BFH: Erstattungsüberhang betr. Kirchensteuer als rückwirkendes Ereignis
BFH, Urteil vom 2.9.2008 - X R 46/07
Vorinstanz: FG Düsseldorf vom 23.4.2007 - 10 K 2439/05 E (EFG 2007, 1052)
LEITSATZ
Die Erstattung von Kirchensteuer ist insoweit ein rückwirkendes Ereignis i.S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO, als sie die im Jahr der Erstattung gezahlte Kirchensteuer übersteigt (Anschluss an BFH-Urteil vom 7.7.2004 - XI R 10/04, BFHE 207, 28, BStBl. II 2004, 1058, BB 2004, 2398 Ls).
AO § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2; EStG § 10 Abs. 1 Nr. 4
SACHVERHALT
I.
Der mit seiner Ehefrau für das Streitjahr 2000 zusammen zur Einkommensteuer veranlagte Kläger und Revisionskläger (Kläger) erklärte am 30. Dezember 1999 seinen Austritt aus der katholischen Kirche. Am 1. April 2000 erfasste der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) diese für die sog. Grunddaten relevante Änderung. Die Arbeitgeberin des Klägers behielt mangels Änderung der Lohnsteuerkarte bezüglich der für den Kirchensteuerabzug maßgebenden Merkmale für das gesamte Streitjahr 2000 Kirchenlohnsteuer in Höhe von 11 753 DM ein. Diesen Betrag setzte das FA neben den Abschlusszahlungen für Kirchensteuer für 1998 und 1999 in Höhe von insgesamt 11 387,66 DM im erstmaligen Einkommensteuerbescheid 2000 vom 4. April 2001 als Sonderausgabe i.S. von § 10 Abs. 1 Nr. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) an. Nach Verrechnung mit im Streitjahr erstatteter Kirchenlohnsteuer für andere Veranlagungszeiträume wurden Sonderausgaben nach § 10 Abs. 1 Nr. 4 EStG in Höhe von 11 833 DM abgezogen. Der Einkommensteuerbescheid 2000 vom 4. April 2001 wurde --ebenso wie der am 8. November 2001 gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) ergangene Änderungsbescheid-- bestandskräftig. Er führte zu Kirchensteuererstattungen in Höhe von
11 753 DM.
Im Dezember 2004 überprüfte das FA, welchen Steuerpflichtigen Kirchensteuer erstattet worden war, die im Jahr der Erstattung nicht mit gezahlter Kirchensteuer hatte verrechnet werden können. Aufgrund des Ergebnisses der Überprüfung änderte es u.a. auch die Einkommensteuerfestsetzung des Klägers für das Streitjahr 2000 durch Bescheid vom 6. Januar 2005 dahingehend, dass es nur noch Kirchensteuer in Höhe von 80 DM als Sonderausgaben berücksichtigte.
Der Einspruch des Klägers, mit dem dieser die Auffassung vertrat, eine Erstattung von Kirchensteuer sei dann kein rückwirkendes Ereignis auf das Zahlungsjahr, wenn in diesem Jahr zu keinem Zeitpunkt eine Kirchensteuerpflicht bestanden habe, blieb ohne Erfolg. Das FA vertrat die Auffassung, der Bundesfinanzhof (BFH) differenziere im Urteil vom 7. Juli 2004 XI R 10/04 (BFHE 207, 28, BStBl II 2004, 1058) nicht nach dem Grund der Erstattung. Die Voraussetzungen des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO seien aufgrund der Rückzahlung der Kirchensteuer im Jahr 2001 gegeben. Der erstmalige Steuerbescheid sei nicht fehlerhaft, da der Ansatz der Kirchensteuer weder im Fall der Rechtsgrundlosigkeit ihres Einbehalts noch wegen der zu erwartenden Erstattung habe unterbleiben dürfen.
Das Finanzgericht (FG) hat die Klage mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2007, 1052 veröffentlichten Urteil abgewiesen.
Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO. Der Sonderausgabenabzug im Einkommensteuerbescheid 2000 sei von Anfang an mangels Kirchensteuerpflicht rechtswidrig gewesen. Dem FA sei zudem bei Erlass des Einkommensteuerbescheids 2000 die Erstattung der Kirchensteuer bekannt gewesen. Das BFH-Urteil in BFHE 207, 28, BStBl II 2004, 1058 beziehe sich auf Sachverhalte, in denen der Sonderausgabenabzug im ursprünglichen Einkommensteuerbescheid zunächst zulässig gewesen sei. Auf den Streitfall sei es nicht anwendbar.
