R&W Abo Buch Datenbank Veranstaltungen Betriebs-Berater
 
Steuerrecht
16.02.2023
Steuerrecht
GA Collins: Freier Kapitalverkehr – Art. 63 bis 65 AEUV – Erbschaftsteuer – in einem Drittstaat belegenes Grundstück – günstigere steuerliche Behandlung ...

... von in einem Mitgliedstaat oder einem Staat des Europäischen Wirtschaftsraums belegenen GrundstückenEuGH-Schlussanträge

ECLI:EU:C:2023:89

Volltext BB-Online BBL2023-405-2

Schlussanträge

Art. 63 Abs. 1 AEUV ist dahin auszulegen, dass

–          er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die zur Förderung der Verfügbarkeit bezahlbaren Mietwohnraums in der Europäischen Union und dem Europäischen Wirtschaftsraum den Wert eines zu Wohnzwecken vermieteten, in einem Mitgliedstaat oder einem Staat des Europäischen Wirtschaftsraums belegenen Grundstücks bei der Berechnung der Erbschaftsteuer günstiger behandelt als ein genauso genutztes, in einem Drittstaat belegenes Grundstück, sofern diese nationale Regelung zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet ist und es keine genauso wirksamen, weniger einschneidenden Maßnahmen gibt, um dieses Ziel zu erreichen;

–          er einer nationalen Regelung, die zur Sicherstellung der Wirksamkeit der Finanzaufsicht den Wert eines zu Wohnzwecken vermieteten, in einem Mitgliedstaat oder einem Staat des Europäischen Wirtschaftsraums belegenen Grundstücks bei der Berechnung der Erbschaftsteuer günstiger behandelt als ein genauso genutztes, in einem Drittstaat belegenes Grundstück, entgegensteht, wenn es einen rechtlichen Rahmen für den Austausch relevanter Informationen zwischen den zuständigen Finanzbehörden gibt.

 

Aus den Gründen

I.          Einleitung

1.         In den vorliegenden Schlussanträgen entspreche ich der Bitte des Gerichtshofs, eine neuartige Frage zu erörtern: Kann ein Mitgliedstaat sozialpolitische Ziele innerhalb der Europäischen Union, wie die Förderung bezahlbaren Mietwohnraums, durch Maßnahmen verfolgen, die den freien Kapitalverkehr mit Drittstaaten beschränken?

II.    Rechtlicher Rahmen

A.         EWR-Abkommen

2.         Art. 40 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (im Folgenden: EWR-Abkommen) vom 2. Mai 1992(2) bestimmt, dass im Rahmen dieses Abkommens der Kapitalverkehr in Bezug auf Berechtigte, die in den EU-Mitgliedstaaten oder den Staaten der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) ansässig sind, keinen Beschränkungen und keiner Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit oder des Wohnorts der Parteien oder des Anlageorts unterliegt.

B.         Deutsches Recht

3.         Nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes vom 27. Februar 1997(3) in der Fassung des Gesetzes zur Reform des Erbschaftsteuer- und Bewertungsrechts vom 24. Dezember 2008(4) (im Folgenden: ErbStG) unterliegt der Erwerb von Todes wegen der Erbschaftsteuer.

4.         Nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG tritt Steuerpflicht ein „…

1.         in den Fällen des § 1 Abs. 1 Nr. 1 bis 3, wenn der Erblasser zur Zeit seines Todes, der Schenker zur Zeit der Ausführung der Schenkung oder der Erwerber zur Zeit der Entstehung der Steuer … ein Inländer ist, für den gesamten Vermögensanfall (unbeschränkte Steuerpflicht). Als Inländer gelten

a)         natürliche Personen, die im Inland einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, …“

5.         Gemäß § 13c(5) („Steuerbefreiung für zu Wohnzwecken vermietete Grundstücke“) ErbStG gilt:

„(1)       Grundstücke im Sinne des Absatzes 3 sind mit 90 Prozent ihres Wertes anzusetzen. …

(3)        Der verminderte Wertansatz gilt für bebaute Grundstücke und Grundstücksteile, die

1.         zu Wohnzwecken vermietet werden,

2.         im Inland, in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder in einem Staat des Europäischen Wirtschaftsraums belegen sind,

3.         nicht zum begünstigten Betriebsvermögen oder begünstigten Vermögen eines Betriebs der Land- und Forstwirtschaft im Sinne des § 13a gehören. …“

C.         Doppelbesteuerungsabkommen zwischen Deutschland und Kanada

6.         Am 19. April 2001 schlossen die Bundesrepublik Deutschland und Kanada ein Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und bestimmter anderer Steuern, zur Verhinderung der Steuerverkürzung und zur Amtshilfe in Steuersachen (im Folgenden: Doppelbesteuerungsabkommen)(6). Nach seinem Art. 2 gilt das Doppelbesteuerungsabkommen nicht für die Erbschaftsteuer. Dessen ungeachtet sieht sein Art. 26 vor:

„(1)       Die zuständigen Behörden der Vertragsstaaten tauschen die Informationen aus, die zur Durchführung dieses Abkommens oder des innerstaatlichen Rechts der Vertragsstaaten betreffend die unter das Abkommen fallenden Steuern erforderlich sind, soweit die diesem Recht entsprechende Besteuerung nicht dem Abkommen widerspricht. Der Informationsaustausch ist durch Artikel 1 nicht eingeschränkt. … …

(4)        Für die Zwecke dieses Artikels bedeuten die unter das Abkommen fallenden Steuern, ungeachtet der Bestimmungen von Artikel 2, alle in einem Vertragsstaat erhobenen Steuern.“

III. Ausgangsrechtsstreit, Vorabentscheidungsersuchen und Verfahren vor dem Gerichtshof

7.         Als A im Jahr 2016 verstarb, hatte er seinen Wohnsitz in Deutschland. Er vermachte seinem Sohn, BA, der seinen Wohnsitz ebenfalls in Deutschland hatte, Miteigentum an einem in Kanada belegenen, zu Wohnzwecken vermieteten Grundstück.

