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Steuerrecht
19.06.2008
Steuerrecht
: Ermittlung der Fahrtkosten im Rahmen einer längerfristigen, jedoch vorübergehenden beruflichen Bildungsmaßnahme

BFH, Urteil vom 10.4.2008 - VI R 66/05

Vorinstanz: FG Hessen vom 23.9.2005 - 1 K 1313/05 (EFG 2006, 101)

LEITSATZ

Führt ein vollbeschäftigter Arbeitnehmer eine längerfristige, jedoch vorübergehende berufliche Bildungsmaßnahme durch, so wird der Veranstaltungsort im Allgemeinen nicht zu einer weiteren regelmäßigen Arbeitsstätte i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG a.F. Die Fahrtkosten des Arbeitnehmers zu der Bildungseinrichtung sind deshalb nicht mit der Entfernungspauschale, sondern in tatsächlicher Höhe als Werbungskosten zu berücksichtigen.

EStG a.F. § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4; EStG § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 5 Satz 2

SACHVERHALT

I.

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) werden zur Einkommensteuer des Streitjahres (2003) zusammen veranlagt. Der Kläger erzielte im Streitjahr als technischer Angestellter Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Neben dieser Vollbeschäftigung nahm er an einer Bildungsmaßnahme zum Werkzeugkonstrukteur an der Beruflichen Schule in X teil. Die Bildungsmaßnahme hatte am 1. August 2000 begonnen und sollte Ende Juli 2004 beendet sein. Der Kläger besuchte die Bildungsstätte dienstags und freitags nach Feierabend jeweils von 17.30 Uhr bis 21.00 Uhr und samstags von 8.30 Uhr bis 15.15 Uhr.

In der Einkommensteuer-Erklärung des Streitjahres machte der Kläger im Zusammenhang mit dieser Bildungsmaßnahme Aufwendungen in Höhe von 2 672 € als Werbungskosten geltend und zwar Fahrtkosten nach reisekostenrechtlichen Grundsätzen in Höhe von 2 480 € (106 Tage x 78 km x 0,30 €) sowie Mehraufwendungen für Verpflegung in Höhe von 192 € (32 Samstage x 6 €).

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) sah die Bildungseinrichtung als weitere regelmäßige Arbeitsstätte i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 des Einkommensteuergesetzes in der im Streitjahr geltenden Fassung (EStG a.F.) an. Das FA berücksichtigte deshalb nur die Entfernungspauschale in Höhe von 1 612 €. Mehraufwendungen für Verpflegung ließ es außer Ansatz. Derartige Aufwendungen könnten nur für die ersten drei Monate der Bildungsmaßnahme berücksichtigt werden; der Dreimonatszeitraum sei aber bereits im Kalenderjahr 2000 abgelaufen.

Die nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage blieb mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2006, 101 veröffentlichten Gründen erfolglos. Ein Arbeitnehmer könne mehrere regelmäßige Arbeitsstätten haben. Die Bildungseinrichtung in X sei eine weitere regelmäßige Arbeitsstätte.

Mit ihrer Revision bringen die Kläger im Wesentlichen vor, entgegen der Auffassung des Finanzgerichts (FG) seien die Fahrtkosten zu der auswärtigen Bildungsstätte auch über die ersten drei Monate hinaus mit den tatsächlichen Aufwendungen als Werbungskosten zu berücksichtigen. Er --der Kläger-- habe nur eine regelmäßige Arbeitsstätte als dauerhaften Mittelpunkt seiner beruflichen Arbeit gehabt. Der Veranstaltungsort in X für die von vornherein bis Juli 2004 befristete Bildungsmaßnahme sei nur zeitweilig hinzugetreten und begründe keine weitere regelmäßige Arbeitsstätte i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG a.F.

Die Kläger beantragen sinngemäß, unter Aufhebung der Vorentscheidung und der Einspruchsentscheidung vom 21. April 2005 zusätzliche Fahrtkosten in Höhe von 868 € und Mehraufwendungen für Verpflegung in Höhe von 192 € als Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit zu berücksichtigen.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

AUS DEN GRÜNDEN

II.

