EuGH: Maßnahmen zur Sicherstellung einer genauen Erhebung der Mehrwertsteuer –nationale Regelung, die die gesamtschuldnerische Haftung des ehemaligen Vorsitzenden des Verwaltungsrats des Steuerpflichtigen vorsieht (Polnisches Vorabentscheidungsersuchen)
EuGH, Urteil vom 27.2.2025 – C-277/24; M. B. gegen Dyrektor Izby Administracji Skarbowej we Wrocławiu
ECLI:EU:C:2025:130
Volltext BB-Online BBL2025-597-2
Tenor
Art. 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist in Verbindung mit Art. 325 Abs. 1 AEUV, den Verteidigungsrechten und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung und einer nationalen Praxis, nach denen ein Dritter, der für die Steuerschuld einer juristischen Person gesamtschuldnerisch haftbar gemacht werden kann, nicht Beteiligter in dem Verfahren sein kann, das gegenüber dieser Person durchgeführt wird, um ihre Steuerschuld festzustellen, nicht entgegensteht, wobei es aber erforderlich ist, dass dieser Dritte in dem möglicherweise ihm gegenüber geführten Verfahren der gesamtschuldnerischen Haftung die von der Steuerverwaltung im Rahmen des erstgenannten Verfahrens getroffenen Tatsachenfeststellungen und rechtlichen Würdigungen wirksam in Frage stellen und unter Wahrung der Rechte dieser Person oder anderer Dritter Einsicht in die Akten der Steuerverwaltung erhalten kann.
Aus den Gründen
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 205 und 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, berichtigt in ABl. 2018, L 329, S. 53, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) in Verbindung mit Art. 2 EUV, den Art. 17, 41 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dem Recht auf ein faires Verfahren und den Verteidigungsrechten.
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen M. B. und dem Dyrektor Izby Administracji Skarbowej we Wrocławiu (Direktor der Finanzverwaltungskammer Wrocław, Polen) (im Folgenden: DIAS) über die Frage der Beteiligung von M. B. an dem Verwaltungsverfahren zur Feststellung des Bestehens einer Mehrwertsteuerschuld einer Gesellschaft, deren Verwaltungsrat sie geleitet hatte.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 193 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
„Die Mehrwertsteuer schuldet der Steuerpflichtige, der Gegenstände steuerpflichtig liefert oder eine Dienstleistung steuerpflichtig erbringt, außer in den Fällen, in denen die Steuer gemäß den Artikeln 194 bis 199b sowie 202 von einer anderen Person geschuldet wird.“
4 Art. 205 dieser Richtlinie lautet:
„In den in den Artikeln 193 bis 200 sowie 202, 203 und 204 genannten Fällen können die Mitgliedstaaten bestimmen, dass eine andere Person als der Steuerschuldner die Steuer gesamtschuldnerisch zu entrichten hat.“
5 In Art. 273 Abs. 1 der Richtlinie heißt es:
„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.“
Polnisches Recht
6 Die Ustawa – Ordynacja podatkowa (Gesetz über die Abgabenordnung) vom 29. August 1997 in der auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (Dz. U. 2023, Pos. 2383) (im Folgenden: Abgabenordnung) bestimmt in Art. 107:
„§ 1. In den Fällen, die in diesem Kapitel vorgesehen sind, und in dem darin vorgesehenen Umfang haften auch Dritte mit ihrem gesamten Vermögen gesamtschuldnerisch mit dem Steuerpflichtigen für dessen Steuerrückstände.
…
§ 2. Soweit nichts anderes bestimmt ist, haften Dritte auch für
…
3) nicht fristgerecht erstattete Vorschüsse auf die als Vorsteuer entrichtete Mehrwertsteuer sowie Zinsen auf diese Vorschüsse;
…“
7 Art. 108 § 1 der Abgabenordnung sieht vor:
„Die Steuerverwaltung entscheidet im Wege eines Bescheids über die steuerliche Haftung eines Dritten.“
8 Art. 116 der Abgabenordnung bestimmt:
„§ 1. Die Mitglieder des Verwaltungsrats einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung, einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung in Gründung, einer vereinfachten Aktiengesellschaft oder einer vereinfachten Aktiengesellschaft in Gründung haften gesamtschuldnerisch mit ihrem gesamten Vermögen für die Steuerrückstände dieser Gesellschaften, wenn sich die Zwangsvollstreckung in das Gesellschaftsvermögen als ganz oder teilweise fruchtlos erwiesen hat und das betreffende Mitglied des Verwaltungsrats
1) nicht nachgewiesen hat, dass
a) ein Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens … gestellt wurde;
b) das Fehlen eines Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht auf sein Verschulden zurückzuführen ist;
2) die Vermögensgegenstände der Gesellschaft, deren Verwertung es ermöglichen würde, die Steuerrückstände der Gesellschaft weitgehend zu decken, nicht angegeben hat.