8.         Mit Bescheid vom 17. Juli 2017 setzte das Finanzamt X (Deutschland) gegen BA Erbschaftsteuer für dieses Grundstück fest.

9.         BA beantragte am 19. März 2018 gemäß § 13c Abs. 1 ErbStG, die festgesetzte Erbschaftsteuer dahin zu ändern, dass das in Kanada belegene Grundstück bei der Besteuerung lediglich mit 90 % seines gemeinen Werts angesetzt wird. Das Grundstück erfülle mit Ausnahme seiner Belegenheit alle Voraussetzungen jener Vorschrift. Soweit das ErbStG verlange, dass das Grundstück für die Steuervergünstigung nach § 13c Abs. 1 in Deutschland, einem anderen Mitgliedstaat oder einem EWR-Staat belegen sein müsse, verstoße dieses Gesetz gegen den in Art. 63 AEUV verankerten freien Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten und Drittstaaten.

10.       Mit Bescheid vom 25. April 2018 lehnte das Finanzamt X den Antrag von BA ab. BA legte gegen den Bescheid Einspruch ein. Mit Entscheidung vom 23. April 2019 wies das Finanzamt X den Einspruch zurück und führte zur Begründung aus, dass die erbschaftsteuerliche Vergünstigung für zu Wohnzwecken vermietete Grundstücke, die in einem Mitgliedstaat oder einem EWR-Staat belegen seien, keinen Verstoß gegen Art. 63 AEUV darstelle. Am 24. Mai 2019 erhob BA Klage beim Finanzgericht Köln (Deutschland) und beantragte die Aufhebung des Ablehnungsbescheids in Gestalt der Einspruchsentscheidung.

11.       Das vorlegende Gericht äußert in seiner Vorlageentscheidung Zweifel an der Vereinbarkeit der einschlägigen Bestimmungen des ErbStG mit Art. 63 AEUV. Abgesehen von seiner Belegenheit außerhalb des EWR erfülle das in Rede stehende Grundstück alle Voraussetzungen des nationalen Rechts für eine Herabsetzung der Bemessungsgrundlage um 10 %. Nach der Rechtsprechung handele es sich beim Übergang von Vermögen – einschließlich unbeweglicher Güter – eines Erblassers auf eine oder mehrere Personen um Kapitalverkehr im Sinne von Art. 63 AEUV(7). Das Finanzgericht Köln führt aus, dass zu den Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs auch Maßnahmen zählten, die geeignet seien, Personen mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat von Investitionen in anderen Staaten abzuhalten(8), auch in Drittstaaten. Weiter hegt das Finanzgericht Köln Zweifel, ob diese Beschränkung des freien Kapitalverkehrs durch die Standstill-Klausel des Art. 64 AEUV, aus den in Art. 65 AEUV genannten Gründen oder durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein könnte. Die Standstill-Klausel sei nicht anwendbar, da die betreffende Steuervergünstigung im Jahr 2008 eingeführt worden sei. Was die Anwendung von Art. 65 Abs. 1 Buchst. a AEUV betreffe, befänden sich zu Wohnzwecken vermietete Grundstücke unabhängig davon, ob sie in einem Mitgliedstaat, einem EWR-Staat oder einem Drittstaat belegen seien, in der gleichen Situation. Zwingende Gründe des Allgemeininteresses, durch die diese Beschränkung gerechtfertigt werden könne, seien nicht erkennbar.

12.       Vor diesem Hintergrund hat das Finanzgericht Köln das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Sind Art. 63 Abs. 1, Art. 64 und Art. 65 AEUV dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung eines Mitgliedstaates über die Erhebung der Erbschaftsteuer entgegenstehen, die für die Berechnung der Erbschaftsteuer vorsieht, dass ein zum Privatvermögen gehörendes bebautes Grundstück, welches in einem Drittland (hier: Kanada) belegen ist und zu Wohnzwecken vermietet wird, mit seinem vollen Wert angesetzt wird, während ein Grundstück des Privatvermögens, welches im Inland, in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder in einem Staat des Europäischen Wirtschaftsraums belegen ist und zu Wohnzwecken vermietet wird, lediglich mit 90 vom Hundert seines Wertes bei der Berechnung der Erbschaftsteuer berücksichtigt wird?

13.       Die deutsche Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. In der mündlichen Verhandlung vom 17. November 2022 haben BA, die deutsche Regierung und die Kommission mündlich verhandelt und Fragen des Gerichtshofs beantwortet.

14.       Entsprechend der Bitte des Gerichtshofs befassen sich die vorliegenden Schlussanträge mit der Frage, ob die Mitgliedstaaten Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs mit Drittstaaten durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses rechtfertigen können.

IV.    Würdigung

A.         Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

15.       Art. 63 AEUV findet auf den Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten und Drittstaaten Anwendung. Da zur Berechnung der Erbschaftsteuer für in einem Drittstaat belegene Grundstücke eine höhere Bemessungsgrundlage herangezogen wird, sind sich BA, die deutsche Regierung und die Kommission darüber einig, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung den freien Kapitalverkehr im Sinne von Art. 63 AEUV beschränkt. Uneinigkeit besteht darüber, ob diese Beschränkung durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt werden kann.

16.       In der mündlichen Verhandlung hat BA vorgetragen, dass durch die anwendbare deutsche Regelung die Verfügbarkeit bezahlbaren Mietwohnraums nicht gefördert werde, da die Steuervergünstigung für alle Grundstücke gelte, unabhängig von deren Wert. Es gebe keinen Grund, weswegen in Drittstaaten belegene Grundstücke nicht von dieser Steuervergünstigung profitieren sollten.