Die Revision der Kläger ist überwiegend begründet. Sie führt unter Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils zur überwiegenden Stattgabe der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Die Kosten für die Fahrten des Klägers zur Beruflichen Schule in X sind gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG in tatsächlicher Höhe als Werbungskosten abziehbar. Die vom Kläger geltend gemachten Verpflegungsmehraufwendungen sind hingegen nicht zu berücksichtigen (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 5 i.V.m. § 9 Abs. 5 EStG).

1. Aufwendungen für eine Bildungsmaßnahme können, wenn sie beruflich veranlasst sind, Werbungskosten gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG sein. Im Streitfall hat das FG zutreffend entschieden, dass die Kosten des Klägers für die Bildungsmaßnahme beruflich veranlasst sind. Diese Frage ist zwischen den Beteiligten auch nicht im Streit.

a) Als Werbungskosten abziehbar sind sämtliche Aufwendungen, die im Zusammenhang mit der beruflichen Bildungsmaßnahme stehen. Hierzu gehören auch Fahrt- bzw. Mobilitätskosten. Sie sind grundsätzlich gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG in tatsächlicher Höhe zu berücksichtigen (Vorlagebeschluss des Senats vom 10. Januar 2008 VI R 17/07, BStBl II 2008, 234 ff.).

aa) Im Interesse der verfassungsrechtlich gebotenen steuerlichen Lastengleichheit hat sich der Gesetzgeber dafür entschieden, im Einkommensteuerrecht die objektive finanzielle Leistungsfähigkeit nach dem Saldo aus den Erwerbseinnahmen einerseits und den beruflichen Erwerbsaufwendungen andererseits zu bemessen (objektives Nettoprinzip). Auch Kosten für die Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte sind nach Auffassung des Senats beruflich veranlasst und damit Erwerbsaufwendungen (Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- in BStBl II 2008, 234, 244 f.).

Das objektive Nettoprinzip erfuhr allerdings durch § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG a.F. insoweit eine Einschränkung, als die Fahrtkosten zwischen Wohnung und (regelmäßiger) Arbeitsstätte nicht im tatsächlichen Umfang steuerlich abziehbar waren, sondern nur nach Maßgabe einer Entfernungspauschale. Diese Begrenzung ist nach Ansicht des Senats im Grundsatz sachlich gerechtfertigt (BFH-Urteil vom 11. Mai 2005 VI R 7/02, BFHE 209, 502, BStBl II 2005, 782). Denn liegt eine auf Dauer und Nachhaltigkeit angelegte (regelmäßige) Arbeitsstätte vor, so kann sich der Arbeitnehmer in unterschiedlicher Weise auf die immer gleichen Wege einstellen und so auf eine Minderung der Wegekosten hinwirken. Dies kann etwa durch Bildung von Fahrgemeinschaften und Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel und ggf. durch eine entsprechende Wohnsitznahme geschehen. Für diesen Grundfall erweist sich die Regelung des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG a.F. als sachgerechte und folgerichtige Ausnahme vom objektiven Nettoprinzip (z.B. BFH-Urteil vom 11. Mai 2005 VI R 25/04, BFHE 209, 523, BStBl II 2005, 791).

bb) Liegt jedoch keine auf Dauer und Nachhaltigkeit angelegte (regelmäßige) Arbeitsstätte vor, auf die sich der Arbeitnehmer typischerweise in der aufgezeigten Weise einstellen kann, ist eine Durchbrechung der Abziehbarkeit beruflich veranlasster Mobilitätskosten gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG sachlich nicht gerechtfertigt. Dies gilt nicht nur für Auswärtstätigkeiten (vgl. BFH-Urteile in BFHE 209, 502, BStBl II 2005, 782; vom 11. Mai 2005 VI R 70/03, BFHE 209, 508, BStBl II 2005, 785), sondern u.a. auch dann, wenn ein vollbeschäftigter Arbeitnehmer mit regelmäßiger Arbeitsstätte eine --zeitlich befristete bzw. nicht auf Dauer angelegte-- Bildungseinrichtung an einem anderen Ort aufsucht (vgl. auch FG Münster, Urteil vom 27. August 2002 1 K 5930/01 E, EFG 2002, 1588). Ein solcher Arbeitnehmer hat typischerweise nicht die vorbezeichneten Möglichkeiten, seine Wegekosten gering zu halten.

