EuGH: Mehrwertsteuer - Besteuerung von Reisebüros
EuGH, Beschluss vom 1.3.2012 - C-220/11, Nejvyšší správní soud (Tschechische Republik),
Tenor
Ein Beförderungsunternehmen, das lediglich die Beförderung von Personen durchführt, indem es an Reisebüros Busbeförderungsleistungen erbringt, und das keine weiteren Dienstleistungen wie die Unterbringung, eine Reiseführer- oder eine Beratungstätigkeit erbringt, tätigt keine Umsätze, die unter die Sonderregelung für Reisebüros nach Art. 306 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem fallen.
Aus den Gründen
1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 306 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Star Coaches s. r. o. (im Folgenden: Star Coaches) und dem Finanční ředitelství pro hlavní město Prahu (Steuerdirektion der Hauptstadt Prag [Tschechische Republik]) wegen eines gegen das Unternehmen ergangenen Mehrwertsteuerbescheids für den Monat Januar 2008.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3
Art. 306 in Titel XII Kapitel 3 („Sonderregelung für Reisebüros") der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„(1) Die Mitgliedstaaten wenden auf Umsätze von Reisebüros die Mehrwertsteuer-Sonderregelung dieses Kapitels an, soweit die Reisebüros gegenüber dem Reisenden in eigenem Namen auftreten und zur Durchführung der Reise Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen anderer Steuerpflichtiger in Anspruch nehmen.
Diese Sonderregelung gilt nicht für Reisebüros, die lediglich als Vermittler handeln und auf die zur Berechnung der Steuerbemessungsgrundlage Artikel 79 Absatz 1 Buchstabe c anzuwenden ist.
(2) Für die Zwecke dieses Kapitels gelten Reiseveranstalter als Reisebüro."
4
Art. 307 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
„Die zur Durchführung der Reise vom Reisebüro unter den Voraussetzungen des Artikels 306 bewirkten Umsätze gelten als eine einheitliche Dienstleistung des Reisebüros an den Reisenden.
Die einheitliche Dienstleistung wird in dem Mitgliedstaat besteuert, in dem das Reisebüro den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit oder eine feste Niederlassung hat, von wo aus es die Dienstleistung erbracht hat."
5
Art. 308 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„Für die von dem Reisebüro erbrachte einheitliche Dienstleistung gilt als Steuerbemessungsgrundlage und als Preis ohne Mehrwertsteuer im Sinne des Artikels 226 Nummer 8 die Marge des Reisebüros, das heißt die Differenz zwischen dem vom Reisenden zu zahlenden Gesamtbetrag ohne Mehrwertsteuer und den tatsächlichen Kosten, die dem Reisebüro für die Lieferungen von Gegenständen und die Dienstleistungen anderer Steuerpflichtiger entstehen, soweit diese Umsätze dem Reisenden unmittelbar zugute kommen."
6
Art. 310 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„Die Mehrwertsteuerbeträge, die dem Reisebüro von anderen Steuerpflichtigen für die in Artikel 307 genannten Umsätze in Rechnung gestellt werden, welche dem Reisenden unmittelbar zugute kommen, sind in keinem Mitgliedstaat abziehbar oder erstattungsfähig."
Tschechisches Recht
7
§ 89 („Sonderregelung für Reisedienstleistungen") des Gesetzes Nr. 235/2004 über die Mehrwertsteuer (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz) lautete in der 2008 geltenden Fassung:
„(1) Die Sonderregelung ist vom Erbringer einer Reisedienstleistung, der gegenüber einem Kunden bei der Erbringung von Reisedienstleistungen im eigenen Namen auftritt, anzuwenden.
(2) Für die Zwecke dieses Gesetzes ist
a) ‚Erbringer einer Reisedienstleistung‘ der Steuerpflichtige, der dem Kunden eine Reisedienstleistung erbringt,
b) ‚Kunde‘ die Person, gegenüber der die Reisedienstleistung erbracht wird,
c) ‚Reisedienstleistung‘ eine Dienstleistung an einen Kunden, die eine Kombination von Tourismusleistungen und gegebenenfalls Gegenständen umfasst, wenn einzelne Tourismusleistungen und Gegenstände von anderen Steuerpflichtigen erworben werden; die Erbringung einer Reisedienstleistung gilt als Erbringung einer einzigen Dienstleistung, auch wenn bei der Durchführung der Reisedienstleistung mehrere Tourismusleistungen in Anspruch genommen werden und gegebenenfalls auch Gegenstände von anderen Steuerpflichtigen erworben werden; die Erbringung einer Dienstleistung gegenüber einem Kunden, die nur eine einzige erworbene Tourismusleistung der Unterbringung oder der Beförderung umfasst, gilt ebenfalls als Reisedienstleistung."
