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Steuerrecht
07.08.2015
Steuerrecht
EuGH: Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes

EuGH, Urteil vom 9.7.2015 – C-144/14, Cabinet Medical Veterinar Dr. Tomoiagă Andrei gegen Direcția Generală Regională a Finanțelor Publice Cluj Napoca prin Administrația Județeană a Finanțelor Publice Maramureș

Tenor

1. Art. 273 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2009/162/EU des Rates vom 22. Dezember 2009 geänderten Fassung verpflichtet die Mitgliedstaaten nicht, einen Steuerpflichtigen allein auf der Grundlage von Steuererklärungen – die sich nicht auf die Mehrwertsteuer beziehen, aber die Feststellung ermöglicht hätten, dass dieser Steuerpflichtige die Grenze für die Mehrwertsteuerbefreiung überschritten hat – von Amts wegen im Hinblick auf die Erhebung der Mehrwertsteuer zu registrieren.

2. Die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes verbieten es nicht, dass eine Steuerbehörde entscheidet, dass tierärztliche Leistungen unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens der Mehrwertsteuer unterliegen, wenn diese Entscheidung sich auf klare Regeln gründet und die Praxis dieser Behörde nicht geeignet war, in der Vorstellung eines umsichtigen und besonnenen Wirtschaftsteilnehmers vernünftige Erwartungen zu begründen, dass diese Steuer auf solche Leistungen nicht angewandt wird, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

Aus den Gründen

1          Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes sowie die Auslegung von Art. 273 und Art. 287 Nr. 18 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2009/162/EU des Rates vom 22. Dezember 2009 (ABl. 2010, L 10, S. 14) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2006/112).

2          Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Cabinet Medical Veterinar Dr. Tomoiagă Andrei (Tierarztpraxis Dr. Andrei Tomoiagă, im Folgenden: Tierarztpraxis) und der Direcția Generală Regională a Finanțelor Publice Cluj Napoca prin Administrația Județeană a Finanțelor Publice Maramureș (Regionale Generaldirektion für öffentliche Finanzen Cluj Napoca, vertreten durch die Kreisverwaltung für öffentliche Finanzen Maramureş, im Folgenden: Steuerbehörde) über die Zahlung von Mehrwertsteuer auf zwischen dem 1. Oktober 2007 und dem 31. Dezember 2010 erbrachte tierärztliche Behandlungen.

Rechtlicher Rahmen

Richtlinie 2006/112

3          Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2006/112 sieht vor:

„Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:

c) Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt erbringt“.

4          Art. 132 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten befreien folgende Umsätze von der Steuer:

b) Krankenhausbehandlungen und ärztliche Heilbehandlungen sowie damit eng verbundene Umsätze, …

c) Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin, die im Rahmen der Ausübung der von dem betreffenden Mitgliedstaat definierten ärztlichen und arztähnlichen Berufe durchgeführt werden;

…“

5          In Art. 213 Abs. 1 der Richtlinie heißt es:

„Jeder Steuerpflichtige hat die Aufnahme, den Wechsel und die Beendigung seiner Tätigkeit als Steuerpflichtiger anzuzeigen.

…“

6          Art. 214 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit folgende Personen jeweils eine individuelle Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer erhalten:

a) jeder Steuerpflichtige, der in ihrem jeweiligen Gebiet Lieferungen von Gegenständen bewirkt oder Dienstleistungen erbringt, für die ein Recht auf Vorsteuerabzug besteht …“

7          Art. 250 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 sieht vor:

„Jeder Steuerpflichtige hat eine Mehrwertsteuererklärung abzugeben, die alle für die Festsetzung des geschuldeten Steuerbetrags und der vorzunehmenden Vorsteuerabzüge erforderlichen Angaben enthält, gegebenenfalls einschließlich des Gesamtbetrags der für diese Steuer und Abzüge maßgeblichen Umsätze sowie des Betrags der steuerfreien Umsätze, soweit dies für die Feststellung der Steuerbemessungsgrundlage erforderlich ist.“

8          Art. 273 Abs. 1 dieser Richtlinie lautet wie folgt:

„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.“

9          Art. 287 der Richtlinie bestimmt:

„Mitgliedstaaten, die nach dem 1. Januar 1978 beigetreten sind, können Steuerpflichtigen eine Steuerbefreiung gewähren, wenn ihr Jahresumsatz den in Landeswährung ausgedrückten Gegenwert der folgenden Beträge nicht übersteigt, wobei der Umrechnungskurs am Tag des Beitritts zugrunde zu legen ist:

