OVG Schleswig-Holstein: Gewerbesteuer; Auswahlermessen bei mehreren Haftungsschuldnern; Begründungsmängel
OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 23.4.2025 – 6 LA 4/24
ECLI:DE:OVGSH:2025:0423.6LA4.24.00
Volltext:BB-ONLINE BBL2025-1301-3
Amtliche Leitsätze
1. Die verfahrensrechtlich gebotene Begründung von Ermessensentscheidungen in schriftlichen Verwaltungsakten dient dem Zweck, durch Verfahren einen Schutz des Grundrechts auf rechtliches Gehör und effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten. Fehlt es daran, kann dies regelmäßig als Indiz für einen Ermessensausfall gewertet werden.
2. Die Annahme einer ermessensfehlerfreien Entscheidung trotz fehlender Begründung kommt nur in strengen Ausnahmefällen in Betracht, wenn eindeutige und zweifelsfreie Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Behörde das ihr zustehende Ermessen bei Erlass des Verwaltungsakts rechtsfehlerfrei und in objektivierbarer Weise ausgeübt hat.
3. Eine Ergänzung von Ermessenserwägungen im Sinne des § 114 Satz 2 VwGO muss, in einer genügend bestimmten Weise erfolgen. Die Behörde muss unmissverständlich deutlich machen, dass es sich nicht nur um prozessuales Verteidigungsvorbringen handelt, sondern um eine Änderung des im Streit stehenden Verwaltungsakts. Dabei muss deutlich werden, welche der bisherigen Erwägungen weiterhin aufrechterhalten und welche durch die neuen Erwägungen gegenstandslos werden sollen.
Sachverhalt
Mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts verteidigt die Beklagte die Inanspruchnahme des Klägers für rückständige Gewerbesteuern und Nebenforderungen der … GmbH im Wege eines Haftungsbescheides vom 24. August 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. März 2019 für die Steuerjahre 2013 und 2014. Nomineller Geschäftsführer der GmbH war zunächst – von 2005 bis 2009 – der Vater des Klägers …, sodann – bis Januar 2013 – ein Herr … und anschließend der im Jahre 1994 geborene Kläger von Januar 2013 bis März 2015. Am 31. Mai 2015 wurde die GmbH abgemeldet.
Das Verwaltungsgericht hat den auf § 191 Abs. 1 Satz 1 AO i. V. m. §§ 69, 34 AO gestützten Haftungsbescheid vom 24. August 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. März 2019, ursprünglich bezogen auf die Steuerjahre 2008 bis 2014 über eine Gesamtforderung von 145.580,50 Euro, als rechtswidrig aufgehoben. Während für die Jahre 2008 bis 2012 die Festsetzungsverjährung greife, mangele es hinsichtlich der Haftung des Klägers für die Jahre 2013 und 2014 auf der Rechtsfolgenseite an einer fehlerfreien Ermessensausübung. Das Gericht hat sich insoweit den Ausführungen des 2. Senats des Oberverwaltungsgerichts in dessen Beschluss über die Beschwerde im vorläufigen Rechtsschutzverfahren (Beschl. v. 18.09.2019 – 2 MB 5/19 –, juris) angeschlossen. Zu einer ermessensfehlerfreien Auswahlentscheidung gehöre, dass sich die Behörde ein zutreffendes Bild darüber verschaffe, wer für die betreffenden Abgaben aus welchen Rechtsgründen hafte. Der Haftungsbescheid müsse die bei der Ausübung des Verwaltungsermessens angestellten Erwägungen – die Abwägung des Für und Wider der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners – erkennen lassen. Die Behörde müsse insbesondere zum Ausdruck bringen, warum sie den Haftungsschuldner anstatt des Steuerschuldners oder anstelle anderer ebenfalls für die Haftung in Betracht kommender Personen in Anspruch nehme. Dabei seien sämtliche Personen einzubeziehen, die nach den von § 191 Abs. 1 AO umfassten Haftungsvorschriften für dieselben Steuern haften. Entbehrlich könne eine besondere Begründung des Auswahlermessens dann sein, wenn andere Personen als der in Anspruch genommene als Haftungsschuldner nicht in Betracht