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Steuerrecht
20.12.2013
Steuerrecht
FG Düsseldorf: Entstrickungsbesteuerung gemäß § 4 Abs. 1 S. 3 und 4 EStG - Vorlage an den EuGH

FG Düsseldorf, Beschluss vom 5.12.2013 - 8 K 3664/11 F


Sachverhalt


Streitig ist, ob die Überführung von Rechten in eine ausländische Betriebsstätte der Klägerin zur Aufdeckung und Versteuerung von stillen Reserven führt.


Die Klägerin hat ihren Sitz in „I-Stadt". Komplementärin ist die „W" Beteiligungs GmbH, die ebenfalls in „I-Stadt" ansässig ist. Kommanditisten sind die „U-B.V." und die „M-B.V.", die beide ihren Sitz in den Niederlanden haben. Seit Mai 2005 befasste sich die Klägerin ausschließlich mit der Verwaltung eigener Patent-, Marken- und Gebrauchsmusterrechte. Mit Vertrag vom 25.05.2005 übertrug sie diese Rechte auf ihre niederländische Betriebsstätte in „Z-Stadt".


Im Rahmen einer Betriebsprüfung gelangte die Finanzverwaltung zu der Ansicht, die Überführung der Rechte müsse gemäß Tz. 2.6.1 der Grundsätze der Verwaltung für die Prüfung der Aufteilung der Einkünfte bei Betriebsstätten international tätiger Unternehmen (Betriebsstätten-Verwaltungsgrundsätze, Schreiben des Bundesministerium der Finanzen (BMF) vom 24.12.1999, Bundessteuerblatt (BStBl) I 1999, 1076) unter Aufdeckung der stillen Reserven mit dem Fremdvergleichswert im Zeitpunkt der Überführung erfolgen. Der zwischen den Beteiligten übereinstimmend ermittelte Wert der stillen Reserven in Höhe von 4.710.456 € sei allerdings nicht sofort in voller Höhe der Besteuerung zu unterwerfen sondern - wie im BMF-Schreiben vorgesehen - aus Billigkeitsgründen durch einen Merkposten in gleicher Höhe zu neutralisieren; dieser Merkposten sei sodann linear über einen Zeitraum von zehn Jahren gewinnerhöhend aufzulösen.


Daraus ergab sich für das Streitjahr 2005 folgende Gewinnberechnung:


bisheriger Gewinn:                                                                           379.748 €


Auflösung Merkposten:                                                                    314.030 €


693.778 €


Erhöhung der Gewerbesteuerrückstellung:                 ./.         19.096 €


674.682 €


Der Beklagte stellte im Bescheid für 2005 über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen vom 17.08.2009 die Einkünfte aus Gewerbebetrieb der Klägerin mit 674.682 € fest. Den hiergegen eingelegten Einspruch wies er mit Einspruchsentscheidung vom 19.09.2011 als unbegründet zurück.


Die Klägerin trägt im Wesentlichen Folgendes vor:


Der Bundesfinanzhof (BFH) habe in zwei Urteilen (vom 17.07.2008 I R 77/06, BStBl II 2009, 464; vom 28.10.2009 I R 99/08, BStBl II 2011, 1019) an seiner früheren Rechtsprechung, der zufolge die Überführung von Einzelwirtschaftsgütern aus einem inländischen Stammhaus in eine ausländische Betriebsstätte zu einer gewinnverwirklichenden Entnahme im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Einkommensteuergesetz (EStG) führte, wenn die ausländischen Betriebsstättengewinne aufgrund eines Abkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung (DBA) von der Besteuerung im Inland freigestellt waren (Theorie der finalen Entnahme), nicht mehr festgehalten. Nunmehr habe der BFH entschieden, dass eine Entnahme nicht vorliege, weil der betriebliche Funktionszusammenhang nicht gelöst worden sei; es fehle infolgedessen an einer Rechtsgrundlage für einen Gewinnrealisierungstatbestand. Darüber hinaus fehle es auch an einem Bedürfnis für die Besteuerung eines Gewinns, da nach heutiger Erkenntnis bei Vereinbarung der Freistellungsmethode in einem DBA der inländische Besteuerungszugriff auf im Inland entstandene stille Reserven nicht verloren gehe.


