EuGH: Erstattung von unionsrechtswidrig erhobener Steuer
EuGH, Urteil vom 18.4.2013 - C-565/11, Irimie
Tenor
Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass es einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, die die bei der Erstattung einer unionsrechtswidrig erhobenen Steuer zu zahlenden Zinsen auf die Zinsen beschränkt, die ab dem auf das Datum des Antrags auf Erstattung der Steuer folgenden Tag angefallen sind.
Aus den Gründen
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Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Unionsrechts im Zusammenhang mit einer nationalen Regelung, die die bei der Erstattung einer unionsrechtswidrig erhobenen Steuer zu zahlenden Zinsen auf die Zinsen beschränkt, die ab dem auf das Datum des Antrags auf Erstattung der Steuer folgenden Tag angefallen sind.
2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Irimie, einer rumänischen Staatsangehörigen, und der Administraţia Finanţelor Publice Sibiu (Amt für öffentliche Finanzen Sibiu) sowie der Administraţia Fondului pentru Mediu (Umweltfonds-Amt) über die Zahlung von Zinsen bei der Erstattung einer unionsrechtswidrig erhobenen Steuer.
Rumänisches Recht
Dringlichkeitsverordnung Nr. 50/2008 der Regierung
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In der rumänischen Rechtsordnung war die Umweltsteuer für Kraftfahrzeuge zu dem im Ausgangsverfahren maßgebenden Zeitpunkt durch die Dringlichkeitsverordnung Nr. 50/2008 der Regierung zur Einführung einer Umweltsteuer für Kraftfahrzeuge (Ordonanţă de urgenţă a Guvernului nr. 50/2008 pentru instituirea taxei pe poluare pentru autovehicule) vom 21. April 2008 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 327 vom 25. April 2008) (im Folgenden: OUG Nr. 50/2008) geregelt.
Verordnung Nr. 92/2003 der Regierung
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Das Steuerverfahren wurde durch die Verordnung Nr. 92 der Regierung über die Steuerverfahrensordnung (Ordonanţa Guvernului nr. 92 privind Codul de procedură fiscală) vom 24. Dezember 2003 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 941 vom 29. Dezember 2003) in geänderter Fassung (im Folgenden: OG Nr. 92/2003) eingeführt.
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Art. 70 („Frist für die Entscheidung über die Anträge von Steuerschuldnern") der OG Nr. 92/2003 sieht vor:
„(1) Die Finanzbehörde hat über den vom Steuerschuldner gemäß dem vorliegenden Gesetz eingereichten Antrag innerhalb einer Frist von 45 Tagen ab dessen Registrierung zu entscheiden.
(2) In den Fällen, in denen für die Entscheidung über den Antrag weitere Informationen erforderlich sind, verlängert sich diese Frist um den Zeitraum von dem Tag, an dem das Informationsgesuch gestellt wird, bis zum Tag des Erhalts der angeforderten Informationen."
6
Art. 124 („Zinssätze für aus öffentlichen Geldern zu erstattende oder zurückzuzahlende Beträge") der OG Nr. 92/2003 bestimmt in Abs. 1:
„Für die aus öffentlichen Geldern zu erstattenden oder zurückzuzahlenden Beträge hat der Steuerschuldner Anspruch auf Zinsen ab dem auf den Ablauf der in ... Art. 70 vorgesehenen Frist folgenden Tag bis zum Tag des Erlöschens der Schuld aus einem der gesetzlich vorgesehenen Gründe. Die Zinsen werden auf Antrag des Abgabenschuldners gewährt."
Gesetz über verwaltungsrechtliche Streitigkeiten Nr. 554/2004
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Verwaltungsrechtliche Streitigkeiten sind im rumänischen Recht durch das Gesetz über verwaltungsrechtliche Streitigkeiten Nr. 554 (Legea contenciosului administrativ nr. 554) vom 2. Dezember 2004 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 1154 vom 7. Dezember 2004) in geänderter Fassung (im Folgenden: Gesetz Nr. 554/2004) geregelt.
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Art. 1 („Gründe für die Anrufung des Gerichts") des Gesetzes Nr. 554/2004 sieht in Abs. 1 vor:
„Wer sich von einer Behörde durch einen Verwaltungsakt oder die unterbliebene Bearbeitung eines Antrags in der gesetzlich festgelegten Frist in seinen Rechten oder in einem berechtigten Interesse verletzt fühlt, kann sich an das zuständige Verwaltungsgericht wenden, um die Nichtigerklärung des Akts, die Anerkennung des geltend gemachten Rechts oder legitimen Interesses und den Ersatz des erlittenen Schadens zu erreichen. ..."