kämen. Diese Einschränkung der Begründungspflicht gelte jedoch nur dann, wenn erkennbar sei, dass die Behörde eine entsprechende Ermessensentscheidung getroffen habe. Daran fehle es hinsichtlich der Haftungsinanspruchnahme des Vaters des Klägers. Über seine Inanspruchnahme als nomineller Geschäftsführer nach § 69 i. V. m. § 34 AO hinaus sei auch denkbar gewesen, ihn als faktischen Geschäftsführer nach § 69 i. V. m. § 35 AO (Pflichten des Verfügungsberechtigten) oder als Steuerhinterzieher gemäß § 191 i. V. m. § 71 AO in Anspruch zu nehmen. Diese Möglichkeiten seien der Beklagten auch bekannt gewesen. Dennoch habe sie den Bescheid ausdrücklich auf §§ 69, 34 AO gestützt und nicht auf anderweitige Haftungsnormen wie § 35 AO oder § 71 AO. In der maßgeblichen Begründung des Bescheides fehle jegliche Aussage dazu, dass aus Sicht der Beklagten eine mögliche Inanspruchnahme des Vaters unter Berücksichtigung weiterer Haftungstatbestände in Betracht gezogen worden wäre. Schließlich könne die Beklagte mit ihren Argumenten zum Auswahlermessen und der Haftung des Vaters unter dem Gesichtspunkt „Vertretungsberechtigung“ und „Steuerhinterziehung“ im Rahmen des Klagverfahrens kein relevantes Gehör mehr finden. Da der Bescheid sich dazu nicht verhalte, handele es sich insoweit nicht um nach § 114 Satz 2 VwGO mögliche Ergänzungen, sondern um eine erstmalig dargelegte Begründung, die ggf. in einem neuen behördlichen Verfahren angeführt werden könne.
Gegen das ihr am 2. April 2020 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 27. April 2020 Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt und diesen am 13. Mai 2020 begründet.
Aus den Gründen
II. Der inhaltlich auf die Steuerjahre 2013 und 2014 beschränkte Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung ist zulässig, aber unbegründet. Die geltend gemachten Zulassungsgründe der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, dazu 1.), der besonderen tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO, dazu 2.) und der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, dazu 3.) liegen nicht vor; ihr Vorliegen ist jedenfalls nicht hinreichend dargelegt (§ 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO).
1. Die erfolgreiche Geltendmachung ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) erfordert die Darlegung, dass ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten zumindest insoweit infrage gestellt werden, dass der Erfolg des Rechtsmittels bei der im Zulassungsverfahren allein möglichen summarischen Überprüfung ebenso wahrscheinlich ist wie der Misserfolg. Nicht ausreichend ist allerdings die mit der Begründung eines Rechtsmittels notwendig verbundene Kritik an der erstinstanzlichen Entscheidung. Erforderlich ist vielmehr, dass sich der Antragsteller mit den Gründen der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzt und im Einzelnen substantiiert ausführt, welche Erwägungen er für unzutreffend hält und aus welchen Gesichtspunkten sich die Unrichtigkeit dieser Erwägungen ergibt. Es ist darzulegen, dass und aus welchen Gründen das verwaltungsgerichtliche Urteil auf diesen – vorliegend aus Sicht der Beklagten fehlerhaften – Erwägungen beruht (Beschl. d. Senats v. 14.03.2024 – 6 LA 35/24 –, juris Rn. 6 f. m.w.N.). Diesen Anforderungen wird das Zulassungsvorbringen nicht gerecht. Insbesondere genügt die bloße Wiederholung erstinstanzlichen Vorbringens ebenso wenig wie die schlichte Darstellung der eigenen Rechtsauffassung; die gebotene Durchdringung und Aufbereitung des Streitstoffes (OVG Schleswig, Beschl. v. 02.10.2020 – 4 LA 141/18 –, juris Rn. 24) wird damit nicht geleistet. Das Vorbringen der Beklagten bleibt weitgehend unsubstantiiert und in sich widersprüchlich.