17.       Die deutsche Regierung hat betont, dass es im Ausgangsverfahren um den freien Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten und Drittstaaten gehe, nicht um den freien Kapitalverkehr zwischen EWR-Staaten. Bei der Beurteilung der Frage, ob zwingende Gründe des Allgemeininteresses vorliegen, müsse das höhere Maß an rechtlicher Integration zwischen den Mitgliedstaaten berücksichtigt werden. Eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs mit Drittstaaten könne daher aus Gründen gerechtfertigt sein, die für eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten keine Rechtfertigung wären.

18.       In der mündlichen Verhandlung hat die deutsche Regierung darauf hingewiesen, dass in deutschen Großstädten vier von zehn Haushalten mehr als 30 % ihres verfügbaren Einkommens für die Miete ausgäben. Ein ähnliches Problem bestehe in anderen Mitgliedstaaten und bereite den jeweiligen Behörden Sorgen. Aus dem Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Erbschaftsteuer- und Bewertungsrechts gehe hervor, dass der deutsche Gesetzgeber § 13c zur Erreichung eines im Allgemeininteresse liegenden Ziels erlassen habe, nämlich zur Steigerung der Verfügbarkeit von Grundstücken des Privatvermögens für Wohnzwecke, um so die Marktkonzentration von Mietwohneigentum in den Händen von Investorengruppen zu verringern(9). Die deutsche Regierung betont, dass Investorengruppen im Gegensatz zu Privatpersonen nicht der Erbschaftsteuer unterlägen. Durch die Steuervergünstigung solle für Privatpersonen der Druck vermindert werden, von ihnen geerbte, zu Wohnzwecken vermietete Grundstücke verkaufen zu müssen, um die Steuer entrichten zu können, wodurch erreicht werden solle, dass diese Immobilien weiterhin für die private Vermietung zur Verfügung stehen.

19.       Die Stärkung des Wettbewerbs auf dem Markt für Mietwohnraum trage zur Verfügbarkeit und Finanzierung bezahlbaren Wohnraums bei, was einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen könne(10). Die Erleichterung des Zugangs zu bezahlbarem Wohnraum sei in Europa ein politisches Ziel, weshalb die anwendbare deutsche Regelung die in Rede stehende Steuervergünstigung auf im EWR belegene Grundstücke erstreckt habe. Weder die deutsche Regierung noch die Europäische Union oder der EWR seien für die Förderung der Verfügbarkeit bezahlbaren Wohnraums in Drittstaaten zuständig. Der Bedarf an sozialem Wohnraum in Drittstaaten könne nicht ermittelt werden, weil dafür ein hohes Maß an Zusammenarbeit mit diesen Staaten erforderlich wäre. Eine Erstreckung der Steuervergünstigung auf in Drittstaaten belegene Grundstücke würde außerdem die Kosten der Maßnahme für den Fiskus steigern, ohne dass sich für die Bevölkerung der Europäischen Union oder des EWR ein zusätzlicher Vorteil ergäbe. Die Beschränkung der Steuervergünstigung auf vermieteten Wohnraum in der Europäischen Union oder im EWR fördere Investitionen in derartiges Vermögen und trage dadurch zur Erreichung des verfolgten sozialpolitischen Ziels bei. Die deutsche Regierung sei berechtigt, einen „Strich zu ziehen“, indem sie in Drittstaaten belegene Grundstücke von der Gewährung der Steuervergünstigung ausschließe.

20.       Die Beschränkung der Gewährung der Steuervergünstigung sei verhältnismäßig, da sie zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet sei und nicht über das hierfür erforderliche Maß hinausgehe. In diesem Zusammenhang trägt die deutsche Regierung vor, dass die Gewährung der Steuervergünstigung nicht vom Wohnsitz der verstorbenen Person oder ihrer Erben abhänge, sondern von der Belegenheit des Grundstücks.

21.       Die deutsche Regierung rechtfertigt die Beschränkung der Gewährung der Steuervergünstigung auch mit der Notwendigkeit, die Wirksamkeit der Steueraufsicht zu gewährleisten. Soweit kein Informationsaustausch mit Drittstaaten bestehe, könnten die deutschen Behörden nicht überprüfen, ob ein Grundstück zu Wohnzwecken vermietet sei. In der mündlichen Verhandlung hat die deutsche Regierung jedoch eingeräumt, dass die deutschen Behörden gemäß dem Doppelbesteuerungsabkommen berechtigt seien, von den kanadischen Behörden für die Erhebung der Erbschaftsteuer relevante Informationen anzufordern.

22.       Die Kommission ist der Ansicht, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Beschränkung nicht durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt werden könne.

23.       Zur Förderung bezahlbaren Mietwohnraums führt die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen aus, es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass in Drittstaaten wie Kanada belegene Grundstücke sich nicht in einer vergleichbaren Situation wie in Deutschland, der Europäischen Union oder dem EWR belegene Grundstücke befänden. Auf die Fragen des Gerichtshofs in der mündlichen Verhandlung hin hat die Kommission eingeräumt, dass die Förderung von bezahlbarem Mietwohnraum eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten oder EWR-Staaten und Drittstaaten unabhängig davon rechtfertigen könne, ob es in diesen Drittstaaten einen vergleichbaren Bedarf gebe. Es obliege jedoch der deutschen Regierung, den Nachweis dafür zu erbringen, dass ihre Rechtsvorschriften berechtigterweise ein sozialpolitisches Ziel verfolgten und verhältnismäßig seien. In diesem Zusammenhang werfe die anwendbare deutsche Regelung mindestens zwei Probleme auf. Erstens könne eine Person, die ein zu Wohnzwecken vermietetes Grundstück erbe, die Steuervergünstigung in Anspruch nehmen und das Grundstück danach an einen institutionellen Investor verkaufen. Zweitens gelte die Steuervergünstigung für alle Grundstücke, auch für Luxusimmobilien.

