EuGH: Besteuerung von Energieerzeugnissen und elektrischem Strom – Vergünstigungen bei den zur Deckung der allgemeinen Kosten des Stromsystems zu zahlenden Beträgen
EuGH, Urteil vom 18.1.2017 – C-189/15, IRCCS Fondazione Santa Lucia gegen Cassa conguaglio per il settore elettrico u. a.
ECLI:EU:C:2017:17
Volltext:BB-ONLINE BBL2017-213-5
Tenor
1. Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2003/96/EG des Rates vom 27. Oktober 2003 zur Restrukturierung der gemeinschaftlichen Rahmenvorschriften zur Besteuerung von Energieerzeugnissen und elektrischem Strom ist dahin auszulegen, dass energieintensiven Betrieben im Sinne dieser Bestimmung durch das nationale Recht gewährte Vergünstigungen bei Beträgen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die zur Deckung der allgemeinen Kosten des Stromsystems zu zahlen sind, unter den Begriff „Steuerermäßigungen“ fallen, vorbehaltlich einer Überprüfung der tatsächlichen Umstände und nationalen Rechtsvorschriften, auf denen diese Antwort des Gerichtshofs beruht, durch das vorlegende Gericht.
2. Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2003/96 ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die Steuerermäßigungen für den Verbrauch von elektrischem Strom lediglich für diejenigen energieintensiven Betriebe im Sinne dieser Bestimmung vorsieht, die dem verarbeitenden Gewerbe angehören.
Aus den Gründen
1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2003/96/EG des Rates vom 27. Oktober 2003 zur Restrukturierung der gemeinschaftlichen Rahmenvorschriften zur Besteuerung von Energieerzeugnissen und elektrischem Strom (ABl. 2003, L 283, S. 51).
2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Istituto di Ricovero e Cura a Carattere Scientifico (IRCCS) – Fondazione Santa Lucia (Wissenschaftliches Institut zur Unterbringung und Pflege [IRCCS] – Stiftung Santa Lucia, im Folgenden: Stiftung) einerseits und der Cassa conguaglio per il settore elettrico (Ausgleichskasse für den Stromsektor, Italien), dem Ministero dello Sviluppo economico (Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung, Italien), dem Ministero dell’Economia e delle Finanze (Ministerium für Wirtschaft und Finanzen, Italien) und der Autorità per l’energia elettrica e il gas (Strom- und Gasbehörde, Italien) andererseits wegen der Weigerung der zuständigen italienischen Behörden, auf die Stiftung die nationale Regelung über Vergünstigungen bei den zur Deckung der allgemeinen Kosten des italienischen Stromsystems (im Folgenden: allgemeine Kosten des Stromsystems) zu zahlenden Beträgen anzuwenden.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3
Die Erwägungsgründe 9, 10 und 11 der Richtlinie 2003/96 lauten:
„(9) Den Mitgliedstaaten sollte die nötige Flexibilität für die Festlegung und die Durchführung von auf den jeweiligen nationalen Kontext abgestimmten politischen Maßnahmen eingeräumt werden.
(10) Die Mitgliedstaaten haben den Wunsch geäußert, Steuern unterschiedlicher Art auf Energieerzeugnisse und auf elektrischen Strom einzuführen oder beizubehalten. Im Hinblick darauf sollte bestimmt werden, dass die Mitgliedstaaten die Anforderung hinsichtlich der Mindeststeuerbeträge erfüllen, wenn die Gesamtheit der von ihnen als indirekte Steuern erhobenen Abgaben (mit Ausnahme der Mehrwertsteuer) die gemeinschaftlichen Mindeststeuerbeträge nicht unterschreitet.