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
8
Star Coaches ist im Bereich der Personenbeförderung mit Bussen in der Tschechischen Republik und zwischen den Mitgliedstaaten tätig. Sie führt diese Beförderung entweder mit ihren eigenen Bussen oder über Subunternehmer durch, bei denen es sich um Transportunternehmen handelt, deren Umsätze der Mehrwertsteuer unterliegen. Ihre Kunden sind ausschließlich Reisebüros in der Tschechischen Republik oder in anderen Mitgliedstaaten. Gegenüber ihren Kunden tritt Star Coaches immer im eigenen Namen auf. Nimmt Star Coaches einen Subunternehmer in Anspruch, stellt sie für ihre Kunden eine Rechnung aus, auf der die Mehrwertsteuer ausgewiesen ist, und beantragt eine Erstattung des Steuerüberschusses nach dem allgemeinen Mehrwertsteuersystem.
9
Star Coaches brachte wiederholt erhebliche Mehrwertsteuerüberschüsse in Abzug. In diesem Zusammenhang war das Finanční úřad pro Prahu 5 (Finanzamt Prag 5) der Ansicht, dass das Unternehmen Reisedienstleistungen erbracht habe und daher nicht das allgemeine Mehrwertsteuersystem, sondern die Sonderregelung für Reisebüros nach § 89 des Mehrwertsteuergesetzes hätte anwenden müssen. Es erließ am 25. Juni 2008 einen Mehrwertsteuerbescheid für den Monat Januar 2008.
Star Coaches legte gegen diesen Steuerbescheid Einspruch ein. Nachdem dieser mit Entscheidung des Finanční ředitelství pro hlavní město Prahu vom 16. Dezember 2008 zurückgewiesen worden war, erhob das Unternehmen Klage beim Mĕstský soud v Praze, die mit Urteil vom 18. Juni 2010 abgewiesen wurde. Star Coaches legte daraufhin Kassationsbeschwerde beim Nejvyšší správní soud ein.
Das vorlegende Gericht hegt Zweifel an der Anwendung der Sonderregelung für Reisebüros nach Art. 306 der Mehrwertsteuerrichtlinie.
Es stellt als Erstes einen Unterschied zwischen der tschechischen Fassung dieser Vorschrift und § 89 des Mehrwertsteuergesetzes fest, mit dem sie in nationales Recht umgesetzt worden ist. Während Art. 306 der Mehrwertsteuerrichtlinie den Reisenden erbrachte Dienstleistungen erfasse, betreffe § 89 an die Kunden des Reisebüros erbrachte Dienstleistungen, wobei dieser Begriff nicht nur Reisende, sondern auch andere Personen einbeziehe. Das vorlegende Gericht weist jedoch auch auf Unterschiede zwischen den Sprachfassungen von Art. 306 der Mehrwertsteuerrichtlinie und von Art. 26 der Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1, im Folgenden: Sechste Richtlinie), die vor Inkrafttreten der Mehrwertsteuerrichtlinie gegolten habe, hin, da bestimmte Fassungen den Begriff „Kunde" und andere den Begriff „Reisender" benutzten. Zudem habe die Europäische Kommission gegen mehrere Mitgliedstaaten, u. a. die Tschechische Republik, ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet, weil sie den Begriff „Kunde" verwendet und damit einen aus ihrer Sicht zu weiten Personenkreis angegeben hätten.