a. Die Beklagte macht zunächst geltend, ermessensfehlerfrei gehandelt zu haben. Dabei wendet sie sich allerdings nicht gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass Ausgangspunkt für die Prüfung des behördlicherseits ausgeübten Ermessens nach § 114 Satz 1 VwGO die im Haftungs- und Widerspruchsbescheid mitgeteilten Gründe sind.
aa. Soweit die Beklagte zur Begründung eines ermessensfehlerfreien Handelns die aus ihrer Sicht „essentiellen Erwägungen“ zum Ermessen im Haftungsbescheid (S. 2) und im Widerspruchsbescheid (S. 7) wiederholt und damit eine anderslautende Rechtsauffassung kundtut, begründet dies allein noch keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils. Diese ergeben sich insbesondere nicht aus der Angabe im Haftungsbescheid, „alle in Betracht kommenden Gesichtspunkte“ abgewogen zu haben. Denn die vom Verwaltungsgericht – und vom Oberverwaltungsgericht im Beschwerdeverfahren (Beschl. v. 18.09.2019 – 2 MB 5/19 –, juris Rn. 16) – vermissten Erwägungen, ob der Vater des Klägers auch als faktischer Geschäftsführer nach § 69 i. V. m. § 35 AO oder als Steuerhinterzieher gemäß § 191 i. V. m. § 71 AO in Anspruch genommen werden kann, ergeben sich nicht allein aus der aufgestellten Behauptung, „alle in Betracht kommenden Gesichtspunkte“ abgewogen zu haben, wenn sich weder im Haftungsbescheid noch im Widerspruchsbescheid Ausführungen zu diesen zusätzlichen Haftungsmöglichkeiten finden. Zudem bestreitet die Beklagte nicht, den Vater des Klägers mit dem an ihn gerichteten Haftungsbescheid vom 22. August 2018 (BA L Bl. 254) in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. März 2019 (BA L Bl. 316) tatsächlich nur gemäß § 69 i. V. m. § 34 AO herangezogen zu haben.
bb. Die Beklagte scheint außerdem daran festzuhalten, dass sie keine weiteren Ermessenserwägungen habe anstellen müssen, d.h. ihre Ermessensausübung vollständig und damit fehlerfrei sei. Diese Auffassung begründet sie mit der Erwägung, eine weitergehende Inanspruchnahme des Vaters des Klägers wäre nicht nur „höchst unklug und nicht taktisch“, sondern ermessensfehlerhaft gewesen, da die Beklagte ihre Ermessensentscheidung an der Beweis- und Darlegungslast zu orientieren habe und eine faktische Geschäftsführertätigkeit nicht bewiesen, sondern nur anhand von Indizien zu vermuten gewesen sei. Diese Begründung geht jedoch an der vom Verwaltungsgericht geübten Kritik vorbei. Nunmehr begründet die Beklagte nämlich, warum sie nicht statt des Klägers Herrn … über § 69 i.V.m. § 35 oder § 71 AO in Anspruch nimmt, d.h. sie rechtfertigt im Nachhinein das Ergebnis ihrer Ermessensausübung. Dieses Ergebnis hat das Verwaltungsgericht jedoch nicht kritisiert.
cc. Vielmehr stützt sich das Urteil des Verwaltungsgerichts auf den Umstand, dass die Beklagte auf die Möglichkeit einer weiteren Haftung des Vaters des Klägers nicht bereits im Rahmen der im streitbefangenen Bescheid dargestellten Ermessensausübung eingegangen ist, obwohl ihr diese Möglichkeit bei Erlass des streitgegenständlichen Bescheides bekannt war und sie sie nicht von vornherein ausschließen konnte. Stattdessen habe sie allein die Haftung aus nomineller Geschäftsführertätigkeit nach §§ 69, 34 AO thematisiert und das Auswahlermessen allein hierzu verschriftlicht. Damit habe gerade jegliche Aussage dazu gefehlt, dass aus Sicht der Beklagten eine mögliche Inanspruchnahme des Vaters unter Berücksichtigung weiterer Haftungstatbestände überhaupt in Betracht gezogen wurde. Die Beklagte hätte nach Auffassung des Verwaltungsgerichts genau diejenigen Erwägungen, die sie nunmehr zur Begründung dafür vorbringt, dass kein Ermessensfehler vorliege, nicht nur intern und im Vorfeld ihrer Entscheidung anstellen, sondern im Haftungsbescheid selbst niederlegen müssen.
