R&W Abo Buch Datenbank Veranstaltungen Betriebs-Berater
 
Steuerrecht
19.01.2023
Steuerrecht
EuGH-Schlussanträge: Mehrwertsteuer – Abrechnung der illegal konsumierten Elektrizität

GAin Kokott, Schlussanträge vom 12.1.2023 – C-677/21; Fluvius Antwerpen gegen MX

ECLI:EU:C:2023:24

Volltext BB-Online BBL2023-149-1

Tenor

1. Art. 2 Abs. 1 Buchst. a in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie ist dahin auszulegen, dass die unrechtmäßige Entnahme von Energie eine Lieferung von Gegenständen gegen Entgelt darstellt, wenn die kraft Gesetzes zu zahlende Vergütung verbrauchsabhängig ausgestaltet ist.

2. Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie ist dahin auszulegen, dass ein Verteilernetzbetreiber auch dann wirtschaftlich tätig sein kann, wenn er zusätzlich dazu auch Strom liefert. Dies gilt, wenn sich in dieser Lieferung, etwa aufgrund illegaler Stromentnahme, ein Risiko seiner wirtschaftlichen Tätigkeit als Verteilernetzbetreiber realisiert.

3. Im Umfang unbedeutende Tätigkeiten im Sinne des Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 3 der Mehrwertsteuerrichtlinie können nur dann vorliegen, wenn die Einrichtung des öffentlichen Rechts nicht aufgrund anderweitiger Tätigkeiten als Steuerpflichtiger anzusehen ist.

 

Aus den Gründen

I.          Einführung

1.         In diesem Vorabentscheidungsersuchen muss sich der Gerichtshof mit den mehrwertsteuerrechtlichen Folgen eines „Stromdiebstahls“ beschäftigen. Das vorlegende Gericht bezweifelt nämlich, ob der illegale Stromnutzer den verbrauchten Strom zuzüglich einer anfallenden Mehrwertsteuer oder nur den sogenannten Nettopreis ohne Mehrwertsteuer zu bezahlen habe. Im vorliegenden Fall erfolgte eine illegale Entnahme von Strom an der Wohnadresse für den persönlichen Gebrauch, die von dem Verteilernetzbetreiber entdeckt und dem „Stromdieb“ anschließend in Rechnung gestellt wurde.

2.         Somit ist der Gerichtshof mit der grundsätzlichen Frage befasst, ob der rechtswidrig handelnde Verbraucher ebenso wie der rechtstreu handelnde Verbraucher mit Mehrwertsteuer zu belasten ist, wenn er Strom im entsprechenden Umfang verbraucht, oder ob er sich die Mehrwertsteuer „sparen“ kann. Dies hängt im Ergebnis allein davon ab, ob auch eine „unwillentliche“ Verbraucherversorgung durch einen Steuerpflichtigen einen steuerbaren und steuerpflichtigen Umsatz im Sinne des Mehrwertsteuerrechts darstellt.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.         Unionsrecht

3.         Den unionsrechtlichen Rahmen bestimmt die Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).(2)

4.         Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:

„Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:

a)         Lieferungen von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt tätigt“.

5.         Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie regelt:

„Als ‚Steuerpflichtiger‘ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt.

Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit‘ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.“

6.         Art. 13 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„(1) Staaten, Länder, Gemeinden und sonstige Einrichtungen des öffentlichen Rechts gelten nicht als Steuerpflichtige, soweit sie die Tätigkeiten ausüben oder Umsätze bewirken, die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen, auch wenn sie im Zusammenhang mit diesen Tätigkeiten oder Umsätzen Zölle, Gebühren, Beiträge oder sonstige Abgaben erheben.

Falls sie solche Tätigkeiten ausüben oder Umsätze bewirken, gelten sie für diese Tätigkeiten oder Umsätze jedoch als Steuerpflichtige, sofern eine Behandlung als Nichtsteuerpflichtige zu größeren Wettbewerbsverzerrungen führen würde.

Die Einrichtungen des öffentlichen Rechts gelten in Bezug auf die in Anhang I genannten Tätigkeiten in jedem Fall als Steuerpflichtige, sofern der Umfang dieser Tätigkeiten nicht unbedeutend ist.“

7.         Art. 14 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt, wann eine Lieferung vorliegt:

„(1)       Als ‚Lieferung von Gegenständen‘ gilt die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen.

(2)        Neben dem in Absatz 1 genannten Umsatz gelten folgende Umsätze als Lieferung von Gegenständen:

a)         die Übertragung des Eigentums an einem Gegenstand gegen Zahlung einer Entschädigung auf Grund einer behördlichen Anordnung oder kraft Gesetzes“.

8.         Art. 15 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie betrifft die Lieferung von Elektrizität und stellt klar:

„Einem körperlichen Gegenstand gleichgestellt sind Elektrizität, Gas, Wärme oder Kälte und ähnliche Sachen.“

B.         Belgisches Recht

9.         Die Mehrwertsteuerrichtlinie wurde in Belgien durch das Mehrwertsteuergesetzbuch umgesetzt. Darüber hinaus finden sich Regelungen zur Lieferung von Energie und der entsprechenden Abrechnung im flämischen Energieerlass.

10.       Art. 5.2.3 § 1 des Energieerlasses sieht vor, dass ein Haushaltskunde, dem von seinem Energieversorger gekündigt wird, z. B. wegen Nichtzahlung, und der keinen neuen Vertrag mit einem anderen Energieversorger abschließt, vom Verteilernetzbetreiber beliefert wird.

11.       Seit dem 1. Mai 2018, nach der Änderung des Energiedekrets und des Energieerlasses, gibt es spezielle Vorschriften, die die unrechtmäßige Entnahme und die Entschädigung von Energie regeln. Sie befinden sich derzeit in Art. 1.1.3, 40° /1 in Verbindung mit Art. 5.1.2 des Energiedekrets und Art. 4.1.2 des Energieerlasses.

12.       Art. 1.1.3, 40° /1 des Energiedekrets definiert den Begriff des Energiebetrugs als jede rechtswidrige Handlung einer Person, ob aktiv oder passiv, die mit der Erlangung eines ungerechtfertigten Vorteils einhergeht.