24.       Schließlich trägt die Kommission vor, dass die fragliche Beschränkung nicht durch die Wirksamkeit der Steueraufsicht gerechtfertigt werden könne, da die Steuervergünstigung für in Drittstaaten belegene Grundstücke unabhängig davon nicht gelte, ob die Bundesrepublik Deutschland mit dem betreffenden Drittstaat ein Abkommen über einen Informationsaustausch geschlossen habe, wie dies für Kanada der Fall sei.

B.         Allgemeine Grundsätze

25.       Gemäß Art. 63 Abs. 1 AEUV findet der freie Kapitalverkehr auf den Kapitalfluss sowohl zwischen den Mitgliedstaaten als auch zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern ohne Voraussetzung der Gegenseitigkeit Anwendung(11). Dieses Merkmal unterscheidet den freien Kapitalverkehr von allen anderen Freiheiten des Binnenmarkts, die ausschließlich in den Mitgliedstaaten anwendbar sind(12).

26.       Wenn die Gewährung einer Vergünstigung bei der Veranlagung zur Erbschaftsteuer davon abhängig gemacht wird, dass ein Vermögensgegenstand in einem Mitgliedstaat oder einem EWR-Staat belegen ist, stellt dies eine durch Art. 63 Abs. 1 AEUV grundsätzlich verbotene Beschränkung des freien Kapitalverkehrs dar(13). Die günstigere steuerliche Behandlung von in Mitgliedstaaten oder EWR-Staaten belegenen Grundstücken könnte von Investitionen in dieser Anlageklasse abhalten, wenn das Vermögen in einem Drittstaat belegen ist.

27.       Nach gefestigter Rechtsprechung muss der Begriff der Beschränkung des Kapitalverkehrs für Transaktionen zwischen Mitgliedstaaten, mit EWR-Staaten(14) sowie zwischen Mitgliedstaaten und Drittstaaten(15) in der gleichen Weise ausgelegt werden.

28.       Zusätzlich zu den im Vertrag aufgezählten Rechtfertigungsgründen können Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs zulässig sein, wenn sie durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sind, sofern sie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einhalten(16).

29.       Eine Berufung auf zwingende Gründe des Allgemeininteresses ist nur möglich, soweit es keine Harmonisierungsmaßnahmen auf Unionsebene zur Gewährleistung des Schutzes dieser Interessen gibt. Fehlen solche Harmonisierungsmaßnahmen, so ist es grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten, zu entscheiden, auf welchem Niveau sie den Schutz solcher Interessen sicherstellen wollen und wie dieser Schutz erreicht werden soll. Solche Maßnahmen müssen in dem vom Vertrag vorgegebenen Rahmen bleiben und verhältnismäßig sein(17).

30.       Grundsätzlich können die Mitgliedstaaten sich auf zwingende Gründe des Allgemeininteresses berufen, um Beschränkungen des Kapitalverkehrs mit Drittstaaten zu rechtfertigen. Zu diesen Gründen können auch die Gewährleistung einer wirksamen steuerlichen Kontrolle und die Bekämpfung von Steuerhinterziehung(18), die Verhinderung rein künstlicher Gestaltungen(19) sowie die Erhaltung der Kohärenz der Steuersysteme(20) und die Wahrung einer ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse zwischen den Mitgliedstaaten und Drittstaaten(21) gehören. Zwar hat der Gerichtshof die für solche Beschränkungen vorgebrachten Rechtfertigungen oft zurückgewiesen, doch in einigen Fällen hat er Rechtfertigungen für Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten und Drittstaaten in Situationen zugelassen, in denen er Beschränkungen entsprechender Kapitalbewegungen zwischen den Mitgliedstaaten nicht zugelassen hätte(22).

31.       Dieser Ansatz erklärt sich dadurch, dass sich der Kapitalverkehr mit Drittstaaten in einen anderen rechtlichen Rahmen einfügt als der Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten(23) oder mit dem EWR(24). Aufgrund des Grades der rechtlichen Integration zwischen den Mitgliedstaaten ist die Besteuerung grenzüberschreitender Wirtschaftstätigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten nicht immer mit der Besteuerung entsprechender Tätigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten und Drittstaaten vergleichbar. Dass sich der freie Kapitalverkehr mit Drittstaaten in einen anderen rechtlichen Rahmen einfügt, erklärt auch, warum Art. 64, Art. 65 Abs. 4 und Art. 66 AEUV vorsehen, dass Mitgliedstaaten spezifische Ausnahmen vom freien Kapitalverkehr vorsehen dürfen, wenn dieser zwischen ihnen und Drittstaaten erfolgt. Dieser andere rechtliche Rahmen hat Auswirkungen darauf, ob sich die Mitgliedstaaten auf zwingende Gründe des Allgemeininteresses berufen können. Ein Mitgliedstaat mag grundsätzlich beweisen können, dass eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs mit Drittstaaten aus einem Grund gerechtfertigt ist, der nicht zwangsläufig eine Beschränkung des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten rechtfertigen würde(25).

C.         Würdigung

32.       Im vorliegenden Fall führt die deutsche Regierung zur Rechtfertigung der in der deutschen Regelung vorgesehenen Beschränkungen zwei zwingende Gründe des Allgemeininteresses an, nämlich die Förderung bezahlbaren Mietwohnraums als sozialpolitisches Ziel und die Wirksamkeit der Steueraufsicht.