Der Kläger beantragt, das FG-Urteil und den Einkommensteueränderungsbescheid vom 6. Januar 2005 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 15. Mai 2005 ersatzlos aufzuheben.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
AUS DEN GRÜNDEN
II.
Die Revision ist unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Zu Recht hat das FG erkannt, dass die Erstattung von Kirchensteuer, die im Jahr der Erstattung nicht mit gezahlter Kirchensteuer verrechnet werden kann, ein rückwirkendes Ereignis i.S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ist. Die im Jahr der Erstattung nicht verrechenbaren Rückzahlungen mindern die im Jahr der Zahlung bisher nach § 10 Abs. 1 Nr. 4 EStG anerkannten Sonderausgaben.
1. Aus dem im Einleitungssatz des § 10 Abs. 1 EStG verwendeten Begriff "Aufwendungen" folgt, dass bei jährlich wiederkehrenden Sonderausgaben wie z.B. der Kirchensteuer Erstattungen im Jahr der Zahlung von Sonderausgaben den steuerlich berücksichtigungsfähigen Betrag mindern (BFH-Urteil vom 27. September 1963 VI 123/62 U, BFHE 77, 592, BStBl III 1963, 536). Diese Rechtsprechung hat der BFH trotz gewisser steuersystematischer Bedenken aus Gründen der Rechtskontinuität und der Praktikabilität weitergeführt (vgl. z.B. BFH-Urteil in BFHE 207, 28, BStBl II 2004, 1058). An diesem Grundsatz hält der erkennende Senat fest. Andernfalls wären zahllose Veranlagungen (wegen des Kaskadeneffekts wiederholt) bei zum Teil nur geringfügigen Erstattungen zu ändern. Dies wäre weder den Steuerpflichtigen noch den Finanzbehörden zuzumuten. Sind die Erstattungsbeträge geringer als die im Erstattungsjahr gezahlten gleichartigen Sonderausgaben, ist eine Änderung der ursprünglichen Veranlagung nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO nicht angezeigt (a.A. Ortheil, Der Betrieb 2005, 466).
2. Sind im Jahr der Erstattung keine gleichartigen Sonderausgaben angefallen oder übersteigen die erstatteten Sonderausgaben die gezahlten (sog. Erstattungsüberhang), fehlt es insoweit an einer endgültigen wirtschaftlichen Belastung des Steuerpflichtigen. Der Sonderausgabenabzug im Zahlungsjahr ist über § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO zu korrigieren (BFH-Urteile in BFHE 207, 28, BStBl II 2004, 1058; vom 8. September 2004 XI R 28/04, BFH/NV 2005, 321, und XI R 52/03, nicht veröffentlicht; vom 23. Februar 2005 XI R 68/03, BFH/NV 2005, 1304; a.A. Endriss, Deutsches Steuerrecht --DStR-- 2005, 1171).
a) Nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ist ein Steuerbescheid zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern, soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat (rückwirkendes Ereignis).
Es ist in der Rechtsprechung des BFH anerkannt, dass das Ereignis nachträglich, d.h. nach Erlass des Steuerbescheids eingetreten sein muss und deshalb --anders als bei § 173 AO-- zur Zeit des Ergehens des Steuerbescheids noch nicht bestanden haben darf (vgl. BFH-Urteile vom 21. April 1988 IV R 215/85, BFHE 153, 485, BStBl II 1988, 863, und vom 26. Juli 1984 IV R 10/83, BFHE 141, 488, BStBl II 1984, 786).
Das Ereignis muss ferner den Sachverhalt verändern und dabei derart in die Vergangenheit zurückwirken, dass ein Bedürfnis besteht, eine schon endgültige (bestandskräftig getroffene) Regelung i.S. der §§ 118, 157 AO an die Sachverhaltsänderung anzupassen (BFH-Urteile vom 9. August 1990 X R 5/88, BFHE 162, 355, BStBl II 1991, 55; vom 27. September 1988 VIII R 432/83, BFHE 155, 83, 89, BStBl II 1989, 225, 228, m.w.N.).