13.       Art. 5.1.2 des Energiedekrets legt außerdem fest, dass die Kosten, die dem Netzbetreiber entstehen, um den in Art. 1.1.3, 40° /1 angeführten Energiebetrug rückgängig zu machen, die Kosten für die Abschaltung, die Regularisierung des Anschlusses oder der Messeinrichtung, den Wiederanschluss, den unrechtmäßig erlangten Vorteil, die Kosten für den unrechtmäßig erlangten Vorteil und die Zinsen vom betreffenden Netznutzer zu tragen sind. Hinzu kommt, dass der Netzbetreiber oder sein Beauftragter die genannten Kosten sowie den unrechtmäßig erlangten Vorteil und die Zinsen direkt vom Netznutzer einfordert.

14.       Art. 4.1.2 § 1 des Energieerlasses schreibt vor, wie der ungerechtfertigte Vorteil zu berechnen ist und welche Posten zu dem unrechtmäßig erlangten Vorteil gehören. Der unrechtmäßig erlangte Vorteil bezieht sich somit u. a. auf die umgangenen Kosten für die gelieferte Energie (Art. 4.1.2 § 1, dritter Absatz, 4° Energieerlass).

15.       Art. 4.1.2 § 3 des Energieerlasses sieht ferner vor, dass die Entschädigung, die für den unrechtmäßig erlangten Vorteil in Rechnung gestellt wird, in genau festgelegter Weise bestimmt wird, und zwar einschließlich Steuern, Abgaben und Mehrwertsteuer.

III. Sachverhalt und Vorabentscheidungsverfahren

16.       Die natürliche Person MX (im Folgenden: Beklagter) wurde vom Verteilernetzbetreiber Fluvius Antwerpen (im Folgenden: Fluvius) auf Zahlung von 813,41 Euro (einschließlich Mehrwertsteuer) für den Stromverbrauch im Zeitraum vom 7. Mai 2017 bis zum 7. August 2019 verklagt.

17.       Ausweislich der im Internet zur Verfügung stehenden öffentlichen Informationen scheint der Verteilernetzbetreiber Fluvius eine juristische Person des öffentlichen Rechts zu sein, die als Vereinigung mehrerer Kommunen mit Aufgaben im öffentlichen Interesse betraut ist. Dazu gehört u. a. die Verteilungsnetzverwaltung von Strom und Gas im Sinne der flämischen Vorschriften. Laut Fluvius besteht hingegen eine zivile Persönlichkeit, die vom Königreich Belgien als Rechtsform sui generis bezeichnet wird.

18.       Fluvius rechnete gegenüber dem Beklagten die Lieferung von Strom in Höhe von 813,41 Euro inklusive 131,45 Euro Mehrwertsteuer ab. Diese Rechnungsstellung erfolgte nicht, weil Fluvius an den Beklagten aufgrund der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtung gemäß Art. 5.2.3 § 1 des Energieerlasses Strom lieferte. Sie erfolgte, weil der Beklagte an seiner Wohnadresse Strom entnahm, ohne einen Vertrag mit einem kommerziellen Energieversorger abzuschließen und ohne zuvor von einem (anderen) kommerziellen Energieversorger an dieser Adresse gekündigt worden zu sein. Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass die Stromentnahme aus dem Netz ohne Abschluss eines kommerziellen Vertrags, und ohne dies dem Verteilernetzbetreiber zu melden, als eine rechtswidrige Handlung angesehen werden kann, die mit der Erlangung eines ungerechtfertigten Vorteils einhergeht, mithin einen Energiebetrug darstellt.

19.       Die Abrechnung erfolgte, nachdem Fluvius diese tatsächliche Entnahme (im Folgenden: unrechtmäßige Entnahme) im Laufe der Zeit festgestellt hatte. Auf der Grundlage eines Vergleichs zwischen dem Zählerstand zu Beginn der unrechtmäßigen Entnahme und dem Zählerstand am Ende der unrechtmäßigen Entnahme wurde der Verbrauch für diesen Zeitraum mit 813,41 Euro, einschließlich 131,45 Euro Mehrwertsteuer, in Rechnung gestellt.

20.       Für den in Rechnung gestellten Zeitraum sind die Anschlussregeln von Fluvius maßgeblich. Diese Anschlussregeln sagen aber nichts über die Höhe der Entschädigung aus, die bei einer unrechtmäßigen Entnahme in Rechnung gestellt wird, und auch nichts, ob auf diese Entschädigung Mehrwertsteuer erhoben wird. Darin heißt es unter der Überschrift „Unrechtmäßige Entnahme von Energie und Entschädigung für die Regularisierung“ lediglich, dass sowohl der registrierte als auch der eventuell nicht registrierte Verbrauch als Folge einer unrechtmäßigen Entnahme vom Verteilernetzbetreiber dem Entnehmenden in Rechnung gestellt wird.

21.       Fluvius ist der Ansicht, dass der Netzbetreiber dem Nutzer eine Entnahme in Rechnung stellen könne, auch wenn diese ohne Liefervertrag erfolge. Auf diese unrechtmäßige Entnahme sei gemäß des belgischen Mehrwertsteuergesetzbuchs Mehrwertsteuer zu erheben. Denn danach liege eine mehrwertsteuerpflichtige Lieferung vor, wenn das Eigentum an einem Gut gegen Zahlung einer Entschädigung aufgrund einer Anforderung durch oder im Namen einer öffentlichen Behörde und allgemein aufgrund eines Gesetzes, eines Dekrets, einer Ordonnanz, eines Erlasses oder einer Verwaltungsverordnung übertragen werde.

22.       Vor dem 1. Mai 2018 gab es keine Rechtsvorschrift, in der ausdrücklich geregelt wurde, ob auf den von der Person, die unrechtmäßig Energie entnommen hat, zu zahlenden Betrag – das vorlegende Gericht bezeichnet ihn als Entschädigung – Mehrwertsteuer zu erheben ist oder nicht. Seit dem 1. Mai 2018, nach der Änderung des Energiedekrets und des Energieerlasses, gibt es dazu Vorschriften, die auch eine Inrechnungstellung der Mehrwertsteuer vorsehen. Das vorlegende Gericht fragt sich aber, ob diese Bestimmungen, die die Erhebung von Mehrwertsteuer vorsehen, gegen die Mehrwertsteuerrichtlinie verstoßen.