33.       Was den ersten Rechtfertigungsgrund angeht, so werden vom Gerichtshof im Kontext des freien Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten sozialpolitische Rechtfertigungen als zwingende Gründe des Allgemeininteresses anerkannt. Im Urteil Jäger hat sich der Gerichtshof mit der von der deutschen Regierung vorgebrachten Rechtfertigung für eine erbschaftsteuerliche Regelung befasst, durch die inländisches land- und forstwirtschaftliches Vermögen günstiger als in einem anderen Mitgliedstaat belegenes Vermögen gleicher Art behandelt wurde. Der Gerichtshof stellte zunächst fest, dass es sich bei der günstigeren Behandlung von im Inland belegenen Vermögensgegenständen um eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs handelt(26), und entschied danach, dass die Sozialgebundenheit land- und forstwirtschaftlichen Vermögens einschließlich des Erhalts von Arbeitsplätzen bei der Vererbung solchen Vermögens einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellt(27). Der Gerichtshof kam gleichwohl zu dem Ergebnis, dass diese Beschränkung nicht gerechtfertigt war, da nichts dafür sprach, dass das verfolgte soziale Ziel in anderen Mitgliedstaaten nicht gleichermaßen schutzwürdig war(28).

34.       In seinem Urteil Woningstichting Sint Servatius  hat der Gerichtshof eine Regelung auf dem Gebiet des sozialen Wohnungswesens in den Niederlanden untersucht, in deren Rahmen die Genehmigung für eine Investition in ein nahe der niederländischen Grenze in Belgien belegenes Versuchsprojekt versagt wurde. Sowohl das Erfordernis einer vorherigen Genehmigung als auch deren Versagung wurden als Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs angesehen(29). Der Gerichtshofs führte aus, dass das mit der Regelung auf dem Gebiet des sozialen Wohnungswesens verfolgte Ziel darin bestand, ein ausreichendes Angebot an Wohnraum für in den Niederlanden wohnende einkommensschwache Personen sicherzustellen(30). Er stellte fest, dass Erfordernisse im Zusammenhang mit der Sozialwohnungspolitik zwingende Gründe des Allgemeininteresses darstellen können(31). Was den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit betrifft, kann ein Erfordernis der vorherigen Genehmigung erforderlich und angemessen sein, um dieses Ziel der Sozialwohnungspolitik zu erreichen(32). Gleichwohl hat der Gerichtshof die Genehmigungsregelung beanstandet, weil sie nicht auf objektiven, nicht diskriminierenden im Voraus bekannten Kriterien beruhte, die der Ermessensausübung durch die nationalen Behörden hinreichende Grenzen setzten. Die Beschränkung des freien Kapitalverkehrs war nicht gerechtfertigt, weil das einzige Kriterium darin bestand, dass ein Projekt als „im Interesse des Sozialwohnungswesens in den Niederlanden“ erachtet wurde(33).

35.       Auch im Urteil Busley und Cibrián Fernández prüfte der Gerichtshof die Anwendung von Zielen der Wohnungspolitik eines Mitgliedstaats. Die deutschen Rechtsvorschriften gewährten für Einkünfte aus der Vermietung von in Deutschland belegenen Grundstücken eine steuerlich günstigere Behandlung als für Einkünfte aus der Vermietung von in anderen Mitgliedstaaten belegenen Grundstücken; dies stellte eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs dar(34). Der Gerichtshof stellte zwar fest, dass das mit der nationalen Regelung verfolgte sozialpolitische Ziel, nämlich die Schaffung eines Anreizes zum Bau von Mietwohnungen, um den Bedarf der deutschen Bevölkerung zu decken, einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen konnte. Er kam jedoch zu dem Ergebnis, dass die nationale Regelung den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht beachtete, da sie für alle Mietwohnungen – auch für Luxuswohnungen – galt und nicht auf Orte in Deutschland mit besonders ausgeprägtem Wohnungsmangel gerichtet war(35).

36.       Folglich kann sich ein Mitgliedstaat grundsätzlich auf sozialpolitische Ziele wie die Förderung der Verfügbarkeit bezahlbaren Wohnraums als zwingende Gründe des Allgemeininteresses berufen, um eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten zu rechtfertigen. In diesem Kontext erklärt die Präambel des Vertrags über die Europäische Union den festen Willen der Mitgliedstaaten, den sozialen Fortschritt ihrer Völker zu fördern. Art. 3 Abs. 3 EUV macht es der Europäischen Union u. a. zur Aufgabe, den sozialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern. Im gleichen Sinne legt Art. 151 in Titel X („Sozialpolitik“) AEUV das Ziel der Gewährleistung angemessenen sozialen Schutzes als ein Ziel sowohl der Europäischen Union als auch ihrer Mitgliedstaaten fest. Wie es den Mitgliedstaaten möglich sei soll, diese Aufgabe zu erfüllen, ohne berechtigt zu sein, auf nationaler Ebene Politiken im Hinblick auf die Förderung des sozialen Zusammenhalts und der Solidarität zu verfolgen, ist schwer vorstellbar.

37.       Außerdem hat der Gerichtshof entschieden, dass – da die Europäische Union eine wirtschaftliche und eine soziale Zielrichtung hat – die sich aus den Vertragsbestimmungen über den freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr ergebenden Rechte gegen die sozialpolitischen Ziele abgewogen werden müssen, zu denen die Gewährleistung angemessenen sozialen Schutzes gehört(36). Nach Art. 4 Abs. 2 AEUV teilt sich die Europäische Union die Zuständigkeit für die Sozialpolitik mit den Mitgliedstaaten. Während Art. 9 AEUV bestimmt, dass die Europäische Union bei der Festlegung und Durchführung ihrer Politik und ihrer Maßnahmen einen angemessenen sozialen Schutz gewährleistet, heißt es in Art. 153 AEUV, dass sie die Tätigkeit der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung unterstützt und ergänzt.

