EuGH: Erstattung bei zu Unrecht gezahlter Mehrwertsteuer
EuGH, Urteil vom 11.4.2013 - C-138/12, Rusedespred
BBL2013-981-1
Tenor
1. Der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer in seiner durch die Rechtsprechung zu Art. 203 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem konkretisierten Form ist dahin auszulegen, dass er es der Finanzverwaltung verbietet, dem Erbringer einer steuerfreien Leistung auf der Grundlage einer nationalen Rechtsvorschrift zur Umsetzung von Art. 203 die Erstattung der einem Kunden fälschlich in Rechnung gestellten Mehrwertsteuer mit der Begründung zu versagen, dass er die fehlerhafte Rechnung nicht berichtigt habe, obwohl dem Kunden das Recht auf Abzug dieser Steuer von der Finanzverwaltung endgültig versagt wurde und dies zur Folge hat, dass die im nationalen Recht vorgesehene Berichtigungsregelung nicht mehr anwendbar ist.
2. Ein Steuerpflichtiger kann sich auf den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer in seiner durch die Rechtsprechung zu Art. 203 der Richtlinie 2006/112 konkretisierten Form berufen, um einer nationalen Regelung entgegenzutreten, die die Erstattung der fälschlich in Rechnung gestellten Mehrwertsteuer von der Berichtigung der fehlerhaften Rechnung abhängig macht, obwohl das Recht auf Abzug dieser Steuer endgültig versagt wurde und dies zur Folge hat, dass die im nationalen Recht vorgesehene Berichtigungsregelung nicht mehr anwendbar ist.
Aus den Gründen
1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1).
2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits, den die Rusedespred OOD (im Folgenden: Rusedespred) gegen den Direktor na Direktsia „Obzhalvane i upravlenie na izpalnenieto" - Varna pri Tsentralno upravlenie na Natsionalnata agentsia za prihodite (Direktor der Direktion „Anfechtung und Vollzugsverwaltung" Varna bei der Zentralverwaltung der Nationalen Agentur für Einnahmen, im Folgenden: Direktor) führt, weil dieser sich weigert, ihr die Mehrwertsteuer, die sie ihrem Kunden in Rechnung gestellt hat, zu erstatten, nachdem die Finanzverwaltung diesem das Recht auf Vorsteuerabzug mit der Begründung versagt hat, dass die fragliche Leistung nicht steuerpflichtig sei.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
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Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 bestimmt:
„Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:
a) Lieferungen von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt tätigt;
...
c) Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt erbringt;
..."
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Art. 203 der Richtlinie lautet:
„Die Mehrwertsteuer wird von jeder Person geschuldet, die diese Steuer in einer Rechnung ausweist."
Bulgarisches Recht
5
Art. 12 Abs. 1 des Zakon za danak varhu dobavenata stoynost (Mehrwertsteuergesetz, im Folgenden: ZDDS) sieht vor:
„Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen im Sinne der Art. 6 und 9, die von einem Steuerpflichtigen gemäß diesem Gesetz bewirkt werden und deren Leistungsort im Inland liegt, sowie von einem Steuerpflichtigen durchgeführte Umsätze, die dem Nullsatz unterliegen, sind steuerpflichtige Umsätze, sofern dieses Gesetz nichts anderes bestimmt."
6
Gemäß Art. 45 Abs. 3 ZDDS gilt Folgendes:
„Die Lieferung von Gebäuden oder Gebäudeteilen, die nicht neu sind, die Lieferung des dazugehörigen Grund und Bodens sowie die Begründung und Übertragung anderer dinglicher Rechte daran ... sind steuerfreie Umsätze."
7
Nach Art. 70 Abs. 5 ZDDS besteht kein Recht auf Vorsteuerabzug, wenn die Mehrwertsteuer zu Unrecht in Rechnung gestellt wurde.
8
Nach Art. 85 ZDDS wird die Steuer von jedem geschuldet, der die Mehrwertsteuer in einer Rechnung und/oder in einer Anzeige im Sinne von Art. 112 dieses Gesetzes ausweist.