23.       Das Vredegerecht te Antwerpen (Friedensgericht von Antwerpen, Belgien) hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.         Ist Art. 2 Abs. 1 Buchst. a in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen, dass die unrechtmäßige Entnahme von Energie eine Lieferung von Gegenständen darstellt, nämlich die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen?

2.          Falls diese Frage verneint wird: Ist Art. 14 Abs. 2 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen, dass die unrechtmäßige Entnahme von Energie eine Lieferung von Gegenständen darstellt, nämlich die Übertragung des Eigentums an einem Gegenstand gegen Zahlung einer Entschädigung aufgrund einer behördlichen Anordnung oder kraft Gesetzes?

3.          Ist Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen, dass Fluvius, wenn sie einen Anspruch auf Entschädigung für unrechtmäßig entnommene Energie hat, als Steuerpflichtige anzusehen ist, weil die unrechtmäßige Entnahme die Folge einer „wirtschaftlichen Tätigkeit“ von Fluvius ist, nämlich der Nutzung eines körperlichen Gegenstands zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen?

4.          Wenn Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG dahin auszulegen ist, dass die unrechtmäßige Entnahme von Energie eine wirtschaftliche Tätigkeit darstellt, ist Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie dann dahin gehend auszulegen, dass Fluvius eine Behörde ist, und wenn ja, ist Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 3 dahin auszulegen, dass die unrechtmäßige Entnahme von Energie das Ergebnis einer Tätigkeit von Fluvius ist, die keinen unbedeutenden Umfang hat?

24.       Im Verfahren vor dem Gerichtshof haben Fluvius, das Königreich Belgien und die Europäische Kommission schriftlich Stellung genommen. Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung hat der Gerichtshof gemäß Art. 76 Abs. 2 der Verfahrensordnung abgesehen.

IV.    Rechtliche Würdigung

25.       Das vorlegende Gericht möchte mit den Fragen 1 und 2 im Ergebnis herausfinden, ob die widerrechtliche Entnahme von Elektrizität zulasten des Verteilernetzbetreibers ein steuerbarer und steuerpflichtiger Umsatz im Sinne des Mehrwertsteuerrechts ist. Art. 15 der Mehrwertsteuerrichtlinie definiert Elektrizität als einen körperlichen Gegenstand. Da dieser durch den Beklagten verbraucht wurde, kommt das Vorliegen einer Lieferung nach Art. 14 Abs. 1 oder Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Betracht (dazu unter A.). Wenn eine steuerbare und steuerpflichtige Lieferung von Elektrizität (im Folgenden auch als Strom bezeichnet) vorliegt, möchte das vorlegende Gericht noch wissen, ob Fluvius dadurch wirtschaftlich tätig (dazu unter B.) ist und ob eventuell Art. 13 der Mehrwertsteuerrichtlinie eine Steuerbarkeit wieder ausschließt (dazu unter C.).

A.         Unrechtmäßige Entnahme von Strom als Lieferung nach Art. 14 Abs. 1 oder Abs. 2 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie (Fragen 1 und 2)

26.       Die ersten beiden Fragen zielen darauf ab, zu klären, ob und nach welcher Vorschrift hier eine Lieferung gegen Entgelt im Sinne des Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie vorliegt. Hätte der Beklagte sich gesetzeskonform verhalten, würde niemand an einer steuerbaren und steuerpflichtigen Lieferung von Strom (Elektrizität im Sinne des Art. 15 der Mehrwertsteuerrichtlinie) zweifeln. Die Frage stellt sich nur deshalb, weil der Beklagte den Strom entnommen hat, ohne dass er einen Stromvertrag mit einem Energieversorger abgeschlossen hatte und ohne dass die Voraussetzungen für ein gesetzliches Schuldverhältnis wie das einer „Grundversorgung“ durch den Verteilernetzbetreiber vorgelegen haben.

27.       Nach belgischem Recht liegt mithin ein „Stromdiebstahl“ zulasten des Verteilernetzbetreibers vor, der diesen jedoch entdeckt hat und von dem „Dieb“ nun den entnommenen Strom vergütet haben möchte. Der einschlägige belgische Energieerlass bezeichnet dies als den ungerechtfertigten Vorteil des entsprechenden Nutzers („Diebes“), der als Entschädigung in Rechnung gestellt werden kann. In anderen Mitgliedstaaten würde man möglicherweise von Wertersatz oder sogar von Schadensersatz sprechen.

28.       Die Voraussetzungen von Art. 2 Abs. 1 Buchst. a und Art. 14 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 15 der Mehrwertsteuerrichtlinie liegen eigentlich alle vor. Danach unterfallen der Mehrwertsteuer die Lieferung von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaates gegen Entgelt tätigt. Der Lieferort war Belgien, Fluvius war ein mehrwertsteuerpflichtiger Verteilernetzbetreiber (ob er auch insoweit als solcher handelte, wird für die dritte Frage unter B. erörtert), und Elektrizität wird nach Art. 15 der Mehrwertsteuerrichtlinie einem körperlichen Gegenstand gleichgestellt.

29.       Mit der Entnahme des Stroms wechselte auch die Verfügungsmacht (gemäß Art. 14 der Mehrwertsteuerrichtlinie) von Fluvius auf den Beklagten, der den Strom dann sogleich verbrauchte. Mit diesem Verbrauch war Fluvius eventuell nicht einverstanden, konnte ihn aber auch nicht verhindern. Mithin kann davon gesprochen werden, dass Fluvius objektiv – wenn auch möglicherweise gegen seinen Willen – eine Lieferung von Gegenständen an den Beklagten getätigt hat. Dafür muss der Beklagte nun einen Geldbetrag in Abhängigkeit des Umfangs des verbrauchten Stroms bezahlen, so dass diese Lieferung auch gegen Entgelt erfolgte.