(11) Es ist Sache des einzelnen Mitgliedstaats zu entscheiden, durch welche steuerlichen Maßnahmen er diesen gemeinschaftlichen Rahmen zur Besteuerung von Energieerzeugnissen und von elektrischem Strom umsetzen will. Die Mitgliedstaaten können in diesem Zusammenhang auch beschließen, die Gesamtsteuerlast nicht zu erhöhen, falls sie der Ansicht sind, dass die Umsetzung dieses Grundsatzes der Aufkommensneutralität dazu beitragen könnte, ihre Steuersysteme zu restrukturieren und zu modernisieren, indem umweltfreundlichere Verhaltensweisen begünstigt werden und eine verstärkte Beachtung des Faktors Arbeitseinsatz gefördert wird.“
4
Art. 1 der Richtlinie 2003/96 sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten erheben nach Maßgabe dieser Richtlinie Steuern auf Energieerzeugnisse und elektrischen Strom.“
5
Art. 4 dieser Richtlinie lautet:
„(1) Die Steuerbeträge, die die Mitgliedstaaten für Energieerzeugnisse und elektrischen Strom nach Artikel 2 vorschreiben, dürfen die in dieser Richtlinie vorgesehenen Mindeststeuerbeträge nicht unterschreiten.
(2) Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Begriff „Steuerbetrag“ die Gesamtheit der als indirekte Steuern (mit Ausnahme der Mehrwertsteuer) erhobenen Abgaben, die zum Zeitpunkt der Überführung in den freien Verkehr direkt oder indirekt anhand der Menge an Energieerzeugnissen und elektrischem Strom berechnet werden.“
6
Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie bestimmt:
„Dieser Artikel gilt für die nachstehend genannten industriellen und gewerblichen Verwendungszwecke:
…
b) ortsfeste Motoren;
c) Betrieb von technischen Einrichtungen und Maschinen, die im Hoch- und Tiefbau und bei öffentlichen Bauarbeiten eingesetzt werden;
…“
7
Art. 11 der Richtlinie lautet:
„(1) ‚Betriebliche Verwendung‘ bezeichnet in dieser Richtlinie die Verwendung durch eine Betriebseinheit im Sinne von Absatz 2, die selbstständig und unabhängig von ihrem Ort Ware liefert oder Dienstleistungen erbringt, gleichgültig zu welchem Zweck und mit welchem Ergebnis diese wirtschaftlichen Tätigkeiten ausgeübt werden.
Diese wirtschaftlichen Tätigkeiten umfassen alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten und der Landwirte, sowie die Tätigkeiten der freien Berufe.
…
(2) Im Sinne dieser Richtlinie ist davon auszugehen, dass eine Betriebseinheit keine kleinere Einrichtung ist als ein Teil eines Unternehmens oder eine juristische Person, die in organisatorischer Hinsicht einen selbstständigen Betrieb, d. h. eine aus eigenen Mitteln funktionsfähige Einheit, darstellt.
…
(4) Die Mitgliedstaaten können den Anwendungsbereich des ermäßigten Steuerbetrags für betriebliche Verwendungen begrenzen.“
8
Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2003/96 sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten können in den nachstehenden Fällen für den Verbrauch von Energieerzeugnissen, die zu Heizzwecken bzw. für die Zwecke des Artikels 8 Absatz 2 Buchstaben b) und c) verwendet werden, und von elektrischem Strom Steuerermäßigungen anwenden, sofern die in dieser Richtlinie vorgeschriebenen Mindeststeuerbeträge im Durchschnitt für alle Betriebe eingehalten werden:
a) Für energieintensive Betriebe.
Als ‚energieintensiver Betrieb‘ gilt eine Betriebseinheit im Sinne von Artikel 11, bei der sich entweder die Energie- und Strombeschaffungskosten auf mindestens 3,0 % des Produktionswertes belaufen oder die zu entrichtende nationale Energiesteuer mindestens 0,5 % des Mehrwertes beträgt. Im Rahmen dieser Definition können die Mitgliedstaaten enger gefasste Begriffe anwenden, einschließlich verkaufswert-, prozess- und sektorbezogener Definitionen.
…“
9
Art. 26 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission die gemäß Artikel 5, Artikel 14 Absatz 2 sowie Artikel 15 und 17 getroffenen Maßnahmen mit.