18. Rumänien: 35 000 [Euro].“

Rumänisches Recht

10        Art. 141 („Steuerbefreiungen für Inlandsumsätze“) des Gesetzes Nr. 571/2003 über das Steuergesetzbuch (Legea nr. 571/2003 privind Codul fiscal, Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 927 vom 23. Dezember 2003, im Folgenden: Steuergesetzbuch) sah vor:

„(1)  Die folgenden Umsätze von allgemeinem Interesse sind von der Mehrwertsteuer befreit:

a)  Krankenhausbehandlungen und ärztliche Heilbehandlungen einschließlich tierärztlicher Behandlungen sowie damit eng verbundene Umsätze …“

11        Art. 141 des Steuergesetzbuchs in der durch das am 1. Januar 2007 in Kraft getretene Gesetz Nr. 343/2006 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 662 vom 1. August 2006) geänderten Fassung bestimmt:

„(1)  Die folgenden Umsätze von allgemeinem Interesse sind von der Steuer befreit:

a)  Krankenhausbehandlungen und ärztliche Heilbehandlungen sowie damit eng verbundene Umsätze …“

12        Art. 152 des Steuergesetzbuchs in der durch das Gesetz Nr. 343/2006 geänderten Fassung sieht vor:

„(1)  Ein in Rumänien ansässiger Steuerpflichtiger, dessen angemeldeter oder tatsächlicher Jahresumsatz unter der Grenze von 35 000 Euro … liegt, kann die Befreiung von der Steuer, nachstehend als besondere Befreiungsregelung bezeichnet, für Umsätze gemäß Art. 126 Abs. 1 beantragen …

(6) Ein Steuerpflichtiger, der die besondere Befreiungsregelung in Anspruch nimmt und dessen Jahresumsatz in einem Kalenderjahr gemäß Abs. 2 die Befreiungsgrenze erreicht oder übersteigt, muss die Mehrwertsteuerregistrierung gemäß Art. 153 innerhalb von zehn Tagen nach dem Tag, an dem er diese Grenze erreicht oder überschritten hat, beantragen … Die besondere Befreiungsregelung findet gemäß Art. 153 bis zum Tag der Mehrwertsteuerregistrierung Anwendung. Beantragt der Steuerpflichtige die Registrierung nicht oder beantragt er sie verspätet, sind die zuständigen Steuerbehörden befugt, ihm die Pflicht zur Entrichtung der Steuer und die damit zusammenhängenden Nebenpflichten von dem Zeitpunkt an aufzuerlegen, zu dem er sich für die Zwecke der Mehrwertsteuer gemäß Art. 153 hätte registrieren lassen müssen.

…“

13        In Art. 153 des Steuergesetzbuchs in der durch das Gesetz Nr. 343/2006 geänderten Fassung heißt es:

„(1)  Ein Steuerpflichtiger, der … in Rumänien ansässig ist und eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt oder auszuüben beabsichtigt, die steuerbare und/oder von der Mehrwertsteuer befreite Umsätze mit Vorsteuerabzugsberechtigung umfasst, hat bei der zuständigen Steuerbehörde wie folgt einen Antrag auf Registrierung für die Zwecke der Mehrwertsteuer zu stellen:

a) vor der Ausführung eines solchen Umsatzes in den folgenden Fällen:

1.  wenn er erklärt, dass sein Gesamtumsatz die in Art. 152 Abs. 1 vorgesehene Grenze für die Steuerbefreiung nach der besonderen Befreiungsregelung für Kleinunternehmen erreichen oder überschreiten wird;

2. wenn er erklärt, dass sein Gesamtumsatz unter der in Art. 152 Abs. 1 vorgesehenen Grenze für die Steuerbefreiung liegen wird, er aber für die Anwendung der normalen Steuerregelung optiert;

(7) Wenn eine Person nach den Abs. 1, 2, 4 oder 5 verpflichtet ist, sich registrieren zu lassen, und die Registrierung nicht beantragt, registrieren die zuständigen Steuerbehörden diese Person von Amts wegen.