30.       Prima facie behandelt die Mehrwertsteuerrichtlinie den illegalen Stromnutzer (hier den Beklagten) nicht anders als den rechtstreuen Stromnutzer. Beide müssen (der eine vertraglich, der andere kraft Gesetzes) für den objektiv erfolgten Verbrauch des Stroms einen Preis bezahlen, der die Mehrwertsteuer beinhaltet. Weder der Verbrauchsteuercharakter des Mehrwertsteuerrechts noch das Neutralitätsprinzip oder der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz stehen diesem Ergebnis entgegen. Im Gegenteil gebietet das Prinzip der Neutralität grundsätzlich die Gleichbehandlung rechtmäßiger und rechtswidriger Aktivitäten.(3)

31.       Dennoch wird es offenbar von dem vorlegenden Gericht in Belgien für möglich gehalten, dass diese illegale Stromentnahme des Beklagten ein nicht steuerbarer Vorgang sei. Dann würde der Beklagte nach der Mehrwertsteuerrichtlinie nicht mit Mehrwertsteuer belastet werden können. Daher stellt sich die entscheidende Frage, ob eine eigentlich steuerbare und steuerpflichtige Lieferung von Elektrizität allein deshalb als nicht steuerbar zu behandeln ist, weil der Verbraucher sich den Liefergegenstand (hier die Elektrizität) illegal selbst verschafft hat, dennoch aber – nicht vertraglich, sondern kraft Gesetzes – verpflichtet ist, dafür einen verbrauchsabhängigen vergleichbaren Betrag zu bezahlen.

1.         Die Besteuerung illegaler Aktivitäten im Mehrwertsteuerrecht

32.       Zur Frage der illegalen Beschaffung eines Verbrauchsgutes durch den Leistungsempfänger hat sich der Gerichtshof bislang meines Wissens noch nicht geäußert. Es existiert aber eine gefestigte Rechtsprechung zum Umgang mit illegalen Aktivitäten des Leistenden im Mehrwertsteuerrecht.

33.       Danach verbietet der Grundsatz der steuerlichen Neutralität im Bereich der Mehrwertsteuererhebung eine allgemeine Differenzierung zwischen unerlaubten und erlaubten Geschäften.(4) Gestattet ist eine Differenzierung nach Ansicht des Gerichtshofs nur in den Fällen, in denen aufgrund der besonderen Merkmale bestimmter Waren jeder Wettbewerb zwischen einem legalen und einem illegalen Wirtschaftssektor ausgeschlossen sei.(5)

34.       Jedenfalls gilt eine solche „res extra commercium“-Ausnahme hier nicht. Elektrizität ist keine Ware, deren Vermarktung wegen ihres Wesens oder ihrer betreffenden Eigenschaften untersagt ist. Folglich ist eine legale und eine illegale Lieferung von Elektrizität mehrwertsteuerrechtlich gleich zu behandeln.

35.       Die Rechtsprechung betraf zwar bislang nur die illegalen Aktivitäten des Leistenden. Jedoch können auch Leistungsempfänger unternehmerisch tätig, mithin Wettbewerber sein. Sind sie nicht vollständig zum Vorsteuerabzug berechtigt, würde die Nichtbesteuerung ihrer illegalen Aktivitäten einen Wettbewerbsvorteil für sie darstellen und mithin gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität verstoßen. Folglich ist die illegale Beschaffung eines Verbrauchsgutes durch den Leistungsempfänger genauso wie dessen legale Beschaffung zu behandeln.

2.         Charakter der Mehrwertsteuer als allgemeine Verbrauchsteuer

36.       Für die Gleichbehandlung legalen und illegalen Stromverbrauchs spricht auch der Charakter der Mehrwertsteuer als allgemeine Verbrauchsteuer. Sie will die Leistungsfähigkeit des Verbrauchers besteuern, die sich in seiner Aufwendung von Vermögen zur Verschaffung eines verbrauchbaren Vorteils zeigt.(6) Die illegal verbrauchte Elektrizität ist ein solcher verbrauchbarer Vorteil. Der „Stromdieb“ muss hier auch Geld dafür aufwenden.

37.       Wenn allgemein der finanzielle Aufwand für den Verbrauch eines Konsumgutes durch den Endverbraucher besteuert werden soll, dann kann es keinen Unterschied machen, ob dieser Verbrauch widerrechtlich und möglicherweise ohne Kenntnis oder gar gegen den Willen des Leistenden erfolgte, solange dafür Geld aufgewendet werden musste.

38.       Dieser Ansatz lässt sich bereits der Rechtsprechung des Gerichtshofs entnehmen. In einigen Entscheidungen hat der Gerichtshof festgestellt, dass eine Lieferung oder Dienstleistung gegen Entgelt dann vorliegt, wenn ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der erbrachten Leistung und dem erhaltenen Entgelt vorliegt.(7) Entscheidend dafür war, ob der Umfang der Vorteile in einer Beziehung mit der Höhe der Gegenleistung steht.(8) Da hier der Umfang des illegal entnommenen Stroms (d. h. des Vorteils) mit dem von Fluvius geforderten Betrag in einer direkten Beziehung steht, läge eine Lieferung von Elektrizität durch Fluvius an den Beklagten gegen Entgelt vor.

39.       Auch wenn der Gerichtshof später mehr darauf abstellte, dass eine Dienstleistung nur „gegen Entgelt" erbracht wird, wenn zwischen dem Leistenden und dem Leistungsempfänger ein Rechtsverhältnis besteht,(9) ändert dies daran nichts. Denn welche Qualität ein solches Rechtsverhältnis haben müsse, ließ der Gerichtshof bislang offen. Im Anwendungsbereich einer allgemeinen Verbrauchsteuer ist es eher weit auszulegen.(10) Ein „normales“ vertragliches Rechtsverhältnis muss es gerade nicht sein, denn auch eine sogenannte Ehrenschuld konnte den Zusammenhang zwischen der Leistung und dem „ehrenhalber“ gezahlten Entgelt nicht verhindern.(11)

40.       Folglich genügt irgendein Rechtsverhältnis zwischen dem Leistenden und dem Leistungsempfänger. Dies wird zumeist ein vertragliches Rechtsverhältnis sein, schließt aber ein gesetzliches Rechtsverhältnis nicht aus. Maßgeblich ist die unmittelbare Verbindung zwischen der Geldzahlung und einem konkreten Verbrauchsgut.(12) Daher bejahte der Gerichtshof das Vorliegen einer Leistung gegen Entgelt auch dann, wenn aufgrund der vorzeitigen Kündigung eine „Vertragsstrafe“ zu zahlen war, die dem Preis entsprach, der auch ohne Kündigung zu zahlen gewesen wäre.(13) Gleiches galt für die vertragswidrige Nutzung eines Parkplatzes durch den Nutzer.(14)

41.       Auch im vorliegenden Fall besteht eine unmittelbare Verbindung zwischen der Geldzahlung und dem Verbrauch des entnommenen Stroms. Aufgrund des Energieerlasses, der die Vergütung für diesen Strom regelt, liegt zweifelsfrei ein Rechtsverhältnis, nämlich ein gesetzliches Rechtsverhältnis zwischen dem Verteilernetzbetreiber (Fluvius) und dem Verbraucher (Beklagten), vor.