…
§ 2. Die Haftung der Mitglieder des Verwaltungsrats erstreckt sich auf Steuerrückstände für während der Ausübung ihres Amtes fällig gewordene Schulden und auf Rückstände …, die während der Ausübung dieses Amtes entstanden sind.
…
§ 4. Die §§ 1 bis 3 gelten auch für ehemalige Mitglieder des Verwaltungsrats und ehemalige Vertreter oder Gesellschafter der in Gründung befindlichen Gesellschaft.
…“
9 Art. 133 § 1 der Abgabenordnung lautet:
„Beteiligte im Steuerverfahren sind der Steuerpflichtige, der Zahler, der Steuereinnehmer oder deren Rechtsnachfolger sowie der in den Art. 110 bis 117c genannte Dritte, der aufgrund seines rechtlichen Interesses eine Maßnahme der Steuerverwaltung verlangt, auf den sich die Maßnahme der Steuerverwaltung bezieht oder dessen rechtliches Interesse die Maßnahme der Steuerverwaltung berührt.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
10 M. B. war von August 2014 bis Januar 2018 Vorsitzende des Verwaltungsrats der Gesellschaft B. sp z o.o.
11 Diese Gesellschaft wurde vom Naczelnik Urzędu Skarbowego Wrocław-Stare Miasto (Leiter der Steuerverwaltung Wrocław-Stare Miasto, Polen) (im Folgenden: NUS) einem Steuerprüfungsverfahren unterzogen, das sich auf die Mehrwertsteuererklärungen für den Zeitraum von Juni bis Oktober 2016 bezog (im Folgenden: in Rede stehendes Steuerverfahren).
12 Am 22. August 2022 beantragte M. B. beim NUS, im in Rede stehenden Steuerverfahren als Beteiligte anerkannt zu werden sowie Akteneinsicht zu erhalten, da sie im Verwaltungsrat der Gesellschaft B. den Vorsitz innegehabt habe. Mit Beschluss vom 12. September 2022 lehnte der NUS diesen Antrag ab.
13 Auf Einspruch von M. B. hob der DIAS mit Beschluss vom 27. Oktober 2022 (im Folgenden: Beschluss des DIAS) den Beschluss des NUS vom 12. September 2022 in vollem Umfang auf und stellte das Verfahren ein. In diesem Beschluss führte der DIAS aus, dass die Beteiligteneigenschaft in einem Steuerverfahren von der Beurteilung durch die zuständigen Behörden abhänge. M. B. falle indessen in keine der in Art. 133 der Abgabenordnung aufgeführten Kategorien von Personen. Daher gebe es keine Rechtsgrundlage, auf die der NUS seinen Beschluss hätte stützen können. Die Abgabenordnung sehe nämlich nicht vor, dass die Frage, ob einer bestimmten Person in einem laufenden Verfahren die Beteiligteneigenschaft zuzuerkennen sei, durch einen Beschluss oder einen sonstigen Rechtsakt entschieden werde.
14 Am 6. Dezember 2022 erhob M. B. beim Wojewódzki Sąd Administracyjny we Wrocławiu (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Wrocław, Polen), dem vorlegenden Gericht, Klage auf Aufhebung des Beschlusses des DIAS.
15 Zur Stützung ihrer Klage macht M. B. zunächst geltend, der DIAS habe die Bestimmungen des nationalen Rechts falsch ausgelegt, indem er davon ausgegangen sei, dass sie kein rechtliches Interesse im Sinne von Art. 133 der Abgabenordnung daran habe, die Zuerkennung der Beteiligteneigenschaft in dem die Gesellschaft B. betreffenden Steuerverfahren zu beantragen. Sodann weist M. B. darauf hin, dass sie als einziges Mitglied des Verwaltungsrats dieser Gesellschaft während des Zeitraums, der Gegenstand des in Rede stehenden Steuerverfahrens sei, am besten über die Tätigkeit dieser Gesellschaft Bescheid wisse, was für dieses Verfahren von entscheidender Bedeutung sei. Ihre einmalige Vernehmung als Zeugin durch den NUS sei weder ausreichend noch vollständig. Schließlich weist M. B. darauf hin, dass ihr Antrag auf Zuerkennung der Beteiligteneigenschaft in diesem Verfahren deshalb gerechtfertigt sei, weil etwaige, von der Gesellschaft B. nicht beglichene Forderungen sie als natürliche Person betreffen würden.
16 Im Vorabentscheidungsersuchen führt das vorlegende Gericht erstens aus, dass sich nach der ständigen Praxis der polnischen Steuerverwaltung, die durch die Rechtsprechung der nationalen Gerichte zu den Art. 116 und 133 der Abgabenordnung bestätigt worden sei, die gesamtschuldnerische Haftung eines Dritten wie eines Mitglieds oder ehemaligen Mitglieds des Verwaltungsrats einer Gesellschaft aus zwei verschiedenen Verfahren ergebe:
– einem Verfahren zur Bestimmung der Höhe der Steuerschuld (im Folgenden: Besteuerungsverfahren), an dem nur die Person beteiligt sei, die der in diesem Verfahren in Rede stehenden Besteuerung unterliege;
– einer Klage auf gesamtschuldnerische Haftung Dritter (im Folgenden: Verfahren der gesamtschuldnerischen Haftung), wenn der Steuerpflichtige, dessen Steuerschuld am Ende des Besteuerungsverfahrens festgestellt worden sei, seinen steuerlichen Verpflichtungen nicht nachkomme.