…“

14        Der Regierungserlass Nr. 44/2004 vom 22. Januar 2004 zur Genehmigung der Durchführungsvorschriften zum Gesetz Nr. 571/2003 über das Steuergesetzbuch (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 112 vom 6. Februar 2004) bestimmte in seiner vom 1. Januar 2007 bis zum 31. Dezember 2009 geltenden Fassung in seinem Anhang:

„Durchführungsbestimmungen:

24. Die Befreiung nach Art. 141 Abs. 1 Buchst. a des Steuergesetzbuchs:

a)  gilt für die Umsätze, die eng verbunden sind mit Krankenhausbehandlungen, ärztlichen Heilbehandlungen einschließlich der Lieferung von Arzneimitteln, Verbandsmaterial, Prothesen und dazugehörigen Teilen, orthopädischen Produkten und anderen ähnlichen Gütern für Patienten im Behandlungszeitraum sowie für die Bereitstellung von Verpflegung und Unterkunft für Patienten während der Krankenhausbehandlung und der ärztlichen Heilbehandlungen;

b) gilt nicht für die Lieferung von Arzneimitteln, Verbandsmaterial, medizinischen Prothesen und dazugehörigen Teilen, orthopädischen Produkten und anderen Gütern, die nicht im Zusammenhang mit einer ärztlichen Heilbehandlung oder einer Krankenhausbehandlung erbracht wird, z. B. durch Apotheken, auch wenn diese sich innerhalb eines Krankenhauses oder einer Klinik befinden und/oder von diesen verwaltet werden.

…“

15        Mit dem Regierungserlass Nr. 1620/2009 vom 29. Dezember 2009 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 927 vom 31. Dezember 2009) wurden die mit dem Regierungserlass Nr. 44/2004 festgelegten Durchführungsvorschriften zum Steuergesetzbuch ergänzt und geändert. Seit dem 1. Januar 2010 sehen diese Durchführungsvorschriften vor:

„Durchführungsbestimmungen:

24. (1) Die Befreiung nach Art. 141 Abs. 1 Buchst. a des Steuergesetzbuchs:

c)  gilt nicht für tierärztliche Leistungen gemäß der Entscheidung des Urteils [Kommission/Italien (122/87, EU:C:1988:256) des Gerichtshofs der Europäischen Union].

…“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

16        Infolge einer Steuerprüfung verlangte die Steuerbehörde im Mai 2011 von der Tierarztpraxis die Zahlung von Mehrwertsteuer zuzüglich Zuschlägen und Zinsen für von dieser Praxis zwischen dem 1. Oktober 2007 und dem 31. Dezember 2010 erbrachte tierärztliche Leistungen.

17        Die Tierarztpraxis focht diese Entscheidung vor dem Tribunal Maramureș (Landgericht Maramureș) mit der Begründung an, dass diese Leistungen nach rumänischem Recht bis zum 1. Januar 2010 von der Mehrwertsteuer befreit gewesen seien, bzw. insoweit zumindest Zweifel bestanden hätten, die erst durch den am 1. Januar 2010 in Kraft getretenen Regierungserlass Nr. 1620/2009 hätten geklärt werden können.

18        Die Steuerbehörde macht hingegen geltend, dass diese Steuerbefreiung bereits seit dem 1. Januar 2007 nicht mehr gegolten habe, dem Zeitpunkt, zu dem das Gesetz Nr. 343/2006 in Kraft getreten sei, mit dem tierärztliche Leistungen aus der Liste der von der Mehrwertsteuer befreiten Leistungen gestrichen worden seien. Außerdem vertritt sie die Auffassung, dass der Regierungserlass Nr. 1620/2009 jedenfalls eine höherrangige nationale Rechtsvorschrift, d. h. eine Vorschrift mit Gesetzesrang, nicht habe ändern können, und dass dieser Regierungserlass die geltende rechtliche Regelung lediglich klargestellt habe.

19        Das vorlegende Gericht fragt sich, welche Pflichten die Steuerverwaltung im Rahmen des Ausgangsverfahrens nach Art. 273 der Richtlinie 2006/112 hat, insbesondere, ob diese Vorschrift die Steuerbehörde verpflichtet, einen Steuerpflichtigen von Amts wegen von dem Zeitpunkt an mehrwertsteuerlich zu registrieren, zu dem der Betroffene Steuererklärungen eingereicht hat, aus denen sich ergibt, dass seine Einkünfte die Grenze für die Mehrwertsteuerbefreiung überschreiten.