42.       Warum der redliche Stromverbraucher mit einer Steuer belastet wird, die der unredliche (illegale) Stromverbraucher nicht tragen muss, obwohl ein gemeinsamer Markt für diese Leistungen existiert und beide für den gleichen verbrauchbaren Vorteil Geld aufwenden, ist auch im Hinblick auf Art. 20 der Charta der Grundrechte nur schwer begründbar. Sachliche Gründe, die diese Ungleichbehandlung rechtfertigen würden, sind jedenfalls nicht ersichtlich.

3.         Umkehrschluss aus Art. 14 Abs. 2 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie

43.       Dieses Ergebnis wird durch einen Umkehrschluss aus Art. 14 Abs. 2 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie bestätigt. Dieser stellt klar, dass die Übertragung des Eigentums an einem Gegenstand (das ist der Prototyp einer Verschaffung der Verfügungsmacht im Sinne des Art. 14 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie) als Lieferung gilt, auch wenn diese Übertragung aufgrund einer behördlichen Anordnung oder kraft Gesetzes erfolgt und dafür eine Entschädigung zu zahlen ist.

44.       Die Voraussetzungen von Art. 14 Abs. 2 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie liegen hier zwar – anders als dies Belgien vertritt – nicht vor. Art. 14 Abs. 2 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie setzt nämlich voraus, dass die Übertragung des Eigentums an einem Gegenstand aufgrund einer behördlichen Anordnung oder kraft Gesetzes erfolgt.(15) Der klassische Anwendungsfall des Art. 14 Abs. 2 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie ist daher die Enteignung gegen die Zahlung einer Entschädigung.

45.       Die Übertragung des Eigentums an dem Gegenstand (hier der Elektrizität) erfolgt hier jedoch nicht aufgrund einer behördlichen Anordnung oder kraft Gesetzes, sondern aufgrund der illegalen Entnahme durch den Beklagten und des sofortigen Verbrauchs. Fluvius ist lediglich faktisch gezwungen, diese Entnahme zu dulden. Hingegen ist die Zahlung durch den Beklagten kraft Gesetzes (hier kraft des Energieerlasses) geschuldet.

46.       Hinter Art. 14 Abs. 2 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie steht aber die Wertung, dass es keinen Unterschied machen soll, ob der Steuerpflichtige freiwillig ein Verbrauchsgut gegen Entgelt überträgt oder diese Übertragung unfreiwillig aber auch gegen Entgelt geschieht. Noch deutlicher wurde dieser Ansatz in dem damaligen Vorschlag der Sechsten Richtlinie der Kommission. Darin hieß es in Art. 5 Abs. 2 noch, dass als Lieferung gilt: „f) die Übertragung des Eigentums an einem Gegenstand gegen Zahlung einer Entschädigung auf Grund einer behördlichen Anordnung, falls eine nicht behördlich angeordnete Veräußerung dieses Gegenstandes der Steuer unterliegen würde“.(16) Dies zeigte deutlicher, dass es dem Gesetzgeber im Kern um eine gleiche Behandlung bei gleicher Verbraucherversorgung geht. Es soll keinen Unterschied machen, warum und auf welcher Grundlage ein Verbrauchsgut gegen Zahlung einer Gegenleistung übertragen wird.

47.       Diese Wertung ist immer noch im Wortlaut des Art. 14 Abs. 2 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie erkennbar. Sie kann meines Erachtens ohne Weiteres auch auf den vorliegenden Fall übertragen werden. Wenn der Eigentümer des Stroms (Fluvius) den Eigentumsübergang im Wege der illegalen Entnahme nicht verhindern kann, dafür aber kraft Gesetzes eine verbrauchsabhängige Vergütung erhält, dann spricht dies für eine (erzwungene) Lieferung gegen Entgelt, die der Mehrwertsteuer unterliegt. Dies gilt insbesondere, wenn der Vorgang der Mehrwertsteuer unterliegen würde, sollte der Eigentümer des Stroms diesen freiwillig (d. h. vertraglich) geliefert haben.

48.       Denn wenn schon eine Übereignung, die gegen den Willen erfolgt, weil das Gesetz sie vorschreibt, eine Lieferung darstellt, dann gilt dies erst recht für eine Übereignung, die ebenfalls gegen den Willen erfolgt, aber das Gesetz nicht sie, sondern eine Vergütungspflicht vorschreibt. In beiden Fällen muss der Eigentümer den Eigentumsverlust zwangsweise hinnehmen und erhält dafür eine Vergütung bzw. Entschädigung durch den Leistungsempfänger (Konsumenten).

4.         Zwischenergebnis

49.       Insofern bin ich – in Übereinstimmung mit der Kommission – der Auffassung, dass bereits die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 14 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie erfüllt sind. Mit der Entnahme des Stroms wurde eine Lieferung des Stroms durch Fluvius getätigt (genauer: geduldet), die kraft Gesetzes zu vergüten ist. Damit liegt eine Lieferung gegen Entgelt vor.

50.       Art. 2 Abs. 1 Buchst. a in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie ist somit dahin auszulegen, dass die unrechtmäßige Entnahme von Elektrizität eine Lieferung von Gegenständen gegen Entgelt darstellt, wenn die kraft Gesetzes zu zahlende Vergütung ebenso verbrauchsabhängig ausgestaltet ist wie bei einer rechtmäßigen Entnahme. Der unredlich handelnde Energieverbraucher kann mehrwertsteuerrechtlich nicht besser als der redlich handelnde Energieverbraucher behandelt werden.