9
Art. 116 ZDDS bestimmt:
„(1) Berichtigungen und Zusätze in Rechnungen und in Anzeigen zu diesen sind nicht zulässig. Unrichtig erstellte oder berichtigte Dokumente sind zu annullieren, und es sind neue Dokumente zu erstellen.
...
(3) Als unrichtig erstellte Dokumente gelten auch ausgestellte Rechnungen und Anzeigen zu diesen, in denen die Mehrwertsteuer ausgewiesen wurde, obwohl keine auszuweisen gewesen wäre.
(4) Wenn unrichtig erstellte oder berichtigte Dokumente in den Büchern des Lieferers bzw. Dienstleistenden oder des Erwerbers bzw. Empfängers wiedergegeben sind, ist über ihre Annullierung zudem für jede der Parteien ein Protokoll zu erstellen, das Folgendes enthält:
1. den Grund für die Annullierung;
2. die Nummer und das Datum des Dokuments, das annulliert wird;
3. die Nummer und das Datum des ausgestellten neuen Dokuments;
4. die Unterschriften der Personen, die das Protokoll für jede der Parteien erstellt haben.
(5) Alle Exemplare der annullierten Dokumente sind beim Aussteller aufzubewahren; ihre Verbuchung durch den Lieferer oder Dienstleistenden und den Erwerber oder Empfänger erfolgt nach Maßgabe der Durchführungsvorschriften zu diesem Gesetz."
Die Erstattung zu Unrecht gezahlter Steuer ist in den Art. 128 und 129 des Danachno-osiguritelen protsesualen kodeks (Steuer- und Versicherungsprozessordnung) geregelt.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Am 15. August 2009 stellte Rusedespred der Esi Trade EOOD (im Folgenden: Esi Trade) eine Rechnung über den Verkauf eines Gebäudes und dessen Renovierung aus. In dieser Rechnung waren die Preise für das Gebäude und seine Renovierung, die Grunderwerbsteuer und die Eintragungsgebühren sowie die Mehrwertsteuer ausgewiesen.
Da der Verkauf dieses Gebäudes als von der Mehrwertsteuer befreit galt, wurde die Steuer auf der Grundlage der drei anderen Positionen dieser Rechnung, d. h. der Renovierungskosten, der Grunderwerbsteuer und der Eintragungsgebühren, berechnet.
Im Folgenden fügte Rusedespred die Rechnung ihrer Steuererklärung für den betreffenden Zeitraum bei, während Esi Trade von ihrem Recht auf Abzug der in Rechnung gestellten Mehrwertsteuer Gebrauch machte.
Im Laufe des Jahres 2010 führte die Finanzverwaltung bei Esi Trade eine Steuerprüfung durch und versagte ihr mit Steuerprüfungsbescheid vom 18. Juni 2010 das Recht, die in der fraglichen Rechnung ausgewiesene Mehrwertsteuer in Abzug zu bringen. Sie vertrat die Auffassung, dass alle in Rechnung gestellten Umsätze befreit seien, so dass die Ausweisung von Mehrwertsteuer in dieser Rechnung nicht gerechtfertigt sei. Dieser Bescheid wurde am 4. April 2011 bestandskräftig.
Am 9. Mai 2011 stellte Rusedespred bei der Finanzverwaltung einen Antrag auf Erstattung des zu Unrecht in Rechnung gestellten Betrags. Die Finanzverwaltung ordnete daraufhin eine Überprüfung von Rusedespred an und lehnte die beantragte Erstattung mit Steuerprüfungsbescheid vom 2. Juni 2011 mit der Begründung ab, dass keine Zahlung nicht geschuldeter Mehrwertsteuer festzustellen sei. Gemäß Art. 85 ZDDS könne die Mehrwertsteuer, die in der am 15. August 2009 ausgestellten Rechnung ausgewiesen sei, von Rusedespred verlangt werden, weil sie die Steuer in dieser Rechnung angegeben habe.