17 Insoweit weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass nach der nationalen Praxis ein Dritter wie ein ehemaliges Mitglied des Verwaltungsrats der Gesellschaft, die eine Steuerschuld habe, kein rechtliches Interesse im Sinne von Art. 133 der Abgabenordnung daran habe, an dem diese Gesellschaft betreffenden Besteuerungsverfahren beteiligt zu werden. Ein solcher Dritter könne nur im Verfahren der gesamtschuldnerischen Haftung Beteiligter sein.
18 Die Bestimmungen der Abgabenordnung und die nationale Praxis sähen allerdings nicht vor, dass der Dritte die Höhe der am Ende des Besteuerungsverfahrens festgestellten Steuerschuld im Rahmen des Verfahrens der gesamtschuldnerischen Haftung anfechten könne. In letzterem Verfahren solle nämlich hauptsächlich geklärt werden, ob die Voraussetzungen für die Haftung des Dritten erfüllt seien.
19 Zweitens äußert das vorlegende Gericht Zweifel an der Vereinbarkeit der in Rede stehenden nationalen Praxis mit dem Unionsrecht.
20 Es weist darauf hin, dass der Rechtsstreit im vorliegenden Fall im Wesentlichen die Verfahrensgarantien betreffe, die einem Dritten im Rahmen eines Verfahrens zur Bestimmung der Höhe der Steuerschuld einer Gesellschaft zu gewähren seien, weil er möglicherweise verpflichtet sei, mit seinem persönlichen Vermögen für die Mehrwertsteuerschuld dieser Gesellschaft aufzukommen.
21 Zwar trage ein Mechanismus der gesamtschuldnerischen Haftung eines Dritten für die steuerlichen Pflichten einer Gesellschaft dazu bei, die genaue Erhebung der Mehrwertsteuer im Sinne von Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie – betrachtet im Licht von Art. 325 Abs. 1 AEUV – sicherzustellen. Nach Maßgabe u. a. des Urteils vom 8. Mai 2019, EN.SA. (C-712/17, EU:C:2019:374, Rn. 38 und 39), müsse der Gestaltungsspielraum, den Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie den Mitgliedstaaten hinsichtlich der Mittel zur Erreichung der mit dieser Vorschrift verfolgten Ziele einräume, jedoch unter Beachtung des Unionsrechts, insbesondere seiner allgemeinen Grundsätze, einschließlich des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, ausgeübt werden.
22 Insoweit ergebe sich insbesondere aus dem Urteil vom 13. Oktober 2022, Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“ (C-1/21, EU:C:2022:788), dass Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen seien, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstünden, die unter bestimmten Umständen einen Mechanismus der gesamtschuldnerischen Haftung für die Mehrwertsteuerschulden einer juristischen Person vorsehe. Nach diesem Urteil müsse die Steuerverwaltung jedoch im Rahmen eines Verfahrens, das die gesamtschuldnerische Haftung eines Dritten betreffe, die Umstände prüfen, die mit dem Beitrag dieses Dritten zur Steuerschuld oder zu einer anderen Verringerung des Staatshaushalts in Bezug auf die Mehrwertsteuer zusammenhingen. Eine nationale Praxis, die die Beteiligung dieses Dritten an dem Verfahren zur Festsetzung der Höhe der Steuerschuld ausschließe, genüge diesem Erfordernis nicht.
23 Wenn ein Dritter, der von einem Verfahren der gesamtschuldnerischen Haftung betroffen sein könnte, nicht am Besteuerungsverfahren beteiligt werde, könne dies nämlich zur Folge haben, dass dieser Dritte etwaige fehlerhafte Feststellungen der Steuerverwaltung nicht in Frage stellen könnte, da die Steuerverwaltung an die bestandskräftige Entscheidung gebunden wäre, die sie gegenüber der vom Besteuerungsverfahren betroffenen Gesellschaft erlassen habe.
24 Im Übrigen könne aus dem Umstand, dass dieser Dritte im Rahmen des Besteuerungsverfahrens als Zeuge vernommen werden könne, nicht geschlossen werden, dass er über die Verfahrensgarantien verfüge, die einem Beteiligten dieses Verfahrens eigen seien.
25 Daher werfe der Umstand, dass sich ein Dritter, der für eine gesamtschuldnerische Haftung in Betracht komme, nicht am Besteuerungsverfahren zur Bestimmung der Höhe der Steuerschuld beteiligen könne, Fragen hinsichtlich der Wahrung der in Art. 2 EUV verankerten Rechtsstaatlichkeit, des durch Art. 17 der Charta geschützten Eigentumsrechts, des Grundsatzes der guten Verwaltung, der Verteidigungsrechte und des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz, die insbesondere in den Art. 41 und 47 der Charta garantiert seien, sowie des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf.