Die in diesen Urteilen angestellten Überlegungen griffen auch im Streitfall. Art. 5 Abs. 2 DBA-Niederlande ermögliche eine Aufteilung eines künftigen Gewinns aus der Veräußerung der Rechte zwischen Stammhaus und ausländischer Betriebsstätte nach Verursachungsbeiträgen und lasse damit das Besteuerungsrecht des Stammhausstaates auf die dem Stammhaus zuzurechnenden Gewinnanteile unberührt.


Ein schützenswertes Vertrauen in die überholte Rechtsprechung zur Theorie der finalen Entnahme gebe es nicht. Die neue Rechtsprechung des BFH sei vielmehr ein weiterer Schritt in Richtung des übergeordneten Grundsatzes einer Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit und Ausfluss des Realisationsprinzips.


Auch die nachträglich in das EStG aufgenommenen Bestimmungen des § 4 Abs. 1 Sätze 3 und 4 EStG könnten nicht zu einer Besteuerung der stillen Reserven im Veranlagungszeitraum 2005 führen. § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG sei nicht einschlägig, da im vorliegenden Fall eine Beschränkung des Besteuerungsrechts der Bundesrepublik Deutschland für die stillen Reserven, die bis zur Übertragung der Rechte in die niederländische Betriebsstätte entstanden seien, nicht gegeben sei. § 4 Abs. 1 Satz 4 EStG sei erst mit dem Jahressteuergesetz 2010 in das EStG eingefügt worden. Da diese Vorschrift gemäß § 52 Abs. 8b EStG auch für Wirtschaftsjahre gelte, die vor dem 01.01.2006 enden, entfalte sie eine echte und verfassungsrechtlich unzulässige Rückwirkung; die Vorschrift sei daher nichtig. Eine gesetzliche Grundlage für eine Besteuerung der stillen Reserven im Veranlagungszeitraum 2005 sei deshalb nicht vorhanden.


Abgesehen davon verstoße § 4 Abs. 1 Satz 3 und 4 EStG in der Fassung des Jahressteuergesetzes 2010 auch gegen den Grundsatz der Niederlassungsfreiheit aus Art. 49 des Vertrags über die Arbeitsweise der europäischen Union (AEUV). Sie - die Klägerin - erleide durch die Überführung der Wirtschaftsgüter in ihre niederländische Betriebsstätte einen Nachteil, denn die Überführung von Wirtschaftsgütern zwischen zwei inländischen Betriebsstätten würde keine sofortige Besteuerung von nicht realisierten stillen Reserven nach sich ziehen. Diese unterschiedliche steuerliche Behandlung sei geeignet, eine Gesellschaft davon abzuhalten, Wirtschaftsgüter in eine Betriebsstätte in einem anderem Mitgliedsstaat zu überführen.


Gründe des Gemeinwohls, die eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit rechtfertigen könnten, lägen zwar vor, wenn eine ausgewogene Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedsstaaten nach dem Territorialprinzip sichergestellt werden solle. Die hier einschlägige Regelung, die zu einer sofortigen Einziehung der Steuer zum Zeitpunkt der Überführung der Wirtschaftsgüter führe, sei nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) jedoch unverhältnismäßig. Weniger einschneidend wäre eine Einziehung der Steuer im Zeitpunkt der Realisierung des Wertzuwachses. Der dadurch entstehende zusätzliche Verwaltungsaufwand sei sowohl für die Finanzverwaltung als auch für die betroffene Gesellschaft tragbar. Eine andere Beurteilung ergebe sich auch nicht aus der von der Finanzverwaltung im Billigkeitswege durchgeführten Stundung der Einziehung durch die Verteilung der stillen Reserven auf zehn Jahre.


Die Klägerin beantragt,


den Bescheid über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen vom 17.08.2009 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 19.09.2011 zu ändern und die Einkünfte aus Gewerbebetrieb mit 379.748 € festzustellen.


Der Beklagte beantragt,


die Klage abzuweisen.