Nachdem der Direktor den Steuerprüfungsbescheid vom 2. Juni 2011 mit Entscheidung vom 25. August 2011 bestätigt hatte, erhob Rusedespred Klage beim Administrativen sad Varna und machte geltend, die Finanzverwaltung habe die Erstattung der für die befreite Lieferung rechtsgrundlos gezahlten Mehrwertsteuer zu Unrecht abgelehnt, da sie zuvor dem Rechnungsempfänger mit bestandskräftigem Steuerprüfungsbescheid das Recht auf Abzug dieser Steuer versagt habe.
Im Ausgangsverfahren trug der Direktor vor, dass die in der fraglichen Rechnung ausgewiesene Steuer nach Art. 85 ZDDS geschuldet sei. Meine der Steuerpflichtige, ihm sei beim Ausstellen der Rechnung ein Fehler unterlaufen, habe er nach Art. 116 ZDDS die Möglichkeit, diesen Fehler zu korrigieren.
Das vorlegende Gericht führt aus, dass im vorliegenden Fall Esi Trade das Recht auf Abzug der in Rechnung gestellten Mehrwertsteuer mit einem bestandskräftigen Steuerprüfungsbescheid versagt worden sei. Eine Gefährdung des Mehrwertsteueraufkommens durch das Recht auf Vorsteuerabzug sei „vollständig und unbestreitbar" ausgeschlossen. Daher verstoße es gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität, wenn vom betroffenen Lieferer bzw. Dienstleistenden auf der Grundlage von Art. 85 ZDDS die Zahlung dieser Steuer verlangt werde.
Das vorlegende Gericht stellt fest, dass Rusedespred entgegen den Ausführungen der Finanzverwaltung im vorliegenden Fall nicht die Möglichkeit habe, die falsche Rechnung zu berichtigen. Das in Art. 116 ZDDS geregelte Berichtigungsverfahren für fehlerhaft erstellte Dokumente verlange die Annullierung des so erstellten Steuerbelegs. Eine solche Annullierung der Rechnung sei aber nicht zulässig, da die Lieferung bereits Gegenstand einer Steuerprüfung gewesen und dem Empfänger der Lieferung mit einem bestandskräftigen Steuerprüfungsbescheid der Vorsteuerabzug versagt worden sei.
Unter diesen Umständen fragt sich das vorlegende Gericht, ob der Steuerpflichtige seinen Anspruch auf Erstattung von fälschlich in Rechnung gestellter Mehrwertsteuer auf die unionsrechtlichen Grundsätze des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems stützen kann. Da der Administrativen sad Varna der Ansicht ist, dass die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits von der Auslegung des Unionsrechts abhängt, hat er beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist eine steuerpflichtige Person nach dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität innerhalb der festgelegten Verjährungsfrist berechtigt, die Erstattung von fälschlich in Rechnung gestellter und nicht geschuldeter Mehrwertsteuer zu verlangen, wenn nach dem nationalen Recht der Umsatz, für den sie die Steuer berechnet hat, steuerbefreit ist, die Gefährdung des Steueraufkommens beseitigt ist und die im nationalen Gesetz vorgesehene Regelung der Berichtigung von Rechnungen nicht anwendbar ist?
2. Stehen das gemeinsame Mehrwertsteuersystem sowie die Grundsätze der Neutralität, der Effektivität und der Gleichbehandlung einer auf eine nationale Bestimmung zur Umsetzung von Art. 203 der Richtlinie 2006/112 gestützten Weigerung einer für Einnahmen zuständigen Stelle entgegen, einer steuerpflichtigen Person die von ihr in einer Rechnung ausgewiesene Mehrwertsteuer zu erstatten, wenn diese Steuer, weil es sich um einen steuerfreien Umsatz handelt, nicht geschuldet wird, jedoch fälschlich in Rechnung gestellt, berechnet und gezahlt wurde, sofern bereits dem Erwerber oder Dienstleistungsempfänger mit einem bestandskräftigen Steuerprüfungsbescheid das Recht auf Vorsteuerabzug in Bezug auf denselben Umsatz mit der Begründung versagt wurde, dass der Lieferer oder Dienstleistende die Steuer zu Unrecht berechnet habe?