38.       Somit ist kein Grund erkennbar, warum ein Mitgliedstaat sich zur Rechtfertigung einer Beschränkung des freien Kapitalverkehrs mit Drittstaaten nicht auf sozialpolitische Gründe sollte stützen dürfen. Allerdings findet sich weder in diesen Bestimmungen noch anderswo in den Verträgen ein Hinweis darauf, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet wären, sozialpolitische Ziele in Drittstaaten zu verfolgen(37). Folglich bezieht sich die bei den öffentlichen Stellen liegende Verantwortung für die Gewährleistung sozialen Schutzes in erster Linie auf die Bevölkerung der Europäischen Union, und sie dürfen Maßnahmen zu diesem Zweck erlassen.

39.       Anders als die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen vertrete ich die Auffassung, dass das Unionsrecht von den Mitgliedstaaten nicht verlangt, die Verfügbarkeit bezahlbaren Wohnraums in Drittstaaten zu berücksichtigen, um eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs zwischen der Europäischen Union und Drittstaaten zu rechtfertigen. Der Grad der rechtlichen Integration zwischen den Mitgliedstaaten und ihre gemeinsamen politischen Ziele, die die strengen Vorgaben der Rechtsprechung in Bezug auf die Zulassung von Rechtfertigungen für Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten erklären(38), können nicht automatisch auf diese Rechtfertigungen übertragen werden, wenn diese auf den freien Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten und Drittstaaten angewandt werden. Wie in Nr. 31 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt, erklärt diese Erwägung, warum der Gerichtshof entschieden hat, dass Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs mit Drittstaaten unter Umständen gerechtfertigt sein können, unter denen dieselbe Beschränkung des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten nicht gerechtfertigt wäre.

40.       An diesem Ergebnis vermag die Tatsache, dass ein Mitgliedstaat eine Steuervergünstigung auf in EWR-Staaten belegene Grundstücke erstrecken kann, nichts zu ändern. Denn damit vermeidet dieser Mitgliedstaat lediglich, eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs mit den EWR-Staaten einzuführen, die gemäß dem EWR-Abkommen ein höheres Maß an rechtlicher Integration mit der Europäischen Union genießen als Drittstaaten.

41.       Grundsätzlich ist es Sache des vorlegenden Gerichts, die Vereinbarkeit der nationalen Rechtsvorschriften mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beurteilen. Bei der Durchführung dieser Aufgabe sollte es berücksichtigen, dass die Mitgliedstaaten bei ihrer Wahl der geeigneten Maßnahmen zur Verwirklichung ihrer sozialpolitischen Ziele zwar über einen weiten Beurteilungsspielraum verfügen, bei dessen Gebrauch jedoch nicht die in den Verträgen verankerten Rechte des Einzelnen beeinträchtigen dürfen(39).

42.       Beschränkungen werden als angemessen angesehen, wenn sie zur Erreichung des im Allgemeininteresse liegenden Ziels, das mit ihnen verfolgt wird – hier die Verfügbarkeit bezahlbaren Mietwohnraums in der Europäischen Union und dem EWR –, geeignet sind. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, auf der Grundlage der ihm vorgelegten Beweise festzustellen, ob eine 10%ige Herabsetzung der Grundlage für die Berechnung des Wertes eines zu Wohnzwecken vermieteten Grundstücks zum Zweck der Veranlagung zur Erbschaftsteuer geeignet ist, den auf den Erben lastenden Druck, dieses Eigentum veräußern zu müssen, sowie die Folgen für die Verfügbarkeit von Mietwohnraum zu verringern.

43.       Bei der Beurteilung, ob eine Beschränkung über das zur Erreichung des verfolgten Ziels Erforderliche hinausgeht, stellt sich die Frage, ob weniger einschneidende Maßnahmen die Erreichung des Ziels ebenso wirksam sicherstellen würden(40). Zwar ist es wiederum Sache des vorlegenden Gerichts, zu beurteilen, ob die Auswirkungen der Beschränkung auf den freien Kapitalverkehr mit Drittstaaten abgeschwächt werden könnten, wenn die Steuervergünstigung einen engeren Anwendungsbereich hätte und auf Grundstücke unterhalb eines bestimmten Schwellenwerts begrenzt wäre, so dass Luxusimmobilien ausgeschlossen wären. Eine solche Begrenzung könnte auch eine progressive Gestaltung der Bemessungsgrundlage zur Folge haben, wodurch möglicherweise der Zugang zu bezahlbarem Mietwohnraum gefördert würde.

44.       Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, festzustellen, dass Art. 63 Abs. 1 AEUV einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die zur Förderung der Verfügbarkeit bezahlbaren Mietwohnraums in der Europäischen Union und dem EWR den Wert eines zu Wohnzwecken vermieteten, in einem Mitgliedstaat oder einem EWR-Staat belegenen Grundstücks bei der Berechnung der Erbschaftsteuer günstiger behandelt als ein genauso genutztes, in einem Drittstaat belegenes Grundstück. Die Beurteilung, ob diese nationale Regelung zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet ist und ob es genauso wirksame, weniger einschneidende Maßnahmen gibt, um dieses Ziel zu erreichen, ist Sache des vorlegenden Gerichts.

45.       Ich befasse mich nun mit dem zweiten von der deutschen Regierung zur Rechtfertigung der Beschränkung vorgebrachten zwingenden Grund des Allgemeininteresses, nämlich der Wirksamkeit der Steueraufsicht.

46.       Die Rechtsprechung, auf die in Nr. 30 der vorliegenden Schlussanträge Bezug genommen wird, enthält zahlreiche Beispiele, in denen der Gerichtshof die Wirksamkeit der Steueraufsicht als Rechtfertigung für Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs mit Drittstaaten zugelassen hat(41). Machen die nationalen Rechtsvorschriften die Gewährung eines Steuervorteils davon abhängig, dass bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind, und gibt es keinen rechtlichen Rahmen für einen Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten und Drittstaaten, kann der Mitgliedstaat möglicherweise nicht prüfen, ob die Voraussetzungen für die Gewährung dieses Steuervorteils erfüllt sind.