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Art. 8 („Klagegegenstand") des Gesetzes Nr. 554/2004 bestimmt in Abs. 1:
„Wer durch einen einseitigen Verwaltungsakt in einem gesetzlich anerkannten Recht oder einem berechtigten Interesse verletzt ist und mit der Antwort auf die zuvor an die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen hat, gerichteten Beschwerde nicht einverstanden ist oder innerhalb der Frist ... keine Antwort erhalten hat, kann beim zuständigen Verwaltungsgericht eine Klage erheben, die auf die vollständige oder teilweise Nichtigerklärung des Akts, den Ersatz des erlittenen Schadens und gegebenenfalls den Ersatz des immateriellen Schadens gerichtet ist. Auch wer sich aufgrund der verspäteten Bearbeitung seines Antrags oder der ungerechtfertigten Weigerung, seinen Antrag zu bearbeiten, in seinen gesetzlich anerkannten Rechten verletzt sieht, kann das Verwaltungsgericht anrufen ..."
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
Im Jahr 2007 kaufte Frau Irimie ein in Deutschland zugelassenes Kraftfahrzeug. Um es in Rumänien zuzulassen, zahlte sie gemäß dem Bescheid der Administraţia Finanţelor Publice Sibiu vom 4. Juli 2008 die im OUG Nr. 50/2008 vorgesehene Umweltsteuer in Höhe von 6 707 Lei.
Am 31. August 2009 leitete Frau Irimie beim Tribunal Sibiu (Landgericht Sibiu) ein Verfahren ein, um zu erreichen, dass die Administraţia Finanţelor Publice Sibiu und die Administraţia Fondului pentru Mediu verurteilt würden, ihr zum einen den als Umweltsteuer entrichteten Betrag zu erstatten und zum anderen die seit dessen Entrichtung angefallenen Zinsen zu zahlen.
Das vorlegende Gericht stellt fest, dass der Teil des Rechtsstreits, der den Antrag auf Erstattung des als Umweltsteuer entrichteten Betrags betrifft, angesichts des Urteils des Gerichtshofs vom 7. April 2011, Tatu (C‑402/09, Slg. 2011, I‑2711), und der späteren dieses Urteil bestätigenden Rechtsprechung keine größeren Probleme aufwerfe.
Dem Antrag auf Zahlung der auf den Betrag der Umweltsteuer entfallenden Zinsen, berechnet ab dem Zeitpunkt der Entrichtung der Steuer, könne es dagegen aufgrund von Art. 70 in Verbindung mit Art. 124 der OG Nr. 92/2003 nicht stattgeben. Wie das vorlegende Gericht in seiner Antwort auf das Klarstellungsersuchen des Gerichtshofs erläutert hat, ergibt sich nämlich aus einer ständigen und eindeutigen innerstaatlichen Rechtsprechung, dass die Zinsen auf die aus öffentlichen Geldern zu erstattenden Beträge nach diesen Artikeln erst ab dem auf das Datum des Erstattungsantrags folgenden Tag zuerkannt werden.
Das vorlegende Gericht hegt jedoch Zweifel an der Vereinbarkeit einer solchen Regelung mit dem Unionsrecht, insbesondere mit den Grundsätzen der Äquivalenz, der Effektivität und der Verhältnismäßigkeit sowie mit dem in Art. 17 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union in Verbindung mit Art. 6 EUV verbürgten Eigentumsrecht.
Unter diesen Umständen hat das Tribunal Sibiu beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Können die sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebenden Grundsätze der Äquivalenz, der Effektivität und der Verhältnismäßigkeit von Rechtsbehelfen gegen Verstöße gegen das Unionsrecht, die Einzelnen gegenüber durch Anwendung von nicht mit dem Unionsrecht zu vereinbarenden Rechtsvorschriften begangen werden, in Verbindung mit dem Eigentumsrecht aus Art. 6 EUV und aus Art. 17 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin ausgelegt werden, dass sie einer nationalen Rechtsvorschrift entgegenstehen, die die Höhe des dem Einzelnen, dessen Recht verletzt wurde, zu erstattenden Schadens beschränkt?
Zur Vorlagefrage
Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass mit der vorgelegten Frage geklärt werden soll, ob das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, die die bei der Erstattung einer unionsrechtswidrig erhobenen Steuer zu zahlenden Zinsen auf die Zinsen beschränkt, die ab dem auf das Datum des Antrags auf Erstattung der Steuer folgenden Tag angefallen sind.
Frau Irimie und die Europäische Kommission sind der Ansicht, dass diese Frage zu bejahen sei, während die rumänische, die spanische und die portugiesische Regierung geltend machen, dass das Unionsrecht einer Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht entgegenstehe.
Vorab ist daran zu erinnern, dass der Gerichtshof bereits die Gelegenheit hatte, festzustellen, dass das Unionsrecht einer Steuer wie der mit der OUG Nr. 50/2008 in der im Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung eingeführten entgegensteht, deren Wirkung darin besteht, die Einfuhr und das Inverkehrbringen von in anderen Mitgliedstaaten erworbenen Gebrauchtfahrzeugen in Rumänien zu erschweren (Urteil Tatu, Randnrn. 58 und 61).