3. Kann sich die steuerpflichtige Person unmittelbar auf die das gemeinsame Mehrwertsteuersystem beherrschenden Grundsätze, konkret auf die Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Effektivität, berufen, um einer nationalen Regelung oder deren Anwendung durch die Steuerbehörden oder die Gerichte, durch die die genannten Grundsätze verletzt werden, bzw. einem die genannten Grundsätze verletzenden Fehlen einer nationalen Regelung entgegenzutreten?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten und zur zweiten Frage
Mit seiner ersten und seiner zweiten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer in seiner durch die Rechtsprechung zu Art. 203 der Richtlinie 2006/112 konkretisierten Form dahin auszulegen ist, dass er es der Finanzverwaltung verbietet, dem Erbringer einer steuerfreien Leistung auf der Grundlage einer nationalen Rechtsvorschrift zur Umsetzung von Art. 203 die Erstattung der einem Kunden fälschlich in Rechnung gestellten Mehrwertsteuer mit der Begründung zu versagen, dass er die fehlerhafte Rechnung nicht berichtigt habe, obwohl dem Kunden das Recht auf Abzug dieser Steuer von der Finanzverwaltung endgültig versagt wurde und dies zur Folge hat, dass die im nationalen Recht vorgesehene Berichtigungsregelung nicht mehr anwendbar ist.
Zur Beantwortung dieser Fragen ist erstens darauf hinzuweisen, dass nach Art. 203 der Richtlinie 2006/112 die Mehrwertsteuer von jeder Person geschuldet wird, die diese Steuer in einer Rechnung ausweist.
Hierzu geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass diese Personen die in einer Rechnung ausgewiesene Mehrwertsteuer unabhängig davon schulden, ob sie aufgrund eines mehrwertsteuerpflichtigen Umsatzes verpflichtet sind, diese zu entrichten (vgl. Urteile vom 18. Juni 2009, Stadeco, C‑566/07, Slg. 2009, I‑5295, Randnr. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 31. Januar 2013, Stroy trans, C‑642/11, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 29).
Mit der Regelung, wonach die in einer Rechnung ausgewiesene Mehrwertsteuer geschuldet wird, soll Art. 203 der Richtlinie 2006/112 einer Gefährdung des Steueraufkommens entgegenwirken, die sich aus dem Recht auf Vorsteuerabzug nach den Art. 167 ff. der Richtlinie ergeben kann (vgl. in diesem Sinne Urteile Stadeco, Randnr. 28, und Stroy trans, Randnr. 32). Hierzu geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass eine solche Gefahr im Ausgangsverfahren nicht besteht, weil dem Empfänger der fraglichen Rechnung das Recht auf Vorsteuerabzug von der Finanzverwaltung endgültig versagt wurde.
Zweitens ist in Bezug auf die Erstattung von fälschlich in Rechnung gestellter Mehrwertsteuer daran zu erinnern, dass die Richtlinie 2006/112 keine Bestimmung über die Berichtigung zu Unrecht in Rechnung gestellter Mehrwertsteuer durch den Aussteller der Rechnung enthält und dass es unter diesen Umständen grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten ist, die Voraussetzungen festzulegen, unter denen zu Unrecht in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer berichtigt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. September 2000, Schmeink & Cofreth und Strobel, C‑454/98, Slg. 2000, I‑6973, Randnrn. 48 und 49, sowie Stadeco, Randnr. 35).
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es Aufgabe der Mitgliedstaaten, zur Gewährleistung der Neutralität der Mehrwertsteuer in ihrer innerstaatlichen Rechtsordnung die Möglichkeit vorzusehen, jede zu Unrecht in Rechnung gestellte Steuer zu berichtigen, wenn der Rechnungsaussteller seinen guten Glauben nachweist (vgl. Urteile vom 13. Dezember 1989, Genius, C‑342/87, Slg. 1989, 4227, Randnr. 18, sowie Stadeco, Randnr. 36).
