbracht werden, könnte für die Mitgliedstaaten und für die betreffenden Wirtschaftsteilnehmer Zwänge schaffen, die mit der in Art. 131 der Richtlinie 2006/112 vorgeschriebenen korrekten und einfachen Anwendung der Befreiungen unvereinbar wären.
22 Im Übrigen sind Mehrwertsteuerbefreiungen nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs eng auszulegen, da sie Ausnahmen von dem allgemeinen Grundsatz darstellen, dass die Mehrwertsteuer auf jede Lieferung von Gegenständen und jede Dienstleistung erhoben wird, die ein Steuerpflichtiger gegen Entgelt ausführt (vgl. u. a. Urteile vom 26. Juni 1990, Velker International Oil Company, C‑185/89, EU:C:1990:262, Rn. 19, vom 16. September 2004, Cimber Air, C‑382/02, EU:C:2004:534, Rn. 25, vom 14. September 2006, Elmeka, C‑181/04 bis C‑183/04, EU:C:2006:563, Rn. 15 und 20, sowie vom 19. Juli 2012, A, C‑33/11, EU:C:2012:482, Rn. 49).
23 Daher ergibt sich aus dem Wortlaut und dem Zweck von Art. 146 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2006/112, dass diese Bestimmung dahin auszulegen ist, dass ein unmittelbarer Zusammenhang nicht nur voraussetzt, dass die betreffenden Dienstleistungen ihrem Gegenstand nach zur tatsächlichen Durchführung einer Ausfuhr oder Einfuhr beitragen, sondern auch, dass diese Dienstleistungen unmittelbar an – je nachdem – den Ausführer, den Einführer oder den Empfänger der Gegenstände, auf die sich diese Bestimmung bezieht, erbracht werden.
24 Im vorliegenden Fall sind die von „L.Č.“ erbrachten Dienstleistungen zwar notwendig, um die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Ausfuhr tatsächlich durchzuführen. Diese Dienstleistungen wurden jedoch nicht unmittelbar an den Empfänger oder den Ausführer der betreffenden Waren, sondern an einen Vertragspartner des Letztgenannten, nämlich „Atek“, erbracht.
25 Außerdem wurden diese Dienstleistungen, wie aus dem Vorlagebeschluss hervorgeht, unter Verwendung von Fahrzeugen erbracht, die im Eigentum von „Atek“ standen, die gegenüber den Versendern der Waren als Frachtführer auftrat.
26 Daher fallen die von „L.Č.“ erbrachten Dienstleistungen nicht in den Anwendungsbereich der in Art. 146 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2006/112 vorgesehenen Steuerbefreiung.
27 Unter diesen Umständen ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 146 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene Steuerbefreiung auf eine Dienstleistung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende betreffend einen Umsatz in Form der Beförderung von Gegenständen in einen Drittstaat nicht zur Anwendung kommt, wenn die betreffenden Dienste nicht unmittelbar an den Versender oder den Empfänger dieser Gegenstände geleistet werden.