Als Zweites möchte das vorlegende Gericht für den Fall, dass der Gerichtshof entscheiden sollte, dass sich Art. 306 der Mehrwertsteuerrichtlinie auf die Kunden eines Reisebüros erstrecke, wissen, ob ein Unternehmen wie Star Coaches als Reisebüro im Sinne dieser Vorschrift anzusehen sei. Seiner Ansicht nach ist dies nicht der Fall, da dieses Unternehmen ausschließlich eine Beförderungsleistung und keine weiteren Tourismusleistungen erbringe. Die vorliegende Rechtssache sei daher von der Rechtssache Van Ginkel (C‑163/91, Urteil vom 12. November 1992, Slg. 1992, I‑5723) zu unterscheiden, in der das betreffende Unternehmen außer der Unterbringung auch Unterrichtungs- und Beratungsleistungen erbracht sowie die Reservierung von Unterkünften vorgenommen habe.
Der Nejvyšší správní soud hält eine Auslegung von Art. 306 der Mehrwertsteuerrichtlinie für erforderlich, um den bei ihm anhängigen Rechtsstreit entscheiden zu können; er hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Bezieht sich Art. 306 der Mehrwertsteuerrichtlinie nur auf Dienstleistungen, die Reisebüros an Endverbraucher einer Reisedienstleistung (Reisenden) erbringen, oder auch auf Dienstleistungen gegenüber anderen Personen (Kunden)?
2. Ist ein Transportunternehmen, das lediglich die Beförderung von Personen durchführt, indem es an Reisebüros (nicht direkt an die Reisenden) Busbeförderungsleistungen erbringt, und das keine weiteren Dienstleistungen (Unterbringung, Unterrichtung, Beratung usw.) erbringt, als Reisebüro im Sinne von Art. 306 der Mehrwertsteuerrichtlinie einzustufen?
Zu den Vorlagefragen
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof Aufschluss über den sachlichen und mit seiner zweiten Frage über den persönlichen Geltungsbereich der Mehrwertsteuer-Sonderregelung nach den Art. 306 bis 310 der Mehrwertsteuerrichtlinie.
Zunächst ist die zweite Frage zu beantworten, wobei zu prüfen ist, ob diese Sonderregelung auf ein Unternehmen wie Star Coaches anwendbar ist, und sodann gegebenenfalls die erste Frage zum sachlichen Geltungsbereich dieser Regelung.
Zur zweiten Frage
Nach Art. 104 § 3 Art. 1 der Verfahrensordnung kann der Gerichtshof, wenn die Antwort auf eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann, nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit durch Beschluss entscheiden, der mit Gründen zu versehen ist und auf die bestehende Rechtsprechung verweist.
Nach Ansicht des Gerichtshofs ist dies in der vorliegenden Rechtssache der Fall. Die Antwort auf die zweite Frage des vorlegenden Gerichts kann klar aus der Rechtsprechung zu Art. 26 der Sechsten Richtlinie abgeleitet werden, dessen Wortlaut in Art. 306 der Mehrwertsteuerrichtlinie übernommen worden ist. Die Rechtsprechung zum Begriff des Reisebüros im Sinne von Art. 26 der Sechsten Richtlinie ist daher auf diesen Begriff im Sinne von Art. 306 der Mehrwertsteuerrichtlinie übertragbar.
Es ist daher festzustellen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs die durch Art. 26 der Sechsten Richtlinie eingeführte Mehrwertsteuer-Sonderregelung zum Ziel hat, die anwendbaren Bestimmungen den besonderen Merkmalen der Tätigkeit von Reisebüros und Reiseveranstaltern anzupassen. Die Leistungen dieser Unternehmen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie sich regelmäßig aus mehreren Leistungen, insbesondere Beförderungs- und Unterbringungsleistungen, zusammensetzen, die teils im Ausland, teils in dem Land erbracht werden, in dem das Reisebüro seinen Sitz oder eine feste Niederlassung hat. Die Anwendung der allgemeinen Bestimmungen über den Ort der Besteuerung, die Besteuerungsgrundlage und den Vorsteuerabzug würde aufgrund der Vielzahl und der Lokalisierung der erbrachten Leistungen bei diesen Unternehmen zu praktischen Schwierigkeiten führen, die die Ausübung ihrer Tätigkeit behindern würden (vgl. Urteile Van Ginkel, Randnrn. 13 bis 15; vom 22. Oktober 1998, Madgett und Baldwin, C‑308/96 und C‑94/97, Slg. 1998, I‑6229, Randnr. 18, sowie vom 19. Juni 2003, First Choice Holidays, C‑149/01, Slg. 2003, I‑6289, Randnrn. 23 und 24).