Diese Forderung ist weder praxisfremd noch unklug oder „nicht taktisch“. Sie dient insbesondere dem in der formellen Begründungspflicht (§ 39 Abs. 1 Satz 3 VwVfG, § 109 Abs. 1 Satz 3 LVwG) zum Ausdruck kommenden Gebot, die (wirklich) tragenden Gründe mitzuteilen, die die Beklagte zu ihrer Entscheidung bewogen haben. Dieses Gebot ist Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips und dient dem Zweck, durch Verfahren einen Schutz des Grundrechts auf rechtliches Gehör und effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten (vgl. nur Schuler-Harms, in: Schoch/Schneider, VwVfG, 5. EL Juli 2024, § 39 Rn. 13 m.w.N.). Da die Gerichte bei der nach § 114 Satz 1 VwGO vorzunehmende Prüfung nur die Erwägungen berücksichtigten dürfen, die die Behörde tatsächlich angestellt hat (vgl. BVerwG, Urt. v. 11.05.2016 – 10 C 8.15 –, juris Rn. 13; Riese, in: Schoch/Schneider, 46. EL August 2024, VwGO, § 114 Rn. 49), wirkt sich das formelle Begründungserfordernis auch materiell-rechtlich aus. Fehlt es an einer Begründung der Ermessensentscheidung im Sinne von § 39 Abs. 1 Satz 3 VwVfG bzw. § 109 Abs. 1 Satz 3 LVwG, kann dies regelmäßig als Indiz für einen Ermessensausfall gewertet werden (vgl. OVG Bautzen, Urt. v. 10.11.2016 – 3 A 318/16 –, juris Rn. 42 m.w.N.; Riese, in: Schoch/Schneider, VwGO, 44. EL August 2024, § 114 Rn. 60). Nur wenn eindeutige Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Behörde das ihr zustehende Ermessen bei Erlass des Verwaltungsakts tatsächlich wie behauptet ausgeübt hat, mag ausnahmsweise von einer ermessensfehlerfreien Entscheidung auch dann ausgegangen werden können, wenn die mitgeteilten Gründe fehlen oder unvollständig sind (zum vollständigen Fehlen der Begründung der Ermessensentscheidung vgl. VGH München, Beschl. v. 15.02.2019 – 8 CS 18.2364 –, juris Rn. 32; OVG Münster, Beschl. v. 20.01.2018 – 9 B 1540/17 –, juris Rn. 37; OVG Schleswig, Beschl. v. 24.03.2021 – 1 MB 6/21 – n.v., S. 27 ff.; Riese, in: Schoch/Schneider, VwGO, 46. EL Juli 2024, § 114 Rn. 256; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 10. Aufl. 2023, § 40 Rn. 80). Vor dem Hintergrund des Art. 19 Abs. 4 GG ist allerdings eine strenge Handhabung solcher Ausnahmefälle erforderlich, da das Gericht in der Lage sein muss, die Ordnungsgemäßheit der Ermessensbetätigung zu überprüfen. Entsprechende Anhaltspunkte, beispielsweise in den Behördenakten, müssen zweifelsfrei zu erkennen geben, ob eine rechtsfehlerfreie Ermessensausübung in objektivierbarer Weise stattgefunden hat (vgl. VGH München, Beschl. v. 15.02.2019 – 8 CS 18.2364 –, juris Rn. 32 ff.). Dass dies hier der Fall ist, zeigt die Beklagte im Zulassungsverfahren nicht auf. Es fehlen Darlegungen, denen sich mit der gebotenen Deutlichkeit entnehmen ließe, dass die Beklagte vor Erlasse des Bescheides die vom Verwaltungsgericht vermissten Erwägungen angestellt hat.