26 In diesem Zusammenhang sei insbesondere auf das Urteil vom 16. Oktober 2019, Glencore Agriculture Hungary (C-189/18, EU:C:2019:861), hinzuweisen. Da es nach diesem Urteil erforderlich sei, dass die von einem Steuerverfahren betroffene Einzelperson von den in konnexen Verfahren zusammengetragenen Informationen Kenntnis nehmen könne, sei davon auszugehen, dass die Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie, der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte und Art. 47 der Charta dem nicht entgegenstünden, dass ein Dritter, der gesamtschuldnerisch für die Verbindlichkeiten einer Gesellschaft haftbar gemacht werden könne, die Eigenschaft eines Beteiligten in dem diese Gesellschaft betreffenden Besteuerungsverfahren habe, was sein Recht impliziere, von den Beweisen Kenntnis zu nehmen, auf deren Grundlage die Steuerverwaltung die Höhe der Steuerschuld festsetze, die dieser Dritte letztlich zu tragen haben könnte.
27 Unter diesen Umständen hat der Wojewódzki Sąd Administracyjny we Wrocławiu (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Wrocław) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Sind die Art. 205 und 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit Art. 2 EUV (Rechtsstaatlichkeit, Achtung der Menschenrechte) sowie Art. 17 (Eigentumsrecht), Art. 41 (Recht auf eine gute Verwaltung) und Art. 47 (Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und Recht auf Zugang zu einem Gericht) der Charta sowie folgende vom Unionsrecht gewährleistete Grundsätze: der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, das Recht auf ein faires Verfahren und die Verteidigungsrechte dahin auszulegen, dass sie einer innerstaatlichen Regelung und einer darauf beruhenden innerstaatlichen Praxis entgegenstehen, wonach einer natürlichen Person (einem Mitglied des Verwaltungsrats einer juristischen Person), die für die Mehrwertsteuerschuld einer juristischen Person mit ihrem gesamten Privatvermögen gesamtschuldnerisch haftbar gemacht werden kann, das Recht verwehrt wird, sich aktiv an dem Verfahren zur Festsetzung dieser Steuerschuld gegenüber der juristischen Person in Form einer endgültigen Entscheidung der Steuerbehörde zu beteiligen, und dieser natürlichen Person zugleich in einem gesonderten Verfahren zur Festsetzung ihrer gesamtschuldnerischen Haftung für die Mehrwertsteuerschuld der juristischen Person ein angemessenes Mittel vorenthalten wird, um die zuvor getroffenen Feststellungen und Bewertungen in Frage zu stellen, die in Bezug auf das Bestehen bzw. die Höhe der Steuerschuld der juristischen Person in einer zuvor ohne Beteiligung dieser natürlichen Person erlassenen endgültigen Entscheidung der Steuerbehörde, die daher – gemäß einer durch eine innerstaatliche Praxis bestätigten innerstaatlichen Vorschrift – eine Vorentscheidung in diesem Verfahren darstellt, vorgenommen wurden?
Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens
28 In seinen schriftlichen Erklärungen macht der DIAS geltend, dass nach polnischem Recht jede Entscheidung über die Haftung eines Dritten ausgeschlossen sei, wenn seit dem Ende des Kalenderjahrs, in dem die Steuerrückstände entstanden seien, ein Zeitraum von mehr als fünf Jahren verstrichen sei. Im Ausgangsverfahren sei dieser Zeitraum Ende 2021 abgelaufen, so dass das Recht, ein Verfahren der gesamtschuldnerischen Haftung einzuleiten, verjährt sei. Daher habe die Antwort des Gerichtshofs auf das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen keine Auswirkung auf die Haftung von M. B. als ehemaligem Mitglied des Verwaltungsrats der Gesellschaft B. im Hinblick auf deren Steuerrückstände.
29 Insoweit folgt zwar sowohl aus dem Wortlaut als auch aus dem Aufbau von Art. 267 AEUV, dass das Vorabentscheidungsverfahren insbesondere voraussetzt, dass bei den nationalen Gerichten tatsächlich ein Rechtsstreit anhängig ist, da die erbetene Vorabentscheidung „erforderlich“ sein muss, um dem vorlegenden Gericht den „Erlass seines Urteils“ in der bei ihm anhängigen Rechtssache zu ermöglichen. Die Rechtfertigung der Vorlage zur Vorabentscheidung liegt nämlich nicht in der Abgabe von Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen, sondern darin, dass das Ersuchen für die tatsächliche Entscheidung eines Rechtsstreits erforderlich ist (Urteil vom 25. Juni 2020, Ministerio Fiscal [Behörde, bei der ein Antrag auf internationalen Schutz wahrscheinlich gestellt wird], C-36/20 PPU, EU:C:2020:495, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).