B.         Belieferung im Wege einer unrechtmäßigen Stromentnahme als wirtschaftliche Tätigkeit eines Verteilernetzbetreibers wie Fluvius (Frage 3)

51.       Die dritte Frage des vorlegenden Gerichts betrifft Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie. Das vorlegende Gericht möchte im Kern wissen, ob ein Verteilernetzbetreiber, der normalerweise nicht als Stromlieferant fungiert, bezüglich der unrechtmäßig entnommenen Strommengen auch insoweit als Steuerpflichtiger anzusehen ist.

52.       Im Ergebnis betrifft dies die Frage, wie entgeltliche Tätigkeiten einzuordnen sind, die nicht zur eigentlichen Haupttätigkeit gehören. Für natürliche Personen stellt sich diese Frage häufiger, da sie im Kern die Abgrenzung zwischen unternehmerischer (und damit auch mehrwertsteuerbarer) und privater (nicht mehrwertsteuerbarer) Tätigkeit betrifft. Dass die entgeltliche Lieferung von Strom durch einen Verteilernetzbetreiber, der fehlende Strommengen ansonsten auf eigene Kosten ausgleichen muss, eine nicht unternehmerische (oder gar private) Tätigkeit darstellen können sollte, erscheint jedoch fernliegend.

53.       Die Lieferung von Strom hängt hier nämlich unmittelbar mit der Tätigkeit als Verteilernetzbetreiber zusammen. Offenbar muss in Belgien der Verteilernetzbetreiber die Strommindermengen, die sich aus der illegalen Entnahme des Stroms durch Dritte ergeben, auf eigene Kosten ausgleichen. Folglich ordnet bereits das Gesetz (hier der Energieerlass) dieses Risiko der „unbewussten“ Lieferungen im Rahmen eines gesetzlichen Rechtsverhältnisses der wirtschaftlichen Tätigkeit von Fluvius zu. Damit verwirklicht sich bei diesem gerade ein typisches unternehmerisches Risiko seiner Tätigkeit als Verteilernetzbetreiber.

54.       Folglich ist Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen, dass auch die Lieferung von Strom durch einen Verteilernetzbetreiber eine wirtschaftliche Tätigkeit von diesem darstellt, wenn und weil sich darin ein Risiko seiner wirtschaftlichen Tätigkeit als Verteilernetzbetreiber realisiert.

C.         Zur Steuerpflichtigeneigenschaft eines öffentlich-rechtlichen Verteilernetzbetreibers nach Art. 13 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie (Frage 4)

55.       Die vierte Frage besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil der vierten Frage lautet, ob „Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie dann dahingehend auszulegen (ist), dass Fluvius eine Behörde (gemeint ist eine „sonstige Einrichtung des öffentlichen Rechts“, denn der Begriff Behörde wird in Art. 13 in einigen Sprachfassungen gar nicht und in anderen jedenfalls nicht verwendet, um den Status des Handelnden zu beschreiben) ist“. Dies ist eine Frage nach der Würdigung des konkreten Sachverhalts, für das das vorlegende Gericht allein zuständig ist.

56.       Für die Beantwortung einer abgewandelten Frage, ob ein Verteilernetzbetreiber in der Rechtsform von Fluvius als eine „sonstige Einrichtung des öffentlichen Rechts“ anzusehen ist, werden dem Gerichtshof keine hinreichenden Sachverhaltsangaben geliefert. Sollte Fluvius, wie von diesen vorgetragen, z. B. eine Person des privaten Rechts sein, dann scheidet das Vorliegen einer „sonstigen Einrichtung des öffentlichen Rechts“ aus.

57.       Mit dem Wortlaut der Richtlinie ist es nur schwer vereinbar, den Begriff „Einrichtung des öffentlichen Rechts“ im Sinne einer „Einrichtung des privaten Rechts“ auszulegen. Dies gilt umso mehr, wenn Art. 13 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie tatsächlich „eng ausgelegt“ werden soll.(17) Gleichwohl hat es der Gerichtshof in der Rechtssache Saudaçor offenbar für möglich gehalten, dass eine privatrechtlich organisierte Kapitalgesellschaft unter bestimmten Umständen als „sonstige Eirichtung des öffentlichen Rechts“ betrachtet werden kann.(18) Allerdings hat der Gerichtshof die Anforderungen dafür so formuliert (Eingliederung in öffentliche Verwaltung, Vornahme öffentlicher Gewalt, hoheitliche Befugnisse),(19) dass sie bei einer privatrechtlich organisierten Kapitalgesellschaft eigentlich nie vorliegen können.

58.       Ausweislich der im Internet zur Verfügung stehenden öffentlichen Informationen scheint der Verteilernetzbetreiber Fluvius jedoch eine juristische Person des öffentlichen Rechts zu sein, die als Vereinigung mehrerer Kommunen mit Aufgaben im öffentlichen Interesse betraut ist. Dann kann aber ohne Weiteres von einer „sonstigen Einrichtung des öffentlichen Rechts“ gesprochen werden, und der erste Teil der vierten Frage des vorlegenden Gerichts erschließt sich nicht.

59.       Im zweiten Teil der vierten Frage fragt das vorlegende Gericht nach der Auslegung von Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 3 der Mehrwertsteuerrichtlinie. Dieser sieht vor, dass Einrichtungen des öffentlichen Rechts, selbst wenn sie Tätigkeiten ausüben, die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen, für bestimmte in Anhang I genannte Tätigkeiten (die Versorgung mit Elektrizität fällt darunter – siehe Nr. 2) als Steuerpflichtige gelten. Dies gilt auch dann, wenn die Behandlung dieser Tätigkeiten als nicht steuerbare Umsätze zu keinen größeren Wettbewerbsverzerrungen (Unterabs. 2) führen würde. Von dieser grundsätzlichen Steuerbarkeit wird in Unterabs. 3 jedoch dann eine Ausnahme gemacht, „sofern der Umfang dieser Tätigkeiten nicht unbedeutend ist“. Letztere Ausnahme möchte das vorlegende Gericht ausgelegt haben.