Er meint, einer argumentativen Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des BFH zur Aufgabe der Theorie der finalen Entnahme bedürfe es nicht, denn durch § 4 Abs. 1 Satz 3 und 4 EStG sei nachträglich eine gesetzliche Grundlage für die Erfassung des streitigen Gewinns geschaffen worden.


§ 4 Abs. 1 Satz 4 EStG gelte nach § 52 Abs. 8b Satz 3 EStG in allen Fällen, in denen § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG anzuwenden sei. Diese Vorschrift wiederum gelte gemäß § 52 Abs. 8b Satz 2 EStG auch für Wirtschaftsjahre, die vor dem 01.01.2006 geendet haben. Diese rückwirkende Anwendung sei verfassungsrechtlich unbedenklich. Die Rückwirkung sei zulässig. Durch die Neuregelung sei nämlich eine Rechtslage rückwirkend gesetzlich festgeschrieben worden, die vor der Rechtsprechungsänderung einer gefestigten Rechtsprechung und einheitlichen langjährigen Verwaltungspraxis entsprochen habe. Aufgrund dessen habe sich ein schutzwürdiges Vertrauen auf den Fortbestand der geänderten Rechtsprechung nicht bilden können.


Daneben sei die Rückwirkung aus zwingenden Gründen des Gemeinwohls gerechtfertigt. Ohne die rückwirkende Festschreibung der Theorie der finalen Entnahme seien die Rechtssicherheit und das Vertrauen der Allgemeinheit in die Kontinuität der Rechtsordnung erschüttert. Außerdem bestünden Unsicherheiten darüber, wie die Besteuerung im Zeitpunkt der Gewinnrealisierung sichergestellt werden könne; schließlich ergäben sich Fragen der richtigen Gewinnabgrenzung und Vollzugsdefizite seien zu befürchten.


§ 4 Abs. 1 Satz 3 und 4 EStG verstoße auch nicht gegen europarechtliche Grundsätze; ein eventueller Eingriff in die Niederlassungsfreiheit sei durch zwingende Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt. Der EuGH habe bereits mehrfach entschieden, dass ein Mitgliedsstaat nach dem Grundsatz der steuerlichen Territorialität das Recht habe, noch nicht realisierte Wertzuwächse im Zeitpunkt der Überführung von Wirtschaftsgütern in das Ausland zu besteuern. Die Entstrickungsregelung verfolge das legitime Ziel, das Besteuerungsrecht des Herkunftsstaates zu sichern.


Die Besteuerung sei auch nicht unverhältnismäßig, denn die aufgedeckten stillen Reserven würden nicht im vollem Umfang sofort besteuert, die Besteuerung werde vielmehr auf zehn Jahre gestreckt. Der Aufschub der Besteuerung bis zur tatsächlichen Realisierung der stillen Reserven sei keine geeignete Alternative, da der Verbleib der Wirtschaftsgüter kaum zu kontrollieren sei, jedenfalls aber mit einem übermäßigen Verwaltungsaufwand verbunden sei.


Aus den Gründen


Der Senat legt die im Tenor zu 2. formulierte Rechtsfrage dem EuGH gemäß Artikel 267 Abs. 2 AEUV zur Vorabentscheidung vor. Die Entscheidung über die Klage hängt von der Beantwortung dieser Frage ab.


A. 1. Für die sogenannte Entstrickungsbesteuerung gab es zunächst keine gesetzliche Grundlage. Sie beruhte auf Rechtsprechung des BFH, der bereits mit Urteil vom 16.07.1969 (I 266/65, BStBl II 1970, 175) entschieden hatte, dass die Überführung eines Wirtschaftsguts aus einem inländischen Unternehmen in dessen ausländische Betriebsstätte als eine mit dem Teilwert zu bewertende Entnahme im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 EStG anzusehen sei. Durch diese Auslegung des Begriffs Entnahme sollte vermieden werden, dass stille Reserven endgültig der Besteuerung entzogen werden. Diese Rechtsprechung wurde als Theorie der finalen Entnahme bezeichnet.