30 Es ist jedoch allein Sache des nationalen Gerichts, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten des Ausgangsverfahrens die Erheblichkeit der Frage zu beurteilen, die es dem Gerichtshof vorlegt. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über eine ihm vorgelegte Frage zu befinden, wenn sie die Auslegung oder die Gültigkeit einer unionsrechtlichen Regelung betrifft. Folglich spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit einer Vorlagefrage zum Unionsrecht. Der Gerichtshof kann es nur dann ablehnen, über eine solche Vorlagefrage zu befinden, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, das Problem hypothetischer Natur ist oder er nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 22. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Abschiebung –Medizinisches Cannabis], C-69/21, EU:C:2022:913, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).
31 Im vorliegenden Fall steht fest, dass das vorlegende Gericht mit der Klage von M. B. auf Aufhebung des Beschlusses des DIAS befasst ist, mit dem dieser den Antrag von M. B. auf Zuerkennung der Beteiligteneigenschaft in dem die Gesellschaft B. betreffenden Besteuerungsverfahren, das nach Auffassung dieses Gerichts noch im Gange ist, zurückgewiesen hat. Auch hält das vorlegende Gericht die Antwort des Gerichtshofs auf das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen für erforderlich, damit es genau den Rechtsstreit, der diese Klage zum Gegenstand hat, entscheiden kann.
32 Folglich ist das Vorabentscheidungsersuchen zulässig.
Zur Vorlagefrage
Vorbemerkungen
33 Nach ständiger Rechtsprechung ist es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV geschaffenen Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof dessen Aufgabe, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits zweckdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegte Frage gegebenenfalls umzuformulieren. Außerdem kann der Gerichtshof veranlasst sein, unionsrechtliche Vorschriften zu berücksichtigen, die das nationale Gericht in seiner Frage nicht angeführt hat (Urteil vom 16. Mai 2019, Plessers, C-509/17, EU:C:2019:424, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).
34 Wie sich aus Rn. 27 des vorliegenden Urteils ergibt, betrifft die Vorlagefrage die Auslegung der Art. 205 und 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit Art. 2 EUV, den Art. 17, 41 und 47 der Charta, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dem Recht auf ein faires Verfahren und den Verteidigungsrechten.
35 Erstens ist in Bezug auf die Mehrwertsteuerrichtlinie darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach ihrem Art. 205 in den in den Art. 193 bis 200 und 202 bis 204 dieser Richtlinie genannten Fällen bestimmen können, dass eine andere Person als der Steuerschuldner die Steuer gesamtschuldnerisch zu entrichten hat.
36 Die Art. 193 bis 200 sowie 202 bis 204 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmen die Steuerschuldner entsprechend dem Gegenstand von Titel XI Kapitel 1 Abschnitt 1 („Steuerschuldner gegenüber dem Fiskus“) dieser Richtlinie, zu dem diese Vorschriften gehören. Art. 193 der Richtlinie sieht zwar als Grundregel vor, dass die Mehrwertsteuer der Steuerpflichtige schuldet, der Gegenstände steuerpflichtig liefert oder eine Dienstleistung steuerpflichtig erbringt, präzisiert jedoch auch, dass in den Fällen der Art. 194 bis 199b und 202 der Richtlinie andere Personen die Steuer schulden (können) (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Oktober 2022, Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“, C-1/21, EU:C:2022:788, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).
37 Aus dem Kontext der Art. 193 bis 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie ergibt sich somit, dass deren Art. 205 Teil einer Reihe von Vorschriften ist, die dazu dienen, in verschiedenen Situationen den Mehrwertsteuerschuldner zu bestimmen (Urteil vom 13. Oktober 2022, Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“, C-1/21, EU:C:2022:788, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).
38 Daher ermöglicht es Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie den Mitgliedstaaten grundsätzlich, im Hinblick auf eine wirksame Erhebung der Mehrwertsteuer Maßnahmen zu erlassen, nach denen eine andere Person als die, die nach den Art. 193 bis 200 und 202 bis 204 dieser Richtlinie normalerweise die Mehrwertsteuer schuldet, diese Steuer gesamtschuldnerisch zu entrichten hat (Urteil vom 13. Oktober 2022, Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“, C-1/21, EU:C:2022:788, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).
39 Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen nicht hervor, dass mit dem in Polen in Art. 116 der Abgabenordnung vorgesehenen Mechanismus der gesamtschuldnerischen Haftung eine Person bestimmt werden soll, die die Steuer für einen oder mehrere bestimmte steuerbare Umsätze im Sinne von Art. 193 in Verbindung mit Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie schuldet. Nach diesem Mechanismus können nämlich die Mitglieder oder ehemaligen Mitglieder des Verwaltungsrats einer Gesellschaft unter bestimmten Voraussetzungen als gesamtschuldnerisch für die Gesamtheit oder einen Teil der Mehrwertsteuerschulden dieser Gesellschaft haftend angesehen werden, ohne dass diese Schulden mit einem oder mehreren bestimmten steuerbaren Umsätzen verknüpft wären.