60.       Offenbar scheint es von der falschen Prämisse auszugehen, dass für im Umfang unbedeutende Tätigkeiten im Sinne von Anhang I per se die Steuerbarkeit der Umsätze zu verneinen sei. Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 3 der Mehrwertsteuerrichtlinie stellt jedoch eine Regelung dar, die nur bei dem Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 13 Abs. 1 eingreift. Sie soll nur sicherstellen, dass Körperschaften des öffentlichen Rechts mit diesen in Anhang I aufgelisteten typischen Tätigkeiten der Verbraucherversorgung per se als Steuerpflichtige zu behandeln sind, auch wenn sie insoweit im Rahmen der öffentlichen Gewalt tätig sein sollten. Wenn daher bereits die Voraussetzungen des Art. 13 Abs. 1 (Tätigkeit im Rahmen der öffentlichen Gewalt) oder des Unterabs. 2 (keine größeren Wettbewerbsverzerrungen) der Mehrwertsteuerrichtlinie nicht vorliegen, kommt es auf Unterabs. 3 und die dort normierte Ausnahme für unbedeutende Tätigkeiten gar nicht an.

61.       Wieso aber die von Anhang I Nr. 2 erfasste Lieferung von Strom durch Fluvius in der Eigenschaft als Verteilernetzbetreiber eine Tätigkeit darstellen soll, die Fluvius im Rahmen der öffentlichen Gewalt (Art. 13 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie) obliegt, wurde vom vorlegenden Gericht nicht erläutert. Die Tatsache, dass Fluvius die Gegenleistung für die Stromlieferung vor einem Zivilgericht einklagen muss, spricht eher dagegen. Ebenso ist es für den Gerichtshof unmöglich, zu beurteilen, ob die Nichtsteuerbarkeit dieser Lieferungen zu größeren Wettbewerbsverzerrungen (Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie) führen würde. Dies würde wohl vom Umfang der Stromlieferungen abhängen, die das Gericht auch nicht mitgeteilt hat. Die von Fluvius vorgelegten Zahlen sprechen eher für eine Wettbewerbsverzerrung.

62.       Sollte das vorlegende Gericht dennoch zum Ergebnis kommen, dass die Stromversorgung im Rahmen der unrechtmäßigen Entnahme eine Tätigkeit ist, die Fluvius im Rahmen öffentlicher Gewalt obliegt und deren Nichtbesteuerung auch keine größeren Wettbewerbsverzerrungen hervorruft, dann wäre Unterabs. 3 zwar anwendbar. Fluvius wäre wegen der von Anhang I erfassten Stromlieferungen dann als Steuerpflichtiger anzusehen, es sei denn, der Umfang dieser Tätigkeiten wäre unbedeutend. Aber selbst in diesem Fall würde diese Ausnahme in Unterabs. 3 meines Erachtens hier nicht eingreifen.

63.       Wie ich bereits an anderer Stelle ausgeführt habe,(20) geht Art. 13 der Mehrwertsteuerrichtlinie von der Prämisse aus, dass Tätigkeiten im Rahmen der öffentlichen Gewalt durch den Staat als Steuergläubiger nicht zur Wahrung der Wettbewerbsneutralität von ihm wieder besteuert werden müssen.(21) In der Regel sind solche „Amtstätigkeiten“ bei der gebotenen typologischen Betrachtung schon keine wirtschaftlichen Tätigkeiten im Sinne von Art. 9 der Mehrwertsteuerrichtlinie.

64.       Sind sie es doch, dann verhindert Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie unter bestimmten Umständen im Sinne einer Vereinfachungsregelung, dass deswegen steuerrechtliche Pflichten (Abführungs-, Aufzeichnungs- und Erklärungspflichten) für den Staat entstehen. Folglich können „im Umfang unbedeutende Tätigkeiten“ im Sinne des Unterabs. 3 auch nur dann vorliegen, wenn der Vereinfachungsgedanke noch einschlägig ist. Dies setzt voraus, dass allein aufgrund von den im Umfang unbedeutenden Tätigkeiten im Sinne von Anhang I für die Einrichtung des öffentlichen Rechts nunmehr besondere Abführungs-, Aufzeichnungs- und Erklärungspflichten entstehen würden.

65.       Dies ist hier nicht der Fall, weil Fluvius bereits aufgrund der Tätigkeit als Verteilernetzbetreiber ein Steuerpflichtiger ist. Durch die Steuerbarkeit der Stromlieferungen im Wege der unrechtmäßigen Entnahme entstehen keine zusätzlichen Pflichten, die im Wege einer Vereinfachungsregelung vermieden werden sollen. Dieser restriktive Ansatz entspricht der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach Art. 13 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie eng auszulegen ist.(22)

V.         Ergebnis

66.       Somit schlage ich dem Gerichtshof vor, wie folgt auf die Vorlagefragen des Vredegerecht te Antwerpen (Friedensgericht von Antwerpen, Belgien) zu antworten:

1.         Art. 2 Abs. 1 Buchst. a in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie ist dahin auszulegen, dass die unrechtmäßige Entnahme von Energie eine Lieferung von Gegenständen gegen Entgelt darstellt, wenn die kraft Gesetzes zu zahlende Vergütung verbrauchsabhängig ausgestaltet ist.

2.         Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie ist dahin auszulegen, dass ein Verteilernetzbetreiber auch dann wirtschaftlich tätig sein kann, wenn er zusätzlich dazu auch Strom liefert. Dies gilt, wenn sich in dieser Lieferung, etwa aufgrund illegaler Stromentnahme, ein Risiko seiner wirtschaftlichen Tätigkeit als Verteilernetzbetreiber realisiert.

3.         Im Umfang unbedeutende Tätigkeiten im Sinne des Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 3 der Mehrwertsteuerrichtlinie können nur dann vorliegen, wenn die Einrichtung des öffentlichen Rechts nicht aufgrund anderweitiger Tätigkeiten als Steuerpflichtiger anzusehen ist.


1          Originalsprache: Deutsch.


2          Richtlinie des Rates vom 28. November 2006 (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der für die Streitjahre (Mai 2017 bis August 2019) geltenden Fassung.