20        Dieses Gericht möchte außerdem wissen, ob der Grundsatz der Rechtssicherheit dem entgegensteht, dass die Zahlung der Mehrwertsteuer unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens verlangt wird, bei denen die Steuerbehörde weder diese Pflicht zur Registrierung des Steuerpflichtigen zur Mehrwertsteuer von Amts wegen beachtet habe, noch in der Praxis diese Steuer im Zeitraum vom 1. Oktober 2007 bis zum 31. Dezember 2010 auf tierärztliche Leistungen angewandt habe. Des Weiteren fragt das vorlegende Gericht nach den Konsequenzen, die daraus zu ziehen sind, dass in dem genannten Zeitraum keine Veröffentlichung des Urteils Kommission/Italien (122/87, EU:C:1988:256) in rumänischer Sprache vorlag.

21        Unter diesen Umständen hat das Tribunal Maramureș beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Müssen Art. 273 und Art. 287 Nr. 18 der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem dahin ausgelegt werden, dass die nationale Steuerbehörde verpflichtet ist, einen Steuerpflichtigen wegen Überschreitung der Grenze für die Mehrwertsteuerbefreiung ab dem Zeitpunkt, zu dem er Steuererklärungen bei der zuständigen Behörde eingereicht hat, aus denen sich die Überschreitung ergibt, für die Zwecke der Mehrwertsteuer zu registrieren und ihm die Pflicht zur Entrichtung der Mehrwertsteuer und zur Erfüllung der damit zusammenhängenden Nebenpflichten aufzuerlegen?

2. Falls die erste Frage zu bejahen ist: Steht der Grundsatz der Rechtssicherheit einer nationalen Praxis entgegen, aufgrund deren die Steuerbehörde einem Steuerpflichtigen rückwirkend die Pflicht zur Entrichtung der Mehrwertsteuer auferlegt hat, weil die Erbringung tierärztlicher Leistungen nicht von der Mehrwertsteuer befreit ist und die Grenze für die Befreiung in einem Fall überschritten worden ist, in dem:

–  die Steuerbehörde den Steuerpflichtigen nicht von dem Zeitpunkt an, zu dem er Steuererklärungen eingereicht hat, aus denen sich die Überschreitung dieser Grenze ergibt, sondern erst später, nachdem die Durchführungsbestimmungen zum Steuergesetzbuch durch den Regierungserlass Nr. 1620/2009 dahin geändert worden waren, dass die in Art. 141 Abs. 1 Buchst. a des Steuergesetzbuchs vorgesehene Befreiung entsprechend dem Urteil Kommission/Italien (122/87, EU:C:1988:256) sich nicht auf tierärztliche Leistungen erstreckt, von Amts wegen für die Zwecke der Mehrwertsteuer registriert und ihm die Pflicht zur Entrichtung der Mehrwertsteuer für die Zeit vor der betreffenden Änderung auferlegt hat;

–  die Steuerbehörde vor der Änderung der Durchführungsbestimmungen zum Steuergesetzbuch durch den Regierungserlass Nr. 1620/2009 Kenntnis von der Überschreitung der Grenze für die Steuerbefreiung im oben genannten Sinne durch die vom Steuerpflichtigen eingereichten Steuererklärungen erlangt hat;

–  die Steuerbehörde vor der Veröffentlichung des Regierungserlasses Nr. 1620/2009 in ihrem Zuständigkeitsbereich – in den auch der Steuerpflichtige des Ausgangsverfahrens fällt – keine Steuerverwaltungsakte erlassen hat, mit denen sie festgestellt hat, dass steuerpflichtige Tierarztpraxen sich bei Überschreitung der Grenze für die Befreiung von der Entrichtung der Mehrwertsteuer nicht für die Zwecke der Mehrwertsteuer haben registrieren lassen, und ihnen folglich die Pflicht zur Entrichtung dieser Steuer auferlegt hat;

–  für die Zeit vor der Annahme und des Inkrafttretens des Regierungserlasses Nr. 1620/2009 das Urteil Kommission/Italien (122/87, EU:C:1988:256) nicht in der rumänischen Sprachfassung veröffentlicht worden ist?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

22        Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 273 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 die Mitgliedstaaten verpflichtet, einen Steuerpflichtigen allein auf der Grundlage von Steuererklärungen – die sich nicht auf die Mehrwertsteuer beziehen, aber die Feststellung ermöglicht hätten, dass dieser Steuerpflichtige die Grenze für die Mehrwertsteuerbefreiung überschritten hat – von Amts wegen im Hinblick auf die Erhebung der Mehrwertsteuer zu registrieren.