Dies erklärt im Übrigen zugleich, warum das Verwaltungsgericht auf die Ausführungen im erstinstanzlichen Schriftsatz vom 13. Dezember 2019, in welchem nach Ergehen des Beschlusses des 2. Senats des Oberverwaltungsgerichts vom 18. September 2019 Stellung genommen wird, nicht näher eingegangen und vor allem, warum es dem angebotenen Zeugenbeweis nicht nachgegangen ist. Auf intern angestellte Ermessenserwägungen, die keinen Niederschlag im angefochtenen Haftungsbescheid gefunden haben und die sich auch nicht aus anderen Unterlagen hinreichend konkret ergeben, kam es nicht an.
b. Die Beklagte meint zudem, dass sie ihre Ermessenserwägungen gemäß § 114 Satz 2 VwGO im verwaltungsgerichtlichen Verfahren noch habe ergänzen können, weil entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts kein Fall vorliege, in welchem das Ermessen noch gar nicht ausgeübt oder wesentliche Teile der Ermessenserwägungen ausgetauscht oder erst nachträglich nachgeschoben worden seien. Dies widerspricht allerdings ihrer soeben unter a. behandelten Argumentation, ihr Ermessen umfassend und fehlerfrei ausgeübt zu haben. Dessen ungeachtet begründet das Vorbringen zur möglichen Ergänzung der Ermessenserwägungen gemäß § 114 Satz 2 VwGO im Ergebnis keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils, wobei es auf die weitergehende, ebenfalls von der Beklagten kritisierte Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass es sich nicht um eine Ergänzung, sondern um ein unzulässiges Nachschieben handelt, weil das Ermessen zu einem wesentlichen Punkt noch gar nicht ausgeübt worden war, nicht mehr ankommt.
aa. Die Beklagte bezieht sich insoweit offenbar auf die Ausführungen im erstinstanzlichen Schriftsatz vom 13. Dezember 2019, der als Reaktion auf den Beschluss des 2. Senats des Oberverwaltungsgerichts vom 18. September 2019 erfolgte. Dies wird auch durch die an späterer Stelle der Begründung erfolgende hilfsweise Argumentation deutlich. Die Ausführungen im Schriftsatz vom 13. Dezember 2019 waren indes nicht als nachgeschobene Ergänzung der Ermessenserwägungen zu verstehen.
Zutreffend weist die Beklagte darauf hin, dass neue Gründe für einen Verwaltungsakt – nach Maßgabe des materiellen und des Verwaltungsverfahrensrechts – (nur dann) nachgeschoben werden dürfen, wenn sie schon bei Erlass des Verwaltungsaktes vorlagen, dieser dadurch nicht in seinem Wesen verändert und der Betroffene nicht in seiner Rechtsverteidigung beeinträchtigt wird (vgl. BVerwG, Beschl. v. 15.05.2014 – 9 B 57.13 –, juris Rn. 11, Urt. v. 20.06.2013 – 8 C 46.12 –, juris Rn. 32, Urt. v. 16.06.1997 – 3 C 22.96 –, juris Rn. 19). Hierauf kommt es jedoch nicht allein an. Denn eine Ergänzung von Ermessenserwägungen muss, gerade wenn sie im laufenden Verwaltungsprozess vorgenommen wird, allem voran in einer genügend bestimmten Weise im Sinne des § 37 Abs. 1 VwVfG bzw. § 108 Abs. 1 LVwG erfolgen. Dieses Erfordernis ist auch bei der Änderung eines Verwaltungsaktes einschließlich seiner Begründung zu beachten. Die Behörde muss unmissverständlich deutlich machen, dass es sich nicht nur um prozessuales Verteidigungsvorbringen handelt, sondern um eine Änderung des Verwaltungsakts selbst (BVerwG, Urt. v. 24.02.2021 – 8 C 25.19 –, juris Rn. 14, OVG Schleswig, Urt. v. 19.06.2024 – 4 LB 31/23 –, juris Rn. 119; Wolff, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 114 Rn. 207). Außerdem muss deutlich werden, welche der bisherigen Erwägungen weiterhin aufrechterhalten und welche durch die neuen Erwägungen gegenstandslos werden sollen. Andernfalls wäre dem Betroffenen keine sachgemäße Rechtsverteidigung möglich. Das wiederum wäre mit der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG nicht zu vereinbaren (BVerwG, Beschl. v. 15.05.2014 – 9 B 57.13 –, juris Rn. 11, Urt. v. 20.06.2013 – 8 C 46.12 –, juris Rn. 35).