2. Die Finanzverwaltung folgte dieser Rechtsprechung, milderte sie allerdings, da sie zur Versteuerung von noch nicht realisierten stillen Reserven führte, durch eine Billigkeitsmaßnahme ab. Diese war zuletzt enthalten in Tz. 2.6.1 des oben erwähnten BMF-Schreibens vom 24.12.1999. Dort war vorgesehen, dass aus Billigkeit der Entnahmegewinn noch nicht besteuert wird, sondern dass zunächst ein Merkposten (Ausgleichsposten) gebildet wird, um den Gewinn zu neutralisieren. Dieser Merkposten war bei abnutzbaren Anlagegütern zeitanteilig gemäß der Restnutzungsdauer des Wirtschaftsguts, spätestens aber nach zehn Jahren, gewinnerhöhend aufzulösen. Diese Billigkeitsmaßnahme ist auch im vorliegenden Fall angewendet worden.


3. Erstmals gesetzlich geregelt wurden die Entstrickungstatbestände in dem Gesetz über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften (SEStEG) vom 07.12.2006 (Bundesgesetzblatt (BGBl) I 2006, 2782). Ziel des Gesetzes war zum einen, steuerrechtliche Vorschriften an aktuelle EU-rechtliche Vorgaben auf dem Gebiet des Steuerrechts und des Gesellschaftsrechts anzupassen; zum anderen sollte es „der konsequenten Sicherung deutscher Besteuerungsrechte" dienen und die Besteuerung stiller Reserven unter anderem dann gewährleisten, wenn „Wirtschaftsgüter dem deutschen Besteuerungszugriff entzogen werden" (siehe Gesetzentwurf der Bundesregierung, Bundestags-Drucksache (BT-Ds.) 16/2710 vom 25.09.2006, Seite 1, 25 und 26).


Diesem Ziel dient auch die in das EStG eingefügte Regelung des § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG. Sie lautet: „Einer Entnahme für betriebsfremde Zwecke steht der Ausschluss oder die Beschränkung des Besteuerungsrechts der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich des Gewinns aus der Veräußerung oder der Nutzung eines Wirtschaftsguts gleich." Ausweislich der Gesetzesbegründung (BT-Ds. 16/2710, Seite 28) beinhaltet diese Vorschrift eine Klarstellung zum geltenden Recht; zu den Entnahmen für betriebsfremde Zwecke gehöre insbesondere die Überführung eines Wirtschaftsguts von einem inländischen Betrieb in eine ausländische Betriebsstätte, wenn der Gewinn der ausländischen Betriebsstätte aufgrund eines DBA von der inländischen Besteuerung freigestellt sei.


Nachdem der Bundesrat vorgeschlagen hatte, die Möglichkeit einer zeitlich gestreckten Besteuerung der stillen Reserven zu schaffen, um eine „Europarechtskonforme gesetzliche Fixierung der zentralen Entstrickungstatbestände" sicherzustellen (Bundesrats-Drucksache (BR-Ds.) 542/06 vom 22.09.2006), wurde § 4g EStG in den Gesetzentwurf eingefügt (BT-Ds. 16/3369 vom 09.11.2006, Seite 5). Diese Vorschrift sieht in Absatz 1 vor, dass in den Fällen, in denen ein Wirtschaftsgut infolge seiner Zuordnung zu einer Betriebsstätte desselben Steuerpflichtigen in einem anderen Mitgliedstaat der EU gemäß § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG als entnommen gilt, auf Antrag des Steuerpflichtigen ein Ausgleichsposten in Höhe der Differenz zwischen dem Buchwert und dem gemeinen Wert des Wirtschaftsguts gebildet wird und dass dieser Ausgleichsposten gemäß Absatz 2 Satz 1 der Vorschrift im Wirtschaftsjahr der Bildung und in den folgenden vier Wirtschaftsjahren zu jeweils einem Fünftel gewinnerhöhend aufgelöst wird. Mit dieser Ergänzung wurde das SEStEG dann beschlossen; es gilt ab dem Veranlagungszeitraum 2006.