Jedoch verlangt der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer, wenn der Rechnungsaussteller die Gefährdung des Steueraufkommens rechtzeitig und vollständig beseitigt hat, dass die zu Unrecht in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer berichtigt werden kann, ohne dass die Mitgliedstaaten eine solche Berichtigung vom guten Glauben des Rechnungsausstellers abhängig machen dürfen. Diese Berichtigung darf nicht im Ermessen der Finanzverwaltung stehen (vgl. Urteile Schmeink & Cofreth und Strobel, Randnrn. 58 und 68, sowie Stadeco, Randnrn. 37 und 38).
Drittens ist zu beachten, dass die Mitgliedstaaten zwar Maßnahmen erlassen dürfen, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu verhindern (vgl. Urteil Stadeco, Randnr. 39). Insbesondere kann mit der Bedingung, dass eine fehlerhafte Rechnung zu berichtigen ist, bevor die fälschlich in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer erstattet werden kann, grundsätzlich sichergestellt werden, dass eine Gefährdung des Steueraufkommens ausgeschlossen ist (vgl. Urteil Stadeco, Randnr. 42).
Diese Maßnahmen dürfen jedoch nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieser Ziele erforderlich ist, und dürfen daher nicht so eingesetzt werden, dass sie die Neutralität der Mehrwertsteuer in Frage stellen, die ein Grundprinzip des durch das einschlägige Unionsrecht geschaffenen gemeinsamen Mehrwertsteuersystems ist (vgl. Urteil Stadeco, Randnr. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Wird die Erstattung der Mehrwertsteuer in Anbetracht der Bedingungen, unter denen Anträge auf Steuererstattungen gestellt werden können, unmöglich oder übermäßig erschwert, können der Neutralitäts- und der Effektivitätsgrundsatz folglich gebieten, dass die Mitgliedstaaten die erforderlichen Mittel und Verfahrensmodalitäten vorsehen, die es dem Steuerpflichtigen ermöglichen, die zu Unrecht in Rechnung gestellte Steuer erstattet zu bekommen (vgl. Urteil Stadeco, Randnr. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).
In Bezug auf das Ausgangsverfahren geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass das bulgarische Recht grundsätzlich die Möglichkeit vorsieht, die fälschlich in Rechnung gestellte Steuer erstattet zu bekommen, die Ausübung dieses Rechts aber davon abhängig macht, dass die fehlerhafte Rechnung zuvor berichtigt wird. Wie in Randnr. 28 des vorliegenden Urteils ausgeführt, kann durch ein solches Erfordernis sichergestellt werden, dass eine Gefährdung des Steueraufkommens ausgeschlossen ist.
Aus der Vorlageentscheidung geht aber auch hervor, dass Rusedespred nach dem geltenden nationalen Recht nicht mehr die Möglichkeit hat, die fragliche Rechnung zu berichtigen, nachdem dem Rechnungsempfänger das Recht auf Abzug der darin ausgewiesenen Mehrwertsteuer von der Finanzverwaltung endgültig versagt wurde.
Wie das vorlegende Gericht außerdem ausführt, ist eine Gefährdung des Steueraufkommens durch Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug völlig ausgeschlossen, weil dieses Recht dem Empfänger der fraglichen Rechnung von der Finanzverwaltung endgültig versagt wurde.
Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass es über dasjenige hinausgeht, was erforderlich ist, um das mit Art. 203 der Richtlinie 2006/112 verfolgte Ziel des Ausschlusses einer Gefährdung des Steueraufkommens zu erreichen, wenn die Berichtigung der zu Unrecht in einer Rechnung ausgewiesenen Mehrwertsteuer von der - unerfüllbar gewordenen - Bedingung abhängig gemacht wird, dass diese Rechnung berichtigt worden ist.
Nach alledem ist auf die erste und die zweite Frage zu antworten, dass der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer in seiner durch die Rechtsprechung zu Art. 203 der Richtlinie 2006/112 konkretisierten Form dahin auszulegen ist, dass er es der Finanzverwaltung verbietet, dem Erbringer einer steuerfreien Leistung auf der Grundlage einer nationalen Rechtsvorschrift zur Umsetzung von Art. 203 die Erstattung der einem Kunden fälschlich in Rechnung gestellten Mehrwertsteuer mit der Begründung zu versagen, dass er die fehlerhafte Rechnung nicht berichtigt habe, obwohl dem Kunden das Recht auf Abzug dieser Steuer von der Finanzverwaltung endgültig versagt wurde und dies zur Folge hat, dass die im nationalen Recht vorgesehene Berichtigungsregelung nicht mehr anwendbar ist.