47.       In der vorliegenden Rechtssache ergibt sich aus den Informationen in den dem Gerichtshof vorliegenden Akten, dass der Zugang zur fraglichen Steuervergünstigung voraussetzt, dass das Grundstück zu Wohnzwecken vermietet wird. Die Prüfung, ob es einen rechtlichen Rahmen für einen Informationsaustausch zwischen den zuständigen Finanzbehörden gibt, ist Sache des vorlegenden Gerichts. Zwar gilt das Doppelbesteuerungsabkommen nicht für die Erbschaftsteuer, doch hat die deutsche Regierung in der mündlichen Verhandlung eingeräumt, dass gemäß Art. 26 dieses Abkommens die Verpflichtung zum Informationsaustausch für alle von den Vertragsstaaten erhobenen Steuern gilt.

48.       Aufgrund der vorstehenden Ausführungen schlage ich dem Gerichtshof vor, in Bezug auf den zweiten vom vorlegenden Gericht angesprochenen Aspekt festzustellen, dass Art. 63 Abs. 1 AEUV einer nationalen Regelung, die zur Sicherstellung der Wirksamkeit der Finanzaufsicht den Wert eines zu Wohnzwecken vermieteten, in einem Mitgliedstaat oder einem EWR-Staat belegenen Grundstücks bei der Berechnung der Erbschaftsteuer günstiger behandelt als ein genauso genutztes, in einem Drittstaat belegenes Grundstück, entgegensteht, wenn es einen rechtlichen Rahmen für den Austausch relevanter Informationen zwischen den zuständigen Finanzbehörden gibt.

V.         Ergebnis

49.       Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefrage des Finanzgerichts Köln wie folgt zu beantworten: …


1          Originalsprache: Englisch.


2          ABl. 1994, L 1, S. 3.


3          BGBl. I S. 378.


4          BGBl. I S. 3018.


5          Die Vorlageentscheidung bezieht sich auf § 13c ErbStG. Diese Bestimmung wurde inzwischen zu § 13d ErbStG. Vgl. Gesetz zur Anpassung des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vom 4. November 2016 (BGBl. I S. 2464).


6          BGBl. 2002 II S. 670.


7          Urteile vom 15. Oktober 2009, Busley und Cibrian Fernandez (C-35/08, EU:C:2009:625, Rn. 18), und vom 17. Oktober 2013, Welte (C-181/12, EU:C:2013:662, Rn. 20).


8          Urteil vom 22. Januar 2009, STEKO Industriemontage (C-377/07, EU:C:2009:29, Rn. 23).


9          Vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Erbschaftsteuer- und Bewertungsrechts, BT-Drucks. 16/7918 vom 28. Januar 2008, S. 25 und 36.


10        Urteil vom 1. Oktober 2009, Woningstichting Sint Servatius (C-567/07, EU:C:2009:593, Rn. 30).


11        Vgl. hierzu Urteil vom 10. Februar 2011, Haribo Lakritzen Hans Riegel und Österreichische Salinen (C-436/08 und C-437/08, EU:C:2011:61, Rn. 127 und 128).


12        Die Debatte über den wirtschaftlichen Nutzen einer vollständigen Liberalisierung des Kapitalverkehrs in Bezug auf Drittstaaten ist noch nicht abgeschlossen. Eine kompakte Übersicht über die beiden hierzu vertretenen Auffassungen findet sich in Antonaki, I., Capital, Market and the State – Reconciling Free Movement of Capital with Public Interest Objectives, Brill Nijhoff, Leiden, 2022, S. 11 bis 16. Vgl. auch Stiglitz, J., „Capital Market Liberalization, Economic Growth and Instability“, World Development, Bd. 28, Heft 6, 2000, S. 1075 bis 1086; Alesina, A., Grilli, V., und Milsei-Ferretti, G. M., „The Political Economy of Capital Controls“ in Leiderlman, L., und Razin, A., (Hrsg.), Capital Mobility: The Impact on Consumption, Investment and Growth, Cambridge University Press, 1994, S. 380.


13        Urteile vom 22. November 2018, Huijbrechts (C-679/17, EU:C:2018:940, Rn. 19), und vom 17. Januar 2008, Jäger (C-256/06, EU:C:2008:20, Rn. 35).


14        Vgl. hierzu Urteile vom 19. November 2009, Kommission/Italien (C-540/07, EU:C:2009:717, Rn. 66), und vom 5. Mai 2011, Kommission/Portugal (C-267/09, EU:C:2011:273, Rn. 51).


15        Vgl. insoweit Urteil vom 18. Dezember 2007, A (C-101/05, EU:C:2007:804, Rn. 28 und 31).


16        Nach diesem Grundsatz müssen Beschränkungen zur Erreichung der verfolgten Ziele geeignet sein und dürfen nicht über das dazu Erforderliche hinausgehen. Vgl. hierzu Urteile vom 13. Mai 2003, Kommission/Spanien (C-463/00, EU:C:2003:272, Rn. 68), und vom 22. November 2018, Huijbrechts (C-679/17, EU:C:2018:940, Rn. 30 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).


17        Urteil vom 28. September 2006, Kommission/Niederlande (C-282/04 und C-283/04, EU:C:2006:608, Rn. 32 und 33).


18        Urteile vom 12. Dezember 2006, Test Claimants in the FII Group Litigation (C-446/04, EU:C:2006:774, Rn. 172), vom 18. Dezember 2007, A (C-101/05, EU:C:2007:804, Rn. 55), vom 10. Februar 2011, Haribo Lakritzen Hans Riegel und Österreichische Salinen (C-436/08 und C-437/08, EU:C:2011:61, Rn. 69), vom 5. Mai 2011, Kommission/Portugal (C-267/09, EU:C:2011:273, Rn. 42), vom 17. Oktober 2013, Welte (C-181/12, EU:C:2013:662, Rn. 63), vom 10. April 2014, Emerging Markets Series of DFA Investment Trust Company (C-190/12, EU:C:2014:249, Rn. 71), und vom 26. Februar 2019, X (In Drittländern ansässige Zwischengesellschaften) (C-135/17, EU:C:2019:136, Rn. 73 und 74).