4. Mit Urteil vom 17.07.2008 (I R 77/06, BStBl II 2009, 464), also zu einem Zeitpunkt, als § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG in der Fassung des SEStEG schon galt, gab der BFH - in einem Fall betreffend den Veranlagungszeitraum 1995 - die Theorie der finalen Entnahme auf. Zur Begründung führte er zum einen aus, die bisherige Rechtsprechung finde im Gesetz - jedenfalls in der vor Inkrafttreten des SEStEG geltenden Fassung - keine hinreichende Grundlage; die Überführung eines Wirtschaftsguts in eine ausländische Betriebsstätte desselben Unternehmens sei keine Entnahme. Zum anderen stützte der BFH seine Meinungsänderung darauf, dass kein Bedürfnis dafür bestehe, die Überführung eines Wirtschaftsguts eines inländischen Unternehmens in dessen ausländische Betriebsstätte als Gewinnrealisierungstatbestand anzusehen, denn die spätere Besteuerung von im Inland entstandenen stillen Reserven sei dadurch, dass die ausländischen Betriebsstättengewinne von der deutschen Besteuerung freigestellt seien, nicht beeinträchtigt. Anders ausgedrückt: Bei Vereinbarung der Freistellungsmethode in einem DBA (im BFH-Fall: Artikel 4 Abs. 2 DBA-Österreich) gehe das inländische Besteuerungsrecht für Gewinne aus der Veräußerung eines ins Ausland überführten Wirtschaftsguts nur in dem Umfang verloren, in dem die realisierten Gewinne im Ausland erwirtschaftet worden seien; das inländische Besteuerungsrecht für den im Inland erwirtschafteten Teil der stillen Reserven bleibe bestehen.


5. Aufgrund dieser Rechtsprechungsänderung musste der Gesetzgeber nunmehr befürchten, dass der BFH die Überführung eines Wirtschaftsguts in eine ausländische Betriebsstätte nicht als Ausschluss oder Beschränkung des inländischen Besteuerungsrechts im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG ansehen würde, sodass diese Vorschrift ins Leere gegangen wäre.


In dieser Situation entschloss sich der Gesetzgeber, zusätzlich zu dem bezüglich des BFH-Urteils vom 17.07.2008 I R 77/06 zunächst ergangenen Nichtanwendungserlass (BMF-Schreiben vom 20.05.2009, BStBl I 2009, 671) ein Nichtanwendungsgesetz zu erlassen und § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG nachzubessern. Dies geschah im Jahressteuergesetz 2010 vom 08.12.2010 (BGBl I 2010, 1768). Zum einen wurde in § 4 Abs. 1 EStG hinter Satz 3 ein neuer Satz 4 eingefügt; diese Regelung erläutert klarstellend den Hauptanwendungsfall des § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG (so BT-Ds. 17/3549, Seite 15). Sie lautet: „Ein Ausschluss oder eine Beschränkung des Besteuerungsrechts hinsichtlich des Gewinns aus der Veräußerung eines Wirtschaftsguts liegt insbesondere vor, wenn ein bisher einer inländischen Betriebsstätte des Steuerpflichtigen zuzuordnendes Wirtschaftsgut einer ausländischen Betriebsstätte zuzuordnen ist." Zum anderen wurde § 52 Abs. 8b EStG, in dem bis dahin nur geregelt war, dass § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG in der Fassung des SEStEG ab 2006 gilt, um die Sätze 2 und 3 ergänzt. Satz 2 bestimmt, dass § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG auch für frühere Veranlagungszeiträume gilt, wenn eine Überführung eines Wirtschaftsguts in eine ausländische Betriebsstätte stattgefunden hat, deren Einkünfte durch ein DBA im Inland freigestellt sind. Satz 3 des § 52 Abs. 8b EStG bestimmt, dass § 4 Abs. 1 Satz 4 EStG in allen Fällen gilt, in denen § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG anzuwenden ist.


Durch diese Anwendungsvorschriften soll sichergestellt werden, dass die Grundsätze des BFH-Urteils vom 17.07.2008 I R 77/06 auf den entschiedenen Einzelfall beschränkt bleiben und dass die Theorie der finalen Entnahme, wie sie in § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG gesetzlich festgeschrieben worden ist, im Interesse einer einheitlichen und kontinuierlichen Rechtsanwendung auf alle noch offenen Fälle anzuwenden ist (BT-Ds. 17/3549, Seite 21 und 22).