In Übereinstimmung mit den Ausführungen des Generalanwalts in Nr. 19 seiner Schlussanträge ist darauf hinzuweisen, dass es nicht Sache des Gerichtshofs ist, die von der Klägerin des Ausgangsverfahrens erhobene Klage rechtlich einzuordnen. Im vorliegenden Fall obliegt es dieser, Wesen und Grundlage ihrer Klage unter Aufsicht des vorlegenden Gerichts näher darzulegen (vgl. entsprechend Urteil vom 13. März 2007, Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, C‑524/04, Slg. 2007, I‑2107, Randnr. 109 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Nach ständiger Rechtsprechung stellt der Anspruch auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben hat, eine Folge und eine Ergänzung der Rechte dar, die den Einzelnen aus den Bestimmungen des Unionsrechts erwachsen, die diesen Abgaben entgegenstehen. Der Mitgliedstaat ist also grundsätzlich verpflichtet, unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobene Abgaben zu erstatten (Urteile vom 6. September 2011, Lady & Kid u. a., C‑398/09, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 17, und vom 19. Juli 2012, Littlewoods Retail u. a., C‑591/10, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 24).
Es ist außerdem daran zu erinnern, dass der Einzelne, wenn ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen Vorschriften des Unionsrechts Steuern erhoben hat, Anspruch auf Erstattung nicht nur der zu Unrecht erhobenen Steuer hat, sondern auch der Beträge, die im unmittelbaren Zusammenhang mit dieser Steuer an diesen Staat gezahlt oder von diesem einbehalten worden sind. Darunter fallen auch die Einbußen aufgrund der mangelnden Verfügbarkeit von Geldbeträgen infolge der vorzeitigen Fälligkeit der Steuer (vgl. Urteile vom 8. März 2001, Metallgesellschaft u. a., C‑397/98 und C‑410/98, Slg. 2001, I‑1727, Randnrn. 87 bis 89, vom 12. Dezember 2006, Test Claimants in the FII Group Litigation, C‑446/04, Slg. 2006, I‑11753, Randnr. 205, Littlewoods Retail u. a., Randnr. 25, sowie vom 27. September 2012, Zuckerfabrik Jülich u. a., C‑113/10, C‑147/10 und C‑234/10, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 65).
Daraus folgt, dass sich der Grundsatz, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, die unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Steuerbeträge zuzüglich Zinsen zu erstatten, aus dem Unionsrecht ergibt (Urteile Littlewoods Retail u. a., Randnr. 26, sowie Zuckerfabrik Jülich u. a., Randnr. 66).
Der Gerichtshof hat insoweit bereits entschieden, dass es in Ermangelung einer Regelung der Union der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten zukommt, die Bedingungen für die Zahlung solcher Zinsen, insbesondere den Zinssatz und die Berechnungsmethode für die Zinsen, festzulegen. Diese Bedingungen müssen den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität entsprechen, d. h., sie dürfen nicht ungünstiger sein als bei ähnlichen Klagen, die auf Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts gestützt sind, und sie dürfen nicht so ausgestaltet sein, dass sie die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (vgl. in diesem Sinne Urteil Littlewoods Retail u. a., Randnrn. 27 und 28 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
Zum Äquivalenzgrundsatz ist festzustellen, dass der Gerichtshof über keinerlei Anhaltspunkte verfügt, die einen Zweifel an der Vereinbarkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung mit diesem Grundsatz hervorrufen könnten.
Nach der dem Gerichtshof vorliegenden Akte ist nämlich die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung, nach der Zinsen erst ab dem auf das Datum des Antrags auf Erstattung der zu Unrecht erhobenen Steuer folgenden Tag zu zahlen sind, offenbar auf alle aus öffentlichen Geldern zu erstattenden Beträge anwendbar, sowohl auf die unter Verstoß gegen das Unionsrecht als auch auf die unter Verstoß gegen das nationale Recht erhobenen, was zu prüfen jedoch Sache des vorlegenden Gerichts ist.
Der Effektivitätsgrundsatz verlangt im Fall der Erstattung einer von einem Mitgliedstaat unionsrechtswidrig erhobenen Steuer, dass die nationalen Vorschriften, die u. a. die Berechnung eventuell zu zahlender Zinsen regeln, nicht dazu führen, dass dem Steuerpflichtigen eine angemessene Entschädigung für die Einbußen, die er durch die zu Unrecht gezahlte Steuer erlitten hat, vorenthalten wird (vgl. Urteil Littlewoods Retail u. a., Randnr. 29).
Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die die Zinsen auf die Zinsen beschränkt, die ab dem auf das Datum des Antrags auf Erstattung der zu Unrecht erhobenen Steuer folgenden Tag angefallen sind, diesem Erfordernis nicht genügt.
Die Einbußen hängen nämlich u. a. davon ab, wie lange der unter Verstoß gegen das Unionsrecht zu Unrecht gezahlte Betrag nicht zur Verfügung stand, und entstehen somit grundsätzlich im Zeitraum vom Tag der zu Unrecht erfolgten Zahlung der fraglichen Steuer bis zum Tag ihrer Erstattung.
Nach alledem ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, die die bei der Erstattung einer unionsrechtswidrig erhobenen Steuer zu zahlenden Zinsen auf die Zinsen beschränkt, die ab dem auf das Datum des Antrags auf Erstattung der Steuer folgenden Tag angefallen sind.
Kosten
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.