40 Daher ist nicht ersichtlich, dass Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie unter den Umständen des Ausgangsrechtsstreits anwendbar wäre (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil vom 13. Oktober 2022, Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“, C-1/21, EU:C:2022:788, Rn. 51, 52 und 54).
41 Zweitens ist zu den vom vorlegenden Gericht angeführten Grundsätzen und Grundrechten festzustellen, dass Art. 41 der Charta, der das Recht auf eine gute Verwaltung betrifft, im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits nicht anwendbar ist, da er sich nicht an die Mitgliedstaaten, sondern ausschließlich an die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union richtet (Urteil vom 17. Juli 2014, YS u. a., C-141/12 und C-372/12, EU:C:2014:2081, Rn. 67). Zwar spiegelt das in dieser Vorschrift verankerte Recht auf eine gute Verwaltung, wie das vorlegende Gericht ausführt, einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts wider (Urteil vom 17. Juli 2014, YS u. a., C-141/12 und C-372/12, EU:C:2014:2081, Rn. 68). Im vorliegenden Fall erscheint es jedoch nicht erforderlich, das Recht auf eine gute Verwaltung als allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts unter einem anderen Blickwinkel als dem des Anspruchs auf rechtliches Gehör und des Rechts auf Akteneinsicht heranzuziehen, die nach der Rechtsprechung zu den – ebenfalls von der Vorlagefrage erfassten – Verteidigungsrechten gehören (Urteil vom 10. September 2013, G. und R., C-383/13 PPU, EU:C:2013:533, Rn. 32; vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Oktober 2019, Glencore Agriculture Hungary, C-189/18, EU:C:2019:861, Rn. 41 und 51).
42 Ebenso ist Art. 47 der Charta, der das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht betrifft, in Anbetracht der verwaltungsrechtlichen Natur des Besteuerungsverfahrens – und im Übrigen auch des Verfahrens der gesamtschuldnerischen Haftung – nicht relevant, ebenso wenig wie das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Dezember 2022, Aquila Part Prod Com, C-512/21, EU:C:2022:950, Rn. 59).
43 Da außerdem im Stadium des gegenüber der Gesellschaft, die möglicherweise eine Mehrwertsteuerschuld hat, eingeleiteten Besteuerungsverfahrens das persönliche Vermögen der Mitglieder des Verwaltungsrats dieser Gesellschaft nicht betroffen sein kann, braucht Art. 17 der Charta, der das Eigentumsrecht betrifft, nicht berücksichtigt zu werden.
44 Im Übrigen bezieht sich das vorlegende Gericht zwar auch auf Art. 2 EUV, in dem die Werte aufgeführt sind, auf die sich die Union gründet, doch enthält das Vorabentscheidungsersuchen keine Anhaltspunkte dafür, dass dieses Gericht die Auslegung dieser Bestimmung unabhängig von den Grundrechten und Grundsätzen begehrt, die es in seiner Frage erwähnt.
45 Folglich ist die Vorlagefrage dahin umzuformulieren, dass das vorlegende Gericht damit im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit Art. 325 Abs. 1 AEUV, den Verteidigungsrechten und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung und einer nationalen Praxis entgegensteht, nach denen ein Dritter, der für die Steuerschuld einer juristischen Person gesamtschuldnerisch haftbar gemacht werden kann, nicht Beteiligter in dem Besteuerungsverfahren sein kann, das gegenüber dieser Person durchgeführt wird, um ihre Steuerschuld festzustellen, und nach denen diesem Dritten kein angemessenes Mittel gewährt wird, um die Feststellungen und Beurteilungen zum Bestehen oder zur Höhe dieser Steuerschuld im Rahmen des Verfahrens der gesamtschuldnerischen Haftung anzufechten.
Zur Beantwortung der Vorlagefrage
46 Nach Art. 273 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie können die Mitgliedstaaten über die in dieser Richtlinie vorgesehenen Pflichten hinaus weitere Pflichten vorsehen, wenn sie diese für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden (Urteile vom 19. Oktober 2017, Paper Consult, C-101/16, EU:C:2017:775, Rn. 49, und vom 11. Januar 2024, Global Ink Trade, C-537/22, EU:C:2024:6, Rn. 41).
47 Ferner haben die Mitgliedstaaten nach Art. 325 Abs. 1 AEUV Betrügereien und sonstige gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen mit Maßnahmen zu bekämpfen, die abschreckend und wirksam sind.
48 Aus den oben genannten Bestimmungen ergibt sich insbesondere, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer sicherzustellen und den Betrug zu bekämpfen (Urteil vom 13. Oktober 2022, Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“, C-1/21, EU:C:2022:788, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).