Zur dritten Frage
Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob sich ein Steuerpflichtiger auf den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer in seiner durch die Rechtsprechung zu Art. 203 der Richtlinie 2006/112 konkretisierten Form berufen kann, um einer Bestimmung des nationalen Rechts entgegenzutreten, die die Erstattung der fälschlich in Rechnung gestellten Mehrwertsteuer von der Berichtigung der fehlerhaften Rechnung abhängig macht, obwohl das Recht auf Abzug dieser Steuer endgültig versagt wurde und dies zur Folge hat, dass die im nationalen Recht vorgesehene Berichtigungsregelung nicht mehr anwendbar ist.
Vorab ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die nationalen Gerichte das nationale Recht bei seiner Anwendung so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks der fraglichen Richtlinie auslegen müssen, um das in der Richtlinie festgelegte Ziel zu erreichen und damit Art. 288 Abs. 3 AEUV nachzukommen. Diese Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts ist dem System des AEU-Vertrags immanent, da den nationalen Gerichten dadurch ermöglicht wird, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten die volle Wirksamkeit des Unionsrechts sicherzustellen, wenn sie über die bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten entscheiden (vgl. u. a. Urteil vom 24. Januar 2012, Dominguez, C‑282/10, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Zur Möglichkeit, sich gegenüber einem Mitgliedstaat auf den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer zu berufen, ist zunächst festzustellen, dass dieser Grundsatz ein Grundprinzip des insbesondere durch die Richtlinie 2006/112 geregelten gemeinsamen Mehrwertsteuersystems ist (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil Stadeco, Randnr. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Wie weiter aus Randnr. 35 des vorliegenden Urteils hervorgeht, ist der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer in seiner durch die Rechtsprechung zu Art. 203 der Richtlinie 2006/112 konkretisierten Form dahin auszulegen, dass er es der Finanzverwaltung verbietet, dem Erbringer einer steuerfreien Leistung die Erstattung der einem Kunden fälschlich in Rechnung gestellten Mehrwertsteuer mit der Begründung zu versagen, dass er die fehlerhafte Rechnung nicht berichtigt habe, obwohl dem Kunden das Recht auf Abzug dieser Steuer von der Finanzverwaltung endgültig versagt wurde und dies zur Folge hat, dass die im nationalen Recht vorgesehene Berichtigungsregelung nicht mehr anwendbar ist.
Nach der Rechtsprechung kann der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer gegebenenfalls von einem Steuerpflichtigen gegen eine Bestimmung des nationalen Rechts oder ihre Anwendung, die diesem Grundsatz zuwiderläuft, geltend gemacht werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. April 2008, Marks & Spencer, C‑309/06, Slg. 2008, I‑2283, Randnr. 34). Unter Umständen wie denen, die in Randnr. 35 des vorliegenden Urteils geschildert sind, kann der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer in seiner durch die Rechtsprechung zu Art. 203 der Richtlinie 2006/112 konkretisierten Form, der den Mitgliedstaaten eine unbedingte und hinreichend genaue Verpflichtung auferlegt, gegen eine diesen Grundsatz verletzende Bestimmung des nationalen Rechts geltend gemacht werden.
Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass sich ein Steuerpflichtiger auf den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer in seiner durch die Rechtsprechung zu Art. 203 der Richtlinie 2006/112 konkretisierten Form berufen kann, um einer Bestimmung des nationalen Rechts entgegenzutreten, die die Erstattung der fälschlich in Rechnung gestellten Mehrwertsteuer von der Berichtigung der fehlerhaften Rechnung abhängig macht, obwohl das Recht auf Abzug dieser Steuer endgültig versagt wurde und dies zur Folge hat, dass die im nationalen Recht vorgesehene Berichtigungsregelung nicht mehr anwendbar ist.
Kosten
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.