Diesen Anforderungen wird der Inhalt des Schriftsatzes vom 13. Dezember 2019 nicht gerecht. Denn er geht über ein prozessuales Verteidigungsvorbringen nicht hinaus. Die Beklagte hat darin zum Verfahren Stellung genommen. Dabei werden die Ermessenserwägungen aus dem angefochtenen Bescheid weder ausdrücklich noch inhaltlich ergänzt. Es wird vielmehr – wie später in der Begründung des Zulassungsantrages (dazu unter a.bb.) – erläutert, warum keine weiteren Ermessenserwägungen anzustellen gewesen seien.
bb. Denkbar wäre darüber hinaus, dass eine ausdrückliche „Ergänzung“ noch in der mündlichen Verhandlung des Verwaltungsgerichts vom 26. Februar 2020 erfolgt ist; dergleichen ergibt sich aber weder aus dem Sitzungsprotokoll noch aus der Begründung des Zulassungsantrages.
cc. Soweit die Beklagte in der Begründung ihres Zulassungsantrages zur Auswahl der Haftungsschuldner und des Haftungsumfangs „nunmehr weiter ausführt“, gilt nichts anderes. Es wird wiederum nicht deutlich, ob dies nur als Hinweis auf den Inhalt des erstinstanzlichen Schriftsatzes vom 13. Dezember 2019 gemeint ist oder ob „nunmehr“ im Zulassungsverfahren ein neuerlicher Versuch der nachträglichen Ergänzung des angefochtenen Haftungsbescheides erfolgen soll. Jedenfalls lassen auch diese Ausführungen nicht in der gebotenen Bestimmtheit („unmissverständlich“) erkennen, dass der angefochtene Haftungsbescheid dadurch nachträglich geändert werden soll. Vielmehr werden nur die materiell- und verwaltungsverfahrensrechtlichen Vorgaben für ein Nachschieben von Gründen „abgearbeitet“.
dd. Ebenso ohne Erfolg rügt die Beklagte, das Verwaltungsgericht habe das Nachschieben von Gründen nicht von Amts wegen geprüft. Denn eine Prüfung von Amts wegen, d.h. ohne dass eine beabsichtigte nachträgliche Ergänzung der Begründung des Bescheides unmissverständlich erklärt wird, kommt nach den soeben getroffenen Feststellungen nicht in Betracht.
c. Dass es vonseiten des Verwaltungsgerichts zudem im Ergebnis fehlerhaft gewesen wäre, „nur pauschal“ auszuführen, dass die Beklagte mit ihren Argumenten zum Auswahlermessen und der Haftung des Vaters unter dem Gesichtspunkt „Vertretungsberechtigung“ und „Steuerhinterziehung“ im Rahmen des Klageverfahrens kein relevantes Gehör mehr finden könne, ergibt sich nicht. Es ist bereits unklar, auf welches Element der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung die Beklagte mit dieser Kritik abhebt. Vor allem aber ist nicht ersichtlich, dass sich das Verwaltungsgericht mit Erwägungen der Beklagten zur Haftung des Vaters unter dem Gesichtspunkt „Vertretungsberechtigung“ und „Steuerhinterziehung“ hätte befassen müssen. Denn nach dessen Auffassung waren diese Erwägungen mangels entsprechender Dokumentation in der Begründung des Haftungsbescheides nicht Teil der vor Erlass des Bescheides vorzunehmenden Ermessensentscheidung geworden (dazu unter a.cc.). Von diesem Ermessensfehler ausgehend hat das Verwaltungsgericht letztlich nur zugunsten der Beklagten untersucht, ob sich dieser Fehler unter Heranziehung der erstinstanzlich gemachten Ausführungen noch während des Verwaltungsprozesses durch eine Ergänzung im Sinne des § 114 Satz 2 VwGO beheben ließe und kam – im Ergebnis auf jeden Fall zutreffend (dazu unter b.) – zu dem Schluss, dass dies nicht der Fall ist.