23        Es ist zum einen darauf hinzuweisen, dass Rumänien gemäß Art. 287 Nr. 18 der Richtlinie 2006/112, auf den das vorlegende Gericht in seiner ersten Frage Bezug nimmt, berechtigt ist, Steuerpflichtigen, deren Jahresumsatz 35 000 Euro nicht übersteigt, eine Mehrwertsteuerbefreiung zu gewähren.

24        Zum anderen stellt Art. 273 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 klar, dass die Mitgliedstaaten vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen können, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.

25        Der Gerichtshof hat klargestellt, dass aus dieser Vorschrift sowie aus Art. 2 und Art. 250 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 und Art. 4 Abs. 3 EUV hervorgeht, dass jeder Mitgliedstaat verpflichtet ist, alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten in seinem Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten und den Betrug zu bekämpfen (vgl. in diesem Sinne Urteile Kommission/Italien, C132/06, EU:C:2008:412, Rn. 37 und 46, sowie Åkerberg Fransson, C617/10, EU:C:2013:105, Rn. 25).

26        Daraus folgt u. a., dass die Mitgliedstaaten die Erklärungen der Steuerpflichtigen, deren Konten und die anderen einschlägigen Unterlagen prüfen und die geschuldete Steuer berechnen und einziehen müssen (vgl. Urteile Kommission/Italien, C132/06, EU:C:2008:412, Rn. 37, Profaktor Kulesza, Frankowski, Jóźwiak, Orłowski, C188/09, EU:C:2010:454, Rn. 21, und Enel Maritsa Iztok 3, C107/10, EU:C:2011:298, Rn. 52).

27        Aus diesen Erwägungen lässt sich jedoch nicht ableiten, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet wären, einen Steuerpflichtigen allein auf der Grundlage von Steuererklärungen – die sich nicht auf die Mehrwertsteuer beziehen, aber die Feststellung ermöglicht hätten, dass die Grenze für die Mehrwertsteuerbefreiung überschritten wurde – von Amts wegen mehrwertsteuerlich zu registrieren.

28        Erstens sieht zwar Art. 214 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 vor, dass die Mitgliedstaaten die zur Registrierung der Mehrwertsteuerpflichtigen erforderlichen Maßnahmen treffen, jedoch obliegt es nach Art. 213 Abs. 1 dieser Richtlinie dem Betroffenen, die Aufnahme, den Wechsel und die Beendigung seiner Tätigkeit als Steuerpflichtiger anzuzeigen. Der Gerichtshof hat außerdem festgestellt, dass sich aus dem Wortlaut von Art. 214 Abs. 1 der genannten Richtlinie ergibt, dass die Mitgliedstaaten über einen gewissen Gestaltungsspielraum verfügen, wenn sie Maßnahmen erlassen, um die Registrierung der Steuerpflichtigen für die Zwecke der Mehrwertsteuer sicherzustellen (vgl. Urteil Ablessio, C527/11, EU:C:2013:168, Rn. 22).

29        Zweitens sind die Mitgliedstaaten gehalten, die Beachtung der Verpflichtungen sicherzustellen, denen die Steuerpflichtigen unterliegen, wobei sie insoweit insbesondere hinsichtlich der Art des Einsatzes der ihnen zu Gebote stehenden Mittel über einen gewissen Spielraum verfügen (vgl. Urteile Kommission/Italien, C132/06, EU:C:2008:412, Rn. 38, und Profaktor Kulesza, Frankowski, Jóźwiak, Orłowski, C188/09, EU:C:2010:454, Rn. 22), vorbehaltlich dessen, dass sie eine wirksame Erhebung der Eigenmittel der Europäischen Union garantieren und bei der Behandlung der Steuerpflichtigen keine bedeutsamen Unterschiede schaffen, und zwar weder innerhalb eines der Mitgliedstaaten noch in den Mitgliedstaaten insgesamt (Urteil Kommission/Italien, C132/06, EU:C:2008:412, Rn. 39).