49 Ein Mechanismus der gesamtschuldnerischen Haftung wie der durch Art. 116 der Abgabenordnung eingeführte trägt zur Einziehung von Mehrwertsteuerbeträgen bei, die von einer steuerpflichtigen juristischen Person nicht innerhalb der durch die Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie festgelegten zwingenden Fristen abgeführt worden sind. Ein solcher Mechanismus trägt also im Einklang mit der Verpflichtung aus Art. 325 Abs. 1 AEUV dazu bei, im Sinne von Art. 273 dieser Richtlinie eine genaue Erhebung der Mehrwertsteuer sicherzustellen (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil vom 13. Oktober 2022, Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“, C-1/21, EU:C:2022:788, Rn. 61).
50 Aus der Rechtsprechung ergibt sich, dass Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie außer den von ihm festgelegten Grenzen weder die Bedingungen noch die Pflichten angibt, die die Mitgliedstaaten vorsehen können. Er räumt ihnen daher hinsichtlich der Mittel, mit denen die Ziele der Erhebung der gesamten Mehrwertsteuer und der Betrugsbekämpfung erreicht werden sollen, einen Gestaltungsspielraum ein. Allerdings sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, bei der Ausübung dieser Befugnis das Unionsrecht und seine allgemeinen Grundsätze zu beachten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Oktober 2022, Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“, C-1/21, EU:C:2022:788, Rn. 69 und 72).
51 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die Wahrung der Verteidigungsrechte einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts darstellt. Dieser Grundsatz ist anwendbar, wann immer die Verwaltung beabsichtigt, gegenüber einer Person eine sie beschwerende Maßnahme zu erlassen. Nach diesem Grundsatz müssen die Adressaten von Entscheidungen, die ihre Interessen spürbar beeinträchtigen, in die Lage versetzt werden, ihren Standpunkt zu den Gesichtspunkten, auf die sich die Verwaltung zu stützen beabsichtigt, sachdienlich vorzutragen. Diese Verpflichtung besteht für die Verwaltungen der Mitgliedstaaten, wenn sie Maßnahmen treffen, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, auch dann, wenn die anwendbaren Unionsvorschriften ein solches Verfahrensrecht nicht ausdrücklich vorsehen (Urteil vom 16. Oktober 2019, Glencore Agriculture Hungary, C-189/18, EU:C:2019:861, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).
52 Wie sich aus Rn. 41 des vorliegenden Urteils ergibt, umfassen die Verteidigungsrechte den Anspruch auf rechtliches Gehör und das Recht auf Akteneinsicht.
53 Allerdings ist der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte nicht schrankenlos gewährleistet, sondern kann Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen entsprechen, die mit der fraglichen Maßnahme verfolgt werden, und keinen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen und nicht tragbaren Eingriff darstellen, der die so gewährleisteten Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet (Urteil vom 16. Oktober 2019, Glencore Agriculture Hungary, C-189/18, EU:C:2019:861, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).
54 Zu diesen Zielen gehört im Kontext der Steuerprüfungsverfahren u. a. der Schutz der Erfordernisse der Vertraulichkeit oder des Geschäftsgeheimnisses (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Oktober 2019, Glencore Agriculture Hungary, C-189/18, EU:C:2019:861, Rn. 55).
55 Im Übrigen ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass bei der Kontrolle der Wahrung der Verteidigungsrechte in konnexen Verwaltungsverfahren auch die Rechtssicherheit zu berücksichtigen ist, bei der es sich ebenfalls um einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts handelt. Da die Bestandskraft einer Verwaltungsentscheidung zur Rechtssicherheit beiträgt, verlangt das Unionsrecht grundsätzlich nicht, dass eine Behörde verpflichtet ist, eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Oktober 2019, Glencore Agriculture Hungary, C-189/18, EU:C:2019:861, Rn. 45 und 46).
56 Allerdings kann die Bestandskraft einer Verwaltungsentscheidung keine Beeinträchtigung des Wesensgehalts der Verteidigungsrechte rechtfertigen. So kann nicht zugelassen werden, dass die Steuerverwaltung wegen der Bestandskraft der am Ende konnexer Verwaltungsverfahren getroffenen Entscheidungen davon freigestellt wird, dem Steuerpflichtigen die Beweise einschließlich der aus diesen Verfahren stammenden Beweise zur Kenntnis zu bringen, auf deren Grundlage sie den Erlass einer Entscheidung ihm gegenüber beabsichtigt, und dass dem Steuerpflichtigen somit das Recht genommen wird, die betreffenden Tatsachenfeststellungen und rechtlichen Wertungen in dem ihn betreffenden Verfahren wirksam in Frage zu stellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Oktober 2019, Glencore Agriculture Hungary, C-189/18, EU:C:2019:861, Rn. 47 und 49).
57 Im vorliegenden Fall wird die polnische Steuerverwaltung am Ende des Besteuerungsverfahrens das Bestehen und die Höhe der Mehrwertsteuerschuld der Gesellschaft B. feststellen, und falls diese Gesellschaft ihre Schuld nicht begleichen und deren Beitreibung erfolglos sein sollte, könnte gegenüber M. B. ein Verfahren der gesamtschuldnerischen Haftung eingeleitet werden.