Dass ein Reisebüro einem Reisenden nur eine Ferienwohnung zur Verfügung stellt, ist jedoch kein hinreichender Grund dafür, diese Leistung vom Anwendungsbereich von Art. 26 der Sechsten Richtlinie auszuschließen. Die vom Reisebüro erbrachte Leistung kann selbst in einem solchen Fall mehr als eine Leistung umfassen, da neben die Vermietung der Wohnung noch Leistungen wie die Unterrichtung und Beratung treten, durch die das Reisebüro für Ferien- und Wohnungsbuchungen eine große Auswahl anbietet (Urteil Van Ginkel, Randnr. 24).
Zudem war der Gerichtshof der Auffassung, dass unabhängig von der formalen Eigenschaft des Wirtschaftsteilnehmers die Gründe, auf denen die Sonderregelung für Reisebüros und Reiseveranstalter beruht, auch für den Fall gelten, dass dieser Teilnehmer kein Reisebüro oder Reiseveranstalter im üblichen Wortsinn ist, sondern gleichartige Umsätze im Rahmen einer anderen Tätigkeit erbringt (vgl. Urteile Madgett und Baldwin, Randnrn. 20 und 21, sowie vom 13. Oktober 2005, ISt, C‑200/04, Slg. 2005, I‑8691, Randnr. 22).
Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass für die Dienstleistungen eines Reisebusunternehmers, der, wenn er nicht seine eigenen Busse verwendet, Beförderungsleistungen von Subunternehmern in Anspruch nimmt, deren Umsätze der Mehrwertsteuer unterliegen, die Sonderregelung nach Art. 306 der Mehrwertsteuerrichtlinie gilt. Dass solche Dienstleistungen keine Unterbringungsleistungen umfassen, kann kein hinreichender Grund dafür sein, sie aus dem Geltungsbereich dieser Vorschrift auszuschließen.
Nach dem Ansatz des Gerichtshofs im Urteil Van Ginkel ist es jedoch außerdem erforderlich, dass diese Leistungen nicht nur in einer einzigen Dienstleistung bestehen und dass neben die Beförderung weitere Leistungen wie die Unterrichtung und Beratung zu einer großen Auswahl von Ferienangeboten sowie die Buchung der Busreise treten. Der Gerichtshof hat nämlich entschieden, dass sich aus dem Urteil Van Ginkel nicht ableiten lässt, dass jede isolierte Leistung, die ein Reisebüro oder ein Reiseveranstalter erbringt, unter die Sonderregelung nach Art. 26 der Sechsten Richtlinie fällt (Urteil vom 9. Dezember 2010, Minerva Kulturreisen, C‑31/10, Slg. 2010, I‑0000, Randnr. 19). Dies gilt in gleicher Weise für einen Wirtschaftsteilnehmer, der kein Reisebüro oder Reiseveranstalter im üblichen Wortsinn ist.
In Bezug auf Star Coaches stellt das vorlegende Gericht jedoch fest, dass das Unternehmen ausschließlich Beförderungsleistungen an Reisebüros und keine weiteren Leistungen erbringe. Das Gericht fügt ausdrücklich hinzu, dass das Unternehmen keine Leistungen wie die Unterbringung, eine Reiseführer- oder eine Beratungstätigkeit erbringe.
Folglich stimmen die Leistungen von Star Coaches und die Leistungen eines Reisebüros oder Reiseveranstalters keineswegs überein.
Auf die zweite Frage ist daher zu antworten, dass ein Beförderungsunternehmen, das lediglich die Beförderung von Personen durchführt, indem es an Reisebüros Busbeförderungsleistungen erbringt, und das keine weiteren Dienstleistungen wie die Unterbringung, eine Reiseführer- oder Beratungstätigkeit erbringt, keine Umsätze tätigt, die unter die Sonderregelung für Reisebüros nach Art. 306 der Mehrwertsteuerrichtlinie fallen.
Zur ersten Frage
In Anbetracht seiner Antwort auf die zweite Frage braucht der Gerichtshof die erste Frage nicht zu beantworten.
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Kosten
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.