b) In revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise hat das FG unter Beachtung dieser Rechtsgrundsätze im Streitfall der Tatsache, dass die im Jahr 2001 erstattete Kirchensteuer des Klägers nicht mit in diesem Jahr gezahlter Kirchensteuer verrechnet werden konnte (sog. Erstattungsüberhang), Rückwirkung beigemessen (a.A. v.Wedelstädt in Beermann/Gosch, AO § 175 Rz 54).
aa) Aus der Verwendung des Begriffs "Aufwendungen" in § 10 Abs. 1 Satz 1 EStG folgt nach ständiger Rechtsprechung des BFH, dass nur solche Ausgaben als Sonderausgaben berücksichtigt werden dürfen, durch die der Steuerpflichtige tatsächlich und endgültig wirtschaftlich belastet ist (vgl. BFH-Urteile vom 26. Juni 1996 X R 73/94, BFHE 181, 144, BStBl II 1996, 646; vom 28. Mai 1998 X R 7/96, BFHE 186, 521, BStBl II 1999, 95, m.w.N.; vom 24. April 2002 XI R 40/01, BFHE 199, 167, BStBl II 2002, 569).
bb) Entgegen der Auffassung des Klägers war die Einkommensteuerfestsetzung 2000 vom 4. April 2001 rechtmäßig. Zu Recht hat das FA in diesem Bescheid die von der Arbeitgeberin des Klägers einbehaltene Kirchenlohnsteuer als Sonderausgabe angesetzt. Zu diesem Zeitpunkt stand ebenso wenig wie bei Erlass des Änderungsbescheids 2000 vom 8. November 2001 fest, ob die Belastung des Klägers mit Kirchensteuer endgültig wegfallen würde. Angesichts der ständigen Rechtsprechung, wonach bei jährlich wiederkehrenden Sonderausgaben die erstatteten Beträge mit gleichartigen Sonderausgaben im Jahr der Erstattung zu verrechnen sind (vgl. oben II.1.), ist ohne Bedeutung, dass im Jahr der Zahlung zu keinem Zeitpunkt eine Kirchensteuerpflicht bestanden hatte und die Kirchensteuer somit ohne Rechtsgrund von der Arbeitgeberin des Klägers einbehalten worden war. Entscheidend ist vielmehr, dass sich später herausstellte, dass keine saldierungsfähigen Sonderausgaben vorlagen.
Im Streitfall kann dahinstehen, ob erst mit Durchführung der Veranlagung des Erstattungsjahres (im Streitfall Veranlagungszeitraum 2001) endgültig feststand, ob ein Erstattungsüberhang und damit ein auf das Zahlungsjahr (2000) rücktragfähiges Kompensationsvolumen entstand (insoweit ebenfalls offen Urteil des FG Münster vom 30. September 2005 4 K 4598/03 E, EFG 2006, 10; bejahend wohl Kulosa in Herrmann/Heuer/Raupach, § 10 EStG Rz 42). Das rückwirkende Ereignis (Eintritt des Erstattungsüberhangs) ist jedenfalls nicht vor dem Ende des Veranlagungszeitraums 2001 eingetreten (a.A. Thouet, DStR 2008, 29). Erst nach Ablauf des Erstattungsjahres standen der exakte Betrag und damit die konkreten Auswirkungen des Erstattungsüberhangs auf den Sonderausgabenabzug im Zahlungsjahr fest. Zutreffend hat das FG in diesem Zusammenhang darauf abgestellt, dass der Kläger z.B. durch den Wiedereintritt in eine (andere) Kirchengemeinschaft erneut eine Kirchensteuerpflicht hätte begründen können. Auch wenn die mit dem Kläger zusammen zur Einkommensteuer veranlagte und einer Kirchengemeinschaft angehörende Ehefrau des Klägers im Erstattungsjahr 2001 Einkünfte i.S. des § 2 Abs. 1 EStG erzielt hätte, hätte Verrechnungspotential für die im Jahr 2001 erstattete Kirchensteuer entstehen können. Vor Ablauf des Erstattungsjahres kann zudem nicht ausgeschlossen werden, dass eine Außenprüfung bzw. die Änderung von Steuerfestsetzungen früherer Jahre beispielsweise nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO zu Steuer- und damit auch Kirchensteuernachforderungen für zurückliegende Veranlagungszeiträume führen könnte.