19        Urteil vom 26. Februar 2019, X (In Drittländern ansässige Zwischengesellschaften) (C-135/17, EU:C:2019:136, Rn. 81 und 84).


20        Urteile vom 17. Oktober 2013, Welte (C-181/12, EU:C:2013:662, Rn. 59), und vom 10. April 2014, Emerging Markets Series of DFA Investment Trust Company (C-190/12, EU:C:2014:249, Rn. 91 und 92).


21        Urteile vom 10. Februar 2011, Haribo Lakritzen Hans Riegel und Österreichische Salinen (C-436/08 und C-437/08, EU:C:2011:61, Rn. 118 und 121), vom 10. April 2014, Emerging Markets Series of DFA Investment Trust Company (C-190/12, EU:C:2014:249, Rn. 98), und vom 26. Februar 2019, X (In Drittländern ansässige Zwischengesellschaften) (C-135/17, EU:C:2019:136, Rn. 72).


22        Vgl. etwa Urteile vom 27. Januar 2009, Persche (C-318/07, EU:C:2009:33, Rn. 66 bis 70), vom 19. November 2009, Kommission/Italien (C-540/07, EU:C:2009:717, Rn. 64, 72 und 73), und vom 5. Mai 2011, Kommission/Portugal (C-267/09, EU:C:2011:273, Rn. 46, 57 und 58). Vgl. auch Urteile vom 18. Dezember 2007, A (C-101/05, EU:C:2007:804, Rn. 60 bis 66), vom 10. April 2014, Emerging Markets Series of DFA Investment Trust Company (C-190/12, EU:C:2014:249, Rn. 85 bis 88), und vom 26. Februar 2019, X (In Drittländern ansässige Zwischengesellschaften) (C-135/17, EU:C:2019:136, Rn. 94 und 95). Aus diesen Urteilen geht hervor, dass es Sache der vorlegenden Gerichte ist, unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu bestimmen, ob Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs gerechtfertigt sind, insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Wirksamkeit der steuerlichen Kontrolle.


23        Urteil vom 18. Dezember 2007, A (C-101/05, EU:C:2007:804, Rn. 36).


24        Urteile vom 19. November 2009, Kommission/Italien (C-540/07, EU:C:2009:717, Rn. 69), und vom 5. Mai 2011, Kommission/Portugal (C-267/09, EU:C:2011:273, Rn. 54).


25        Urteile vom 12. Dezember 2006, Test Claimants in the FII Group Litigation (C-446/04, EU:C:2006:774, Rn. 170 und 171), sowie vom 18. Dezember 2007, A (C-101/05, EU:C:2007:804, Rn. 37). In der Rechtswissenschaft ist darauf hingewiesen worden, dass der Nicht-EU-Aspekt des freien Kapitalverkehrs, insbesondere was die Rechtfertigungsgründe angeht, bisher sehr vernachlässigt wurde. Vgl. Snell, J., „Free movement of capital: evolution as a non-linear process“, in Craig, P., und de Búrca, G., (Hrsg.), The Evolution of EU Law, Oxford University Press, Oxford, 2021, S. 597 bis 607.


26        Urteil vom 17. Januar 2008, Jäger (C-256/06, EU:C:2008:20, Rn. 35).


27        Ebd., Rn. 47 und 50.


28        Ebd., Rn. 52.


29        Urteil vom 1. Oktober 2009, Woningstichting Sint Servatius (C-567/07, EU:C:2009:593, Rn. 21 bis 24).


30        Ebd., Rn. 27.


31        Ebd., Rn. 30.


32        Ebd., Rn. 32 bis 34.


33        Ebd., Rn. 35 bis 38.


34        Urteil vom 15. Oktober 2009, Busley und Cibrián Fernández (C-35/08, EU:C:2009:625, Rn. 26 und 27).


35        Ebd., Rn. 31 und 32.


36        Vgl. Urteil vom 21. Dezember 2016, AGET Iraklis (C-201/15, EU:C:2016:972, Rn. 77), und Art. 151 Abs. 1 AEUV.


37        Dies gilt unbeschadet der Befugnis der Europäischen Union, internationale Übereinkünfte mit Drittstaaten abzuschließen, etwa Handelsabkommen, die unterschiedliche Ziele einschließlich des sozialen Schutzes und des Umweltschutzes verfolgen können.


38        Vgl. die in den Nrn. 33 bis 35 der vorliegenden Schlussanträge angeführte Rechtsprechung.


39        Urteil vom 21. Dezember 2016, AGET Iraklis (C-201/15, EU:C:2016:972, Rn. 81).


40        Vgl. insoweit Urteil vom 21. Dezember 2016, AGET Iraklis (C-201/15, EU:C:2016:972, Rn. 93).


41        In seinem Urteil vom 5. Mai 2011, Kommission/Portugal (C-267/09, EU:C:2011:273, Rn. 53 bis 58), kam der Gerichtshof eindeutig zu diesem Ergebnis. Vgl. auch Urteile vom 18. Dezember 2007, A (C-101/05, EU:C:2007:804, Rn. 55 bis 66), und vom 26. Februar 2019, X (In Drittländern ansässige Zwischengesellschaften) (C-135/17, EU:C:2019:136, Rn. 74 und 93 bis 95), in denen der Gerichtshof davon ausging, dass die Beschränkung gerechtfertigt sein kann, dies zu beurteilen aber dem vorlegenden Gericht überließ.

 

stats