30        Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die Richtlinie 2006/112 zwar von den Mitgliedstaaten verlangt, dass sie alle Maßnahmen treffen, die erforderlich sind, um eine mehrwertsteuerpflichtige Person – gegebenenfalls von Amts wegen – zu registrieren, sie aber nicht verpflichtet, Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die gewährleisten könnten, dass bei der Verwaltung von Steuererklärungen, die nicht die Mehrwertsteuer betreffen, zugleich die Erfüllung der mehrwertsteuerlichen Pflichten des Steuerpflichtigen überprüft wird, da solche Erklärungen nicht zwingend sämtliche Angaben enthalten, die im Rahmen einer Mehrwertsteuererklärung nach Art. 250 Abs. 1 der Richtlinie gemacht werden könnten und zur Festsetzung dieser Steuer notwendig wären.

31        Unter diesen Umständen ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 273 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet, einen Steuerpflichtigen allein auf der Grundlage von Steuererklärungen – die sich nicht auf die Mehrwertsteuer beziehen, aber die Feststellung ermöglicht hätten, dass dieser Steuerpflichtige die Grenze für die Mehrwertsteuerbefreiung überschritten hat – von Amts wegen im Hinblick auf die Erhebung der Mehrwertsteuer zu registrieren.

Zur zweiten Frage

32        Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes es verbieten, dass eine nationale Steuerbehörde entscheidet, dass tierärztliche Leistungen unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens der Mehrwertsteuer unterliegen.

33        Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs müssen die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes von den Unionsorganen, aber auch von den Mitgliedstaaten bei der Ausübung der Befugnisse, die ihnen die Unionsrichtlinien einräumen, beachtet werden (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile Gemeente Leusden und Holin Groep, C487/01 und C7/02, EU:C:2004:263, Rn. 57, „Goed Wonen“, C376/02, EU:C:2005:251, Rn. 32, und Elmeka NE, C181/04 bis C183/04, EU:C:2006:563, Rn. 31).

34        Was erstens den Grundsatz der Rechtssicherheit anbelangt, ergibt sich daraus, wie der Gerichtshof wiederholt entschieden hat, u. a., dass die Vorschriften des Unionsrechts eindeutig sein müssen, und ihre Anwendung für die Betroffenen vorhersehbar sein muss, wobei dieses Gebot der Rechtssicherheit in besonderem Maß gilt, wenn es sich um Vorschriften handelt, die finanzielle Konsequenzen haben können, denn die Betroffenen müssen in der Lage sein, den Umfang der ihnen durch diese Vorschriften auferlegten Verpflichtungen genau zu erkennen (Urteil Irland/Kommission, 325/85, EU:C:1987:546, Rn. 18).

35        Ebenso müssen die Rechtsnormen der Mitgliedstaaten auf den vom Unionsrecht erfassten Gebieten eindeutig formuliert sein, so dass den betroffenen Personen die klare und genaue Kenntnis ihrer Rechte und Pflichten ermöglicht wird, und die innerstaatlichen Gerichte in die Lage versetzt werden, deren Einhaltung sicherzustellen (vgl. Urteil Kommission/Italien, 257/86, EU:C:1988:324, Rn. 12).

36        Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass der rumänische Gesetzgeber tierärztliche Behandlungen ab dem Zeitpunkt des Beitritts Rumäniens zur Union am 1. Januar 2007 aus der Liste der von der Mehrwertsteuer befreiten Umsätze gestrichen hat, wobei er insoweit die Notwendigkeit anführte, die Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht zu gewährleisten.

37        Vor diesem Hintergrund ist auch unabhängig vom Fehlen einer Veröffentlichung in rumänischer Sprache des Urteils Kommission/Italien (122/87, EU:C:1988:256), in dem die Anwendung dieser Steuer auf tierärztliche Behandlungen erwähnt wird, davon auszugehen, dass eine rechtliche Regelung wie die oben beschriebene hinsichtlich der Anwendung der Mehrwertsteuer auf diese Leistungen in dem für den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens maßgeblichen Zeitraum hinreichend klar und vorhersehbar erscheint, was zu prüfen jedoch Sache des vorlegenden Gerichts ist.

38        Hierzu ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass die Mehrwertsteuer allgemein Anwendung findet, und dass nur die Umsätze nicht in ihren Anwendungsbereich fallen, die ausdrücklich von ihr befreit sind. Daraus folgt, dass die Streichung eines Umsatzes aus der Liste der befreiten Umsätze für sich genommen unter dem Aspekt der Rechtssicherheit genügt, damit dieser Umsatz zu den steuerbaren Umsätzen zählt.