B. Durch § 4 Abs. 1 Satz 4 in Verbindung mit Satz 3 EStG ist nunmehr eine gesetzliche Grundlage dafür geschaffen, im Falle der Überführung eines Wirtschaftsguts aus einer inländischen in eine ausländische Betriebsstätte desselben Unternehmens eine Entnahme annehmen zu können, die mit dem gemeinem Wert anzusetzen ist (§ 6 Abs. 1 Nr. 4 Satz 1 EStG). Aufgrund der Anwendungsvorschriften des § 52 Abs. 8b EStG gilt § 4 Abs. 1 Satz 3 und 4 EStG auch im Veranlagungszeitraum 2005, dem Streitjahr des vorliegenden Verfahrens.


Nach diesen Vorschriften müsste der Senat die Klage abweisen, denn § 4 Abs. 1 Satz 4 EStG ist - entgegen der Auffassung der Klägerin - nicht wegen eines Verstoßes gegen das Rückwirkungsverbot verfassungswidrig.


Eine echte Rückwirkung, wie sie hier durch das Jahressteuergesetz 2010 angeordnet wird, ist in der Regel unzulässig. Aus dem Rechtsstaatsprinzip folgt, dass der von einem Gesetz Betroffene grundsätzlich darauf vertrauen können muss, dass seine auf geltendes Recht gegründete Rechtsposition nicht durch eine zeitlich rückwirkende Änderung der gesetzlichen Rechtsfolgenanordnung nachteilig verändert wird (vgl. BFH, Urteil vom 19.04.2012 VI R 74/10, BStBl II 2012, 577, Rz. 21, mit zahlreichen Hinweisen auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts). In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind jedoch Fallgruppen anerkannt, in denen das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot durchbrochen ist. Eine dieser Fallgruppen umfasst die Fälle, in denen eine gefestigte, höchstrichterliche Rechtsprechung zu einer bestimmten Steuerrechtsfrage nach Änderung der Rechtsanwendungspraxis rückwirkend gesetzlich festgeschrieben wird (vgl. z. B.: Nichtannahmebeschluss vom 15.10.2008 1 BvR 1138/06, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 2009, 187; BFH VI R 74/10, a.a.O., Rz. 22).


So liegt der Fall auch hier. Die Theorie der finalen Entnahme beruhte - wie oben dargelegt - auf einer jahrzehntelangen Rechtsprechung des BFH und wurde allgemein angewendet. Die auf dieser Theorie beruhende Rechtslage wurde durch das Jahressteuergesetz 2010 rückwirkend gesetzlich festgeschrieben. Ein schutzwürdiges Vertrauen auf eine hiervon abweichende Rechtslage konnte sich jedenfalls bis zur Aufgabe der Theorie der finalen Entnahme durch das Urteil vom 17.07.2008 I R 77/06 und damit auch für das Streitjahr 2005 nicht bilden.


Ob darüber hinaus auch - wie der Beklagte meint - zwingende Gründe des Gemeinwohls eine ausreichende Rechtfertigung für die echte Rückwirkung darstellen, kann dahinstehen.


C. Zwar fällt der Bereich der direkten Steuern (wie der Einkommensteuer) nicht in die Zuständigkeit der Gemeinschaft, die Mitgliedsstaaten müssen jedoch ihre Befugnisse unter Wahrung des Gemeinschaftsrechts ausüben (EuGH, Urteil vom 11.03.2004 Rs. C-9/02, Tz. 44). Eine der grundlegenden Vorschriften des Gemeinschaftsrechts, die auch von den nationalen Gerichten zu beachten sind, ist die Regelung der Niederlassungsfreiheit (früher: Artikel 43 EG-Vertrag, jetzt: Artikel 49 AEUV). Das Verbot für die Mitgliedsstaaten, die Niederlassungsfreiheit zu beschränken, gilt auch in Bezug auf steuerrechtliche Vorschriften. Der Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit wird durch alle Maßnahmen berührt, die deren Ausübung verhindern, beschränken oder weniger attraktiv machen (EuGH, Urteil vom 29.11.2011 Rs. C-371/10; Urteil vom 12.07.2012 Rs. C-269/09).