2. Die Berufung ist auch nicht wegen Vorliegens besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) zuzulassen. Die darzulegenden Schwierigkeiten müssen dergestalt sein, dass ihre Beantwortung im Zulassungsverfahren nicht ohne weiteres möglich ist. Besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten weist eine Rechtssache dann auf, wenn sie voraussichtlich in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht größere, d. h. überdurchschnittliche, das normale Maß nicht unerheblich überschreitende Schwierigkeiten verursacht. Im Tatsächlichen ist dies besonders bei wirtschaftlichen, technischen und wissenschaftlichen Zusammenhängen, im Rechtlichen bei neuartigen oder ausgefallenen Rechtsfragen der Fall. Die besonderen Schwierigkeiten müssen sich ferner auf Fragen beziehen, die für den konkreten Fall und das konkrete Verfahren entscheidungserheblich sind (vgl. OVG Schleswig, Beschl. v. 02.10.2020 – 4 LA 141/18 –, juris Rn. 57, Beschl. v. 14.05.1999 – 2 L 244/98 –, juris Rn. 17). Diese Voraussetzungen sind nicht dargelegt.
Besondere tatsächliche Schwierigkeiten ergeben sich nicht allein aus der Behauptung, das Verwaltungsgericht habe den auf Seite 5 des Urteils zitierten Telefonvermerk der Beklagten falsch interpretiert. Die Beklagte legt weder dar, warum die Interpretation eines Telefonvermerks besondere tatsächliche Schwierigkeiten in genannten Sinne bereiten sollte, noch, inwieweit die Interpretation des Vermerks eine entscheidungserhebliche Rolle spielen könnte.
Auch besondere rechtliche Schwierigkeiten sind nicht dargelegt. Die insoweit genannte Auslegung des § 114 Satz 2 VwGO begründet solche Schwierigkeiten nicht. Die Auslegung dieser Vorschrift ist seit langem geklärt. Die Beklagte macht hierzu auch keine weiteren Ausführungen, sondern wiederholt an dieser Stelle ihre Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils in konkreter Anwendung des § 114 Satz 2 VwGO.
3. Abschließend ist die Berufung auch nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zuzulassen. Eine solche Zulassung erfordert u.a., dass eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage aufgeworfen wird, die klärungsfähig und -bedürftig ist, mithin für die Entscheidung der Vorinstanz von Bedeutung war und dies auch für die Entscheidung im Berufungsverfahren sein wird sowie, dass sie bisher höchstrichterlich oder – bei tatsächlichen Fragen oder nicht revisiblen Rechtsfragen – durch die Rechtsprechung des Berufungsgerichts nicht geklärt, über den Einzelfall hinaus bedeutsam ist und im Falle einer Rechtsfrage nicht bereits anhand des Gesetzeswortlauts und der üblichen Regeln sachgerechter Auslegung sowie auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung ohne Durchführung eines Berufungsverfahrens beantwortet werden kann (vgl. OVG Schleswig, Beschl. v. 17.02.2021 – 4 LA 208/19 –, juris Rn. 67 m.w.N., Beschl. v. 09.07.2020 – 1 LA 120/20 –, juris Rn. 2; zum inhaltsgleichen § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG Beschl. d. Senats v. 01.02.2024 – 6 LA 44/24 –, juris Rn.14).