39        Aus dem Grundsatz der Rechtssicherheit folgt zwar auch, dass die steuerliche Lage des Steuerpflichtigen nicht unbegrenzt offen bleiben kann (vgl. in diesem Sinne Urteil Fatorie, C424/12, EU:C:2014:50, Rn. 46).

40        Jedoch hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit einer Praxis der nationalen Steuerbehörden, wonach diese eine Entscheidung, mit der sie das Recht eines Steuerpflichtigen auf Abzug der Mehrwertsteuer anerkannt haben, innerhalb der Ausschlussfrist zurücknehmen und im Anschluss an eine erneute Prüfung die Zahlung dieser Steuer nebst Verzugszinsen von ihm fordern, nicht entgegensteht (vgl. in diesem Sinne Urteil Fatorie, C424/12, EU:C:2014:50, Rn. 51).

41        Der Umstand allein, dass die Steuerbehörde einen bestimmten Umsatz innerhalb der Verjährungsfrist als eine der Mehrwertsteuer unterliegende wirtschaftliche Tätigkeit umqualifiziert, kann daher für sich genommen und bei Fehlen weiterer Umstände keinen Verstoß gegen diesen Grundsatz begründen.

42        Daher kann nicht mit Erfolg geltend gemacht werden, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit es unter Umständen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden verbiete, dass die Steuerbehörde innerhalb der Verjährungsfrist Mehrwertsteuer für bereits erbrachte tierärztliche Leistungen, die dieser Steuer hätten unterworfen werden müssen, nacherhebt.

43        Was zweitens den Grundsatz des Vertrauensschutzes anbelangt, kann sich jeder auf diesen Grundsatz berufen, bei dem eine Verwaltungsbehörde aufgrund bestimmter Zusicherungen, die sie ihm gegeben hat, begründete Erwartungen geweckt hat (vgl. in diesem Sinne Urteil Europäisch-Iranische Handelsbank/Rat, C585/13 P, EU:C:2015:145, Rn. 95).

44        Insoweit ist zu prüfen, ob die Handlungen einer Verwaltungsbehörde in der Vorstellung eines umsichtigen und besonnenen Wirtschaftsteilnehmers vernünftige Erwartungen begründet haben und, wenn dies der Fall ist, ob diese Erwartungen berechtigt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil Elmeka, C181/04 bis C183/04, EU:C:2006:563, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

45        Aus der dem Gerichtshof vorgelegten Akte geht jedoch hervor, dass die Verwaltungspraxis der nationalen Steuerbehörden, was die Mehrwertsteuerpflicht von Tierärzten anbelangt, für den Nachweis, dass diese Voraussetzungen im Ausgangsverfahren erfüllt sind, offenbar nicht geeignet ist.

46        Insbesondere kann der Umstand, dass die nationalen Steuerbehörden tierärztliche Leistungen in dem für den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens maßgeblichen Zeitraum offenbar nicht systematisch der Mehrwertsteuer unterworfen haben – was die rumänische Regierung im Übrigen in Abrede stellt –, abgesehen von ganz außergewöhnlichen Umständen nicht von vornherein genügen, um in der Vorstellung eines durchschnittlich umsichtigen und besonnenen Wirtschaftsteilnehmers vernünftige Erwartungen zu begründen, dass diese Steuer auf solche Leistungen nicht angewandt wird, wenn diese Steuer wie oben erwähnt allgemein Anwendung findet, und tierärztliche Leistungen zum 1. Januar 2007 aus der Liste der steuerbefreiten Umsätze gestrichen worden waren.

47        Eine solche Praxis, so bedauerlich sie auch sein mag, kann nämlich für sich allein nicht so angesehen werden, als sei sie geeignet, den betroffenen Steuerpflichtigen bestimmte dahin gehende Zusicherungen zu geben.

48        Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes es nicht verbieten, dass eine nationale Steuerbehörde entscheidet, dass tierärztliche Leistungen unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens der Mehrwertsteuer unterliegen, wenn diese Entscheidung sich auf klare Regeln gründet und die Praxis dieser Behörde nicht geeignet war, in der Vorstellung eines umsichtigen und besonnenen Wirtschaftsteilnehmers vernünftige Erwartungen zu begründen, dass diese Steuer auf solche Leistungen nicht angewandt wird, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

Kosten

49        Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

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