3          Kokott, J., EU Tax Law, 2022, S. 127; § 3 Rz. 33 ff. und 36 ff. m.w.Nw.


4          Vgl. nur Urteile vom 10. November 2011, Rank Group (C-259/10 und C-260/10, EU:C:2011:719, Rn. 45), vom 6. Juli 2006, Kittel und Recolta Recycling (C-439/04 und C-440/04, EU:C:2006:446, Rn. 50), vom 29. Juni 1999, Coffeeshop „Siberië“ (C-158/98, EU:C:1999:334, Rn. 14 und 21).


5          Das gelte z. B. für Betäubungsmittel und Falschgeld. Vgl. Urteile vom 29. Juni 1999, Coffeeshop „Siberië“ (C-158/98, EU:C:1999:334, Rn. 21), vom 11. Juni 1998, Fischer (C-283/95, EU:C:1998:276, Rn. 21), vom 28. Mai 1998, Goodwin und Unstead (C-3/97, EU:C:1998:263, Rn. 9), und vom 2. August 1993, Lange (C-111/92, EU:C:1993:345, Rn. 16), vom 6. Dezember 1990, Witzemann (C-343/89, EU:C:1990:445, Rn. 19), und vom 5. Juli 1988, Vereniging Happy Family Rustenburgerstraat (289/86, EU:C:1988:360, Rn. 20). Ausdrücklich a.A. aber z. B. das Schweizerische Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 3. Mai 2007 – A-1342/2006, BVGE-2007-23, Rn. 5.5.1 ff. (zu Betäubungsmitteln).


6          Vgl. exemplarisch: Urteile vom 3. Mai 2012, Lebara (C-520/10, EU:C:2012:264, Rn. 23), vom 11. Oktober 2007, KÖGÁZ u. a. (C-283/06 und C-312/06, EU:C:2007:598, Rn. 37 – „Festsetzung ihrer Höhe proportional zum Preis, den der Steuerpflichtige als Gegenleistung für die Gegenstände und Dienstleistungen erhält“), und vom 18. Dezember 1997, Landboden-Agrardienste (C-384/95, EU:C:1997:627, Rn. 20 und 23 – „Entscheidend ist allein die Natur der eingegangenen Verpflichtung: Damit eine solche Verpflichtung unter das gemeinsame Mehrwertsteuersystem fällt, muss sie einen Verbrauch implizieren“).


7          Urteil vom 8. März 1988, Apple and Pear Development Council (102/86, EU:C:1988:120, Rn. 12). Ebenso Urteile vom 29. Juli 2010, Astra Zeneca UK (C-40/09, EU:C:2010:450, Rn. 27 m.w.Nw.), und vom 16. Oktober 1997, Fillibeck (C-258/95, EU:C:1997:491, Rn. 12).


8          Urteil vom 8. März 1988, Apple and Pear Development Council (102/86, EU:C:1988:120, Rn. 15). Siehe auch Urteil vom 16. Oktober 1997, Fillibeck (C-258/95, EU:C:1997:491, Rn. 16).


9          Urteil vom 3. März 1994, Tolsma (C-16/93, EU:C:1994:80, Rn. 14). Ähnlich Urteile vom 2. Mai 2019, Budimex (C-224/18, EU:C:2019:347, Rn. 30), und vom 11. Mai 2017, Posnania Investment (C-36/16, EU:C:2017:361, Rn. 31).


10        Für ein weites Verständnis siehe auch meine Schlussanträge in der Rechtssache MEO – Serviços de Comunicações e Multimédia (C-295/17, EU:C:2018:413, Nrn. 34 ff.).


11        Urteil vom 17. September 2002, Town & County Factors (C-498/99, EU:C:2002:494, Rn. 16 ff.).


12        In diesem Sinne auch Urteil vom 20. Januar 2022, Apcoa Parking Danmark (C-90/20, EU:C:2022:37, Rn. 37 ff.).


13        Urteil vom 22. November 2018, MEO – Serviços de Comunicações e Multimédia (C-295/17, EU:C:2018:942, Rn. 41 ff.).


14        Urteil vom 20. Januar 2022, Apcoa Parking Danmark (C-90/20, EU:C:2022:37, Rn. 33 und 34).


15        Urteile vom 25. Februar 2021, Gmina Wrocław (Umwandlung des Nießbrauchrechts) (C-604/19, EU:C:2021:132, Rn. 56), und vom 13. Juni 2018, Gmina Wrocław (C-665/16, EU:C:2018:431, Rn. 37).


16        Kommissionsvorschlag zur Sechsten Richtlinie zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern, KOM(73) 950 vom 20. Juni 1973.


17        Urteile vom 25. Februar 2021, Gmina Wrocław (Umwandlung des Nießbrauchrechts) (C-604/19, EU:C:2021:132, Rn. 77), vom 22. Februar 2018, Nagyszénás Településszolgáltatási Nonprofit Kft. (C-182/17, EU:C:2018:91, Rn. 54), vom 29. Oktober 2015, Saudaçor (C-174/14, EU:C:2015:733, Rn. 49), und vom 16. September 2008, Isle of Wight Council u. a. (C-288/07, EU:C:2008:505, Rn. 60).


18        Urteil vom 29. Oktober 2015, Saudaçor (C-174/14, EU:C:2015:733, Rn. 61 und 68).


19        Urteil vom 29. Oktober 2015, Saudaçor (C-174/14, EU:C:2015:733, Rn. 56 ff.).


20        Siehe meine Schlussanträge in der Rechtssache Gmina O. (C-612/21, EU:C:2022:874, Nr. 62).


21        Vgl. zur Problematik der „Selbstbesteuerung des Staates“ meine Schlussanträge in der Rechtssache Gemeente Borsele und Staatssecretaris van Financiën (C-520/14, EU:C:2015:855, Nrn. 23 ff.).


22        Urteile vom 25. Februar 2021, Gmina Wrocław (Umwandlung des Nießbrauchrechts) (C-604/19, EU:C:2021:132, Rn. 77), vom 22. Februar 2018, Nagyszénás Településszolgáltatási Nonprofit Kft. (C-182/17, EU:C:2018:91, Rn. 54), vom 29. Oktober 2015, Saudaçor (C-174/14, EU:C:2015:733, Rn. 49), und vom 16. September 2008, Isle of Wight Council u.  a. (C-288/07, EU:C:2008:505, Rn. 60).

 

stats