58 Eine Entscheidung, mit der am Ende des letztgenannten Verfahrens die gesamtschuldnerische Haftung von M. B. für die zuvor im Besteuerungsverfahren ermittelte Steuerschuld der Gesellschaft B. festgestellt würde, würde aber M. B. beschweren.
59 Folglich verlangen in dem in der vorstehenden Randnummer genannten Fall die in Rn. 56 des vorliegenden Urteils angeführten Grundsätze, dass die polnische Steuerverwaltung die Verteidigungsrechte der Person wahrt, gegen die sich das Verfahren der gesamtschuldnerischen Haftung richtet, das im Anschluss an ein Besteuerungsverfahren eingeleitet wird, das zur Feststellung einer Steuerschuld geführt hat, die bei der mehrwertsteuerpflichtigen Person ganz oder teilweise nicht eingezogen werden konnte.
60 Wie sich jedoch aus den Rn. 18 und 23 des vorliegenden Urteils ergibt, scheint es im vorliegenden Fall nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts im Verfahren der gesamtschuldnerischen Haftung nicht möglich zu sein, die Höhe der Schuld in Frage zu stellen, da der Verfahrensgegenstand darauf beschränkt zu sein scheint, das Vorliegen der sich aus Art. 116 der Abgabenordnung ergebenden Voraussetzungen dafür zu prüfen, dass die zuvor am Ende des Besteuerungsverfahrens festgestellte Steuerschuld gegenüber einem Dritten geltend gemacht werden kann. Daher könnte ein unter solchen Bedingungen durchgeführtes Verfahren der gesamtschuldnerischen Haftung die Verteidigungsrechte dieses Dritten in ihrem Wesensgehalt antasten.
61 Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass im Stadium des gegenüber einer Gesellschaft geführten Besteuerungsverfahrens lediglich eine Möglichkeit besteht, dass später ein Verfahren der gesamtschuldnerischen Haftung gegenüber einem Dritten eingeleitet wird und dass am Ende des letzteren Verfahrens eine Entscheidung ergeht, die diesen Dritten beschwert oder seine Interessen spürbar beeinträchtigt.
62 Dagegen könnte, wenn einem Dritten das Recht auf Beteiligung am Besteuerungsverfahren gewährt würde, dies grundsätzlich die Vertraulichkeit bestimmter Informationen gefährden oder die Dauer dieses Verfahrens verlängern und damit das öffentliche Interesse an der Gewährleistung einer wirksamen Erhebung der Mehrwertsteuer beeinträchtigen.
63 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten gemäß dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Mittel einsetzen müssen, die nicht nur geeignet sind, das vom innerstaatlichen Recht verfolgte Ziel wirksam zu erreichen, sondern auch die Ziele und Grundsätze der maßgeblichen Vorschriften des Unionsrechts so wenig wie möglich beeinträchtigen. Demnach ist es zwar legitim, dass die Maßnahmen der Mitgliedstaaten darauf abzielen, die Ansprüche der Staatskasse möglichst wirksam zu schützen; sie dürfen jedoch nicht über das hinausgehen, was hierzu erforderlich ist (Urteil vom 13. Oktober 2022, Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“, C-1/21, EU:C:2022:788, Rn. 73 und die dort angeführte Rechtsprechung).
64 Einem Dritten, der für die Steuerschuld einer juristischen Person gesamtschuldnerisch haftbar gemacht werden kann, das Recht zu versagen, sich an dem gegenüber dieser Person geführten Besteuerungsverfahren zu beteiligen, geht nicht über das hinaus, was erforderlich ist, um die Ansprüche der Staatskasse möglichst wirksam zu schützen. Dagegen wäre diese Grenze überschritten, wenn der Wesensgehalt der Verteidigungsrechte dieses Dritten im Rahmen des möglicherweise ihm gegenüber eingeleiteten Verfahrens der gesamtschuldnerischen Haftung angetastet würde.
65 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit Art. 325 Abs. 1 AEUV, den Verteidigungsrechten und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung und einer nationalen Praxis, nach denen ein Dritter, der für die Steuerschuld einer juristischen Person gesamtschuldnerisch haftbar gemacht werden kann, nicht Beteiligter in dem Besteuerungsverfahren sein kann, das gegenüber dieser Person durchgeführt wird, um ihre Steuerschuld festzustellen, nicht entgegensteht, wobei es aber erforderlich ist, dass dieser Dritte in dem möglicherweise ihm gegenüber geführten Verfahren der gesamtschuldnerischen Haftung die von der Steuerverwaltung im Rahmen des Besteuerungsverfahrens getroffenen Tatsachenfeststellungen und rechtlichen Würdigungen wirksam in Frage stellen und unter Wahrung der Rechte dieser Person oder anderer Dritter Einsicht in die Akten der Steuerverwaltung erhalten kann.
Kosten
66 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.