cc) Nach diesen Grundsätzen und den im Streitfall vorliegenden Umständen ist die Berufliche Schule in X nicht als weitere regelmäßige Arbeitsstätte anzusehen. Die in der Freizeit ausgeübte (Fort-)Bildungsmaßnahme des Klägers erstreckte sich zwar über vier Jahre und war damit längerfristig; sie war indessen vorübergehend und nicht auf Dauer angelegt.

b) Entgegen der Ansicht des FA wurde die Bildungseinrichtung in X auch nicht mit Ablauf von drei Monaten zur regelmäßigen Arbeitsstätte. Der Senat hat bereits in seinem Urteil vom 19. Dezember 2005 VI R 30/05 (BFHE 212, 218, BStBl II 2006, 378) ausgeführt, dass eine auswärtige Tätigkeitsstätte durch bloßen Zeitablauf von drei Monaten nicht zur regelmäßigen Arbeitsstätte wird (vgl. auch Schmidt/Drenseck, EStG, 26. Aufl., § 19 Rz 60, Stichwort: Reisekosten (Auswärtstätigkeit); Niermann/Plenker, Der Betrieb 2007, 1885, 1886; Hartmann, Deutsches Steuerrecht 2007, 2239, 2246). Eine Dreimonatsfrist sieht das Gesetz nur bei Mehraufwendungen für Verpflegung vor (vgl. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 5 Sätze 5 und 6 EStG i.V.m. § 9 Abs. 5 EStG).

c) Diese Beurteilung steht im Einklang mit der Rechtsprechung des Senats, wonach der Begriff der "regelmäßigen Arbeitsstätte" i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG dem Begriff des "Tätigkeitsmittelpunkts" i.S. des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 5 Satz 2 EStG (zum Verpflegungsmehraufwand) entspricht (u.a. BFH-Urteil vom 11. Mai 2005 VI R 16/04, BFHE 209, 518, BStBl II 2005, 789; Schmidt/Drenseck, a.a.O., § 19 Rz 60, Stichwort: Reisekosten (Auswärtstätigkeit)). Ein Arbeitnehmer ist nicht am Tätigkeitsmittelpunkt (regelmäßige Arbeitsstätte), sondern auch dann auswärts beschäftigt, wenn er --wie hier-- einer "längerfristigen vorübergehenden Tätigkeit an derselben Tätigkeitsstätte" nachgeht (vgl. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 5 Satz 5 EStG).

d) Mit dieser Entscheidung setzt sich der erkennende Senat nicht in Widerspruch zu seinem Urteil vom 29. April 2003 VI R 86/99 (BFHE 202, 299, BStBl II 2003, 749). Bei Erwerbsaufwendungen für eine Bildungsmaßnahme (Vollstudium) können die an eine regelmäßige Arbeitsstätte anknüpfenden Rechtsfolgen des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG a.F. bzw. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6 EStG zum Zuge kommen (vgl. auch BFH-Urteil vom 22. Juli 2003 VI R 190/97, BFHE 203, 111, BStBl II 2004, 886 - Bildungsmaßnahme mit Vollzeitunterricht). Dies ist jedoch dann anders, wenn ein Arbeitnehmer --wie hier-- neben seiner Vollbeschäftigung mit regelmäßiger Arbeitsstätte eine zeitlich befristete Bildungsmaßnahme an einem anderen Ort absolviert.

2. Die Vorentscheidung erweist sich allerdings hinsichtlich der rechtlichen Beurteilung der Mehraufwendungen für Verpflegung als zutreffend. Nach der Sonderregelung des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 5 Satz 5 EStG i.V.m. § 9 Abs. 5 EStG beschränkt sich der Abzug der Pauschbeträge nach Satz 2 der erstgenannten Vorschrift auf "die ersten drei Monate" der streitbefangenen Bildungsmaßnahme. Der Dreimonatszeitraum war indessen im Streitjahr 2003 seit langem abgelaufen.

3. Die Sache ist spruchreif. Zugunsten des Klägers sind zusätzliche Fahrtkosten in Höhe von 868 € als Werbungskosten zu berücksichtigen. Das zu versteuernde Einkommen von (bisher) 35 794 € ist um 868 € auf 34 926 € zu mindern und die Einkommensteuer für 2003 auf 5 044 € festzusetzen.

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