cc) Im Übrigen ging offensichtlich auch der als Steuerberater tätige Kläger bei Abgabe der Einkommensteuererklärung für den Veranlagungszeitraum 2000 davon aus, die in diesem Jahr gezahlte Kirchensteuer sei als Sonderausgabe abziehbar; ein dies berücksichtigender Steuerbescheid sei somit rechtmäßig. Der Hinweis des Klägers in der mündlichen Verhandlung, im Mantelbogen der Einkommensteuererklärung und in der dazugehörigen Anlage N sei nur die gezahlte bzw. erstattete Kirchensteuer anzugeben und in den Vordrucken werde nicht danach gefragt, ob die Kirchenlohnsteuer mit oder ohne Rechtsgrund einbehalten worden sei, ist zwar zutreffend. Allerdings hat der Kläger die Sonderausgaben in einer von ihm erstellten Anlage zur Einkommensteuererklärung 2000 erläutert und auch in dieser Auflistung weist er nicht darauf hin, dass die Kirchenlohnsteuer 2000 ohne Rechtsgrund einbehalten worden sei und die Voraussetzungen für einen Sonderausgabenabzug im Veranlagungszeitraum 2000 deshalb nicht vorlägen.
dd) Die Erstattung der im Jahr 2000 einbehaltenen Kirchensteuer war auch ein Ereignis mit steuerlicher Wirkung für die Vergangenheit.
Unter Ereignis i.S. von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ist jede Begebenheit zu verstehen, die den Sachverhalt oder einen Teil des Sachverhaltes ausfüllt, der den gesetzlichen Tatbestand verwirklicht (§ 38 AO). Der Sachverhalt umfasst die gesamten Tatsachen, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen, Verhältnisse und Eigenschaften, die im konkreten Einzelfall vorliegen (Pahlke/Koenig, Abgabenordnung § 175 Rz 38). Diese Anforderung erfüllt die Erstattung (Rückzahlung) der im Jahr 2000 ohne Rechtsgrund einbehaltenen Kirchensteuer.
Angesichts der Tatsache, dass nach ständiger Rechtsprechung des BFH erstattete Kirchensteuer vorrangig mit gleichartigen Sonderausgaben des Erstattungsjahres zu verrechnen ist (vgl. oben II.1.), kommt diesem Ereignis (Erstattung zuviel einbehaltener Kirchenlohnsteuer) auch Rückwirkung zu, wenn nach Ablauf des Erstattungsjahres feststeht, dass erstattete Sonderausgaben nicht oder nicht in vollem Umfang mit Sonderausgaben des Erstattungsjahres verrechnet werden können.
c) Die Verfügung der Oberfinanzdirektion (OFD) Frankfurt vom 6. Juli 2005 - S 2221 A -8- St 111.08 (Deutsche Steuer-Zeitung 2005, 684) --die den Senat ohnehin nicht bindet-- steht einer Änderung der Einkommensteuerfestsetzung im Streitfall nicht entgegen. Nach der Verfügung können Steuerpflichtige Aufwendungen dann nicht als Sonderausgaben ansetzen, wenn absehbar ist, dass die wirtschaftliche Belastung nicht endgültig ist. An dieser Voraussetzung fehlt es im Streitfall (vgl. oben II.2.b bb). Im Übrigen hat die OFD Frankfurt die Folgen der Erstattung von Sonderausgaben in einem späteren Veranlagungszeitraum durch Verfügung vom 4. August 2008 - S 2221 A -8- St 218 (ESt-Kartei HE § 10 EStG Fach 5 Karte 11) neu geregelt. In Beispiel 3 geht die OFD Frankfurt in einem dem Streitfall vergleichbaren Fall davon aus, dass die Einkommensteuerveranlagung des Zahlungsjahres nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO zu ändern ist.
3. § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AO steht der Änderung der Steuerfestsetzung für das Jahr 2000 schon deshalb nicht entgegen, weil bei Ergehen des angefochtenen Änderungsbescheids die steuerliche Behandlung erstatteter, aber im Erstattungsjahr nicht anrechenbarer Kirchensteuer noch nicht abschließend geklärt war (so auch BFH-Beschluss vom 16. August 2006 XI B 168/05, BFH/NV 2006, 2033).
4. Da im Streitfall die Änderungsvorschrift des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO greift, lässt der Senat dahinstehen, ob der Kläger nach dem Grundsatz von Treu und Glauben verpflichtet wäre, die Zustimmung zur Änderung der Steuerfestsetzung 2000 nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO zu erteilen.