Als grundsätzlich bedeutsam wirft die Beklagte die Rechtsfragen auf,
1. ob es ermessensfehlerhaft ist, wenn eine Behörde aufgrund einer Verzögerungs- und Verschleierungstaktik sämtlicher Geschäftsführer einer GmbH (MIR), welche erst ersichtlich nach erheblicher Zeit nicht für die geschuldeten Gewerbesteuern herangezogen werden kann, den sicheren, darleg- und beweisbaren Weg der Haftung über § 69 AO wählt, wenn lediglich Indizien für eine Haftung eines Geschäftsführers nach § 71 AO vorliegen, der Grundsatz in dubio pro reo zu beachten ist, und für eine faktische Geschäftsführereigenschaft nach § 35 AO Tatsache für eine nach außen für die GmbH auftretenden Verhaltens fehlen?
und im Anschluss,
2. ob es hinsichtlich der materiellen Ermessensentscheidung einer Behörde im Rahmen des Auswahlermessens hinsichtlich Haftungsschuldner und Haftungsumfang zumutbar ist, entgegen des Grundsatzes der Steuergerechtigkeit dem Risiko zu unterliegen, dass die Haftung gern. § 69 AO mangels ermessensfehlerfreier Entscheidung nicht realisiert werden kann und anschließend eine Haftung gem. § 35 AO oder § 71 AO weder darlegungsfähig noch beweisbar ist?
Eine klärungsbedürftige, entscheidungserhebliche und verallgemeinerungsfähige Bedeutung dieser Fragen ergibt sich aus dem Vorbringen der Beklagten nicht. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen wird zwar behauptet, aber nicht dargelegt im Sinne des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO. Hierzu wäre über die Formulierung einer für fallübergreifend gehaltenen Frage hinaus in Auseinandersetzung mit Rechtsprechung und Literatur zu begründen, in welchem Sinne und aus welchen Gründen die Beantwortung der Frage zweifelhaft und streitig ist, dass das angefochtene Urteil auf der falschen Beantwortung der Frage beruht und ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten steht sowie, dass prinzipielle Bedenken gegen den vom Verwaltungsgericht dazu eingenommenen Standpunkt bestehen, sodass es auch erforderlich ist, dass sich das Berufungsgericht klärend mit der aufgeworfenen Frage auseinandersetzt; das Aufzeigen einer bloß fehlerhaften oder unterbliebenen Anwendung von Rechtssätzen genügt insoweit nicht (OVG Schleswig, Beschl. v. 17.02.2021 – 4 LA 208/19 –, juris Rn. 67, Beschl. v. 02.10.2020 – 4 LA 141/18 –, juris Rn. 63, Beschl. v. 09.04.2018 – 4 LA 59/17 –, juris Rn. 5, jeweils m.w.N.).
Diesen Anforderungen werden die Ausführungen der Beklagten zum Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO nicht gerecht. Dabei sind die in Bezug genommenen Ausführungen zu den Zulassungsgründen des § 124 Abs. 2 Nr. 1 und 2 VwGO aufgrund ihrer einzelfallbezogenen Ausrichtung von vornherein nicht geeignet, eine über diesen speziellen Einzelfall hinausgehende grundsätzliche, d.h. verallgemeinerungsfähige Bedeutung der beiden Fragen zu begründen.
Tatsächlich waren die aufgeworfenen Fragen für das Verwaltungsgericht auch nicht entscheidungserheblich. Die Beklagte möchte vielmehr geklärt wissen, ob sie ihr Auswahlermessen mit den nunmehr in die Fragen hineinformulierten Erwägungen rechtmäßig hätte betätigen können. Inwieweit das behördliche Auswahlermessen hinsichtlich Haftungsschuldner und Haftungsumfang rechtmäßig ausgeübt werden kann, ist zudem eine Frage des Einzelfalles, die sich nicht in verallgemeinerungsfähiger Form beantwortet lässt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 3 Satz 1 GKG.
Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).