Nach Auffassung des Senats verstößt der Entstrickungstatbestand des § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG gegen die so verstandene Niederlassungsfreiheit (ebenso: Finanzgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 17.01.2008 4 K 1347/03, Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2008, 680; Finanzgericht Köln, Urteil vom 18.03.2008 1 K 4110/04, EFG 2009, 259; Frotscher, EStG, Praxiskommentar, 149. Lieferung 3/2009, § 4g, Rdnr. 3; Ditz, Internationales Steuerrecht (IStR) 2009, 115; Körner, IStR 2009, 741; Krüger/Heckel, Neue Wirtschaftsbriefe 2010, 1334; zweifelnd: Wied, in: Blümich, Kommentar zu EStG, KStG, GewStG und Nebengesetzen, § 4 EStG, Rdnrn. 21 und 486; anderer Ansicht: Mischke, Die Unternehmensbesteuerung 2011, 328; Musil, Finanzrundschau 2011, 545), denn Anknüpfungspunkt für die Besteuerung von stillen Reserven ist die Überführung eines Wirtschaftsguts in eine ausländische Betriebsstätte. Die Überführung desselben Wirtschaftsguts in eine andere inländische Betriebsstätte des Unternehmens würde keine Besteuerung auslösen. Aufgrund dessen ist die Vorschrift geeignet, die Ausübung des Rechts, in einem anderen Mitgliedstaat der EU eine Betriebsstätte zu gründen, einzuschränken.


Auch unter Berücksichtigung der Ausführungen des EuGH im Urteil vom 29.11.2011 dürfte § 4 Abs. 1 Satz 3 und 4 in Verbindung mit § 4g EStG einer europarechtlichen Prüfung nicht standhalten.


Nach dieser Entscheidung ist eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit im Hinblick auf das Ziel der Vorschriften, zu einer angemessenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Niederlanden zu kommen, zwar gerechtfertigt. Nach dem Grundsatz der steuerlichen Territorialität hat die Bundesrepublik Deutschland das Recht, den Wertzuwachs zu besteuern, der sich in der Zeit bis zur Überführung der Wirtschaftsgüter in eine ausländische Betriebsstätte gebildet hat. Dass die Festsetzung der im Inland entstandenen stillen Reserven schon im Zeitpunkt der Überführung des Wirtschaftsguts vorgenommen wird, kann mit dem EuGH auch als verhältnismäßig angesehen werden. Es ist aber unverhältnismäßig, die Steuer auf diese stillen Reserven - wenn auch gestreckt auf fünf Jahre (nach § 4g EStG) oder auf zehn Jahre (nach Tz. 2.6.1 des BMF-Schreibens vom 24.12.1999) - zu erheben, bevor es zu einer Aufdeckung der stillen Reserven gekommen ist; denn trotz der gestreckten Besteuerung kommt es zu einem Liquiditätsnachteil. Dieser Nachteil würde vermieden, wenn dem Steuerpflichtigen, wie vom EuGH in Tz. 73 des Urteils vom 29.11.2011 als die Niederlassungsfreiheit weniger beeinträchtigend angesehen, ein Wahlrecht eingeräumt würde zwischen der sofortigen Zahlung des auf die stillen Reserven entfallenden Steuerbetrags unter Inkaufnahme des dadurch eintretenden Liquiditätsnachteils und einer Aufschiebung der Zahlung bis zur Realisierung des Wertzuwachses unter Inkaufnahme des damit verbundenen Verwaltungsaufwands sowohl für den Steuerpflichtigen als auch für die Finanzverwaltung.


Aus dem Verwaltungsaufwand allein lässt sich jedenfalls keine Rechtfertigung für die Beschränkung der durch den EU-Vertrag garantierten Grundfreiheiten herleiten (EuGH, Urteil vom 12.07.2012 Rs. C-269/09, Tz. 72).


D. Das Klageverfahren ist gemäß § 74 der Finanzgerichtsordnung bis zur Bekanntgabe der Vorabentscheidung des EuGH über die vorgelegten Rechtsfragen auszusetzen (vgl. BFH, Beschluss vom 29.11.2005 I B 196/04, Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des BFH 2006, 592).



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