(2) Die im Sinne dieser Richtlinie vorgesehenen Maßnahmen wie Steuerbefreiungen, Steuerermäßigungen oder Steuersatzdifferenzierungen sowie Erstattungen können staatliche Beihilfen darstellen und sind in dem Fall der Kommission nach Maßgabe von Artikel 88 Absatz 3 des Vertrags mitzuteilen.
Die der Kommission auf der Grundlage dieser Richtlinie übermittelten Informationen entbinden die Mitgliedstaaten nicht von der Mitteilungspflicht im Sinne von Artikel 88 Absatz 3 des Vertrags.“
10
Art. 1 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2008/118/EG des Rates vom 16. Dezember 2008 über das allgemeine Verbrauchsteuersystem und zur Aufhebung der Richtlinie 92/12/EWG (ABl. 2009, L 9, S. 12) bestimmt:
„(1) Diese Richtlinie legt ein allgemeines System für die Verbrauchsteuern fest, die mittelbar oder unmittelbar auf den Verbrauch folgender Waren (nachstehend ‚verbrauchsteuerpflichtige Waren‘ genannt) erhoben werden:
a) Energieerzeugnisse und elektrischer Strom gemäß der Richtlinie 2003/96/EG;
…
(2) Die Mitgliedstaaten können für besondere Zwecke auf verbrauchsteuerpflichtige Waren andere indirekte Steuern erheben, sofern diese Steuern in Bezug auf die Bestimmung der Bemessungsgrundlage, die Berechnung der Steuer, die Entstehung des Steueranspruchs und die steuerliche Überwachung mit den gemeinschaftlichen Vorschriften für die Verbrauchsteuer oder die Mehrwertsteuer vereinbar sind, wobei die Bestimmungen über die Steuerbefreiungen ausgenommen sind.“
Italienisches Recht
11
Mit dem Decreto Legislativo Nr. 26 (gesetzesvertretende Verordnung Nr. 26) vom 2. Februar 2007 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 68 vom 22. März 2007) wurde die Richtlinie 2003/96 in innerstaatliches Recht umgesetzt.
12
Das Decreto-legge Nr. 83 (Gesetzesdekret Nr. 83) vom 22. Juni 2012 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 147 vom 26. Juni 2012), das mit Änderungen in ein Gesetz umgewandelt wurde (im Folgenden: Gesetzesdekret Nr. 83/2012), sieht Dringlichkeitsmaßnahmen für das Wachstum im Land vor.
13
Art. 39 („Kriterien für die Neuregelung des Systems der Verbrauchsteuern auf Strom und Energieerzeugnisse und der allgemeinen Kosten des Stromsystems für energieintensive Betriebe – besondere tarifliche Regelungen für industrielle Betriebe mit hohem Stromverbrauch“) des Gesetzesdekrets Nr. 83/2012 sieht in den Abs. 1 bis 3 vor:
„1. Der Minister für Wirtschaft und Finanzen erlässt in Absprache mit dem Minister für wirtschaftliche Entwicklung spätestens bis zum 31. Dezember 2012 einen oder mehrere Erlasse, in denen nach Art. 17 der Richtlinie 2003/96 … auf der Grundlage von Anforderungen und Kriterien im Zusammenhang mit Mindestverbrauchswerten und den Auswirkungen der Stromkosten auf den Wert der Tätigkeit des Betriebs energieintensive Betriebe definiert werden.
2. Mit den in Abs. 1 genannten Erlassen soll anschließend unter Beachtung der in der Richtlinie 2003/96 vorgesehenen Bedingungen ein vereinfachtes und gerechtes System von Verbrauchsteuersätzen auf Strom und als Brennstoffe verwendete Energieerzeugnisse festgelegt werden …; dieses System muss die Aufrechterhaltung der Steuereinnahmen gewährleisten …
3. Innerhalb von 60 Tagen ab dem Erlass der in Abs. 1 genannten Erlasse legt die Strom- und Gasbehörde nach den vom Minister für wirtschaftliche Entwicklung aufgestellten Leitlinien die neuen Beträge, die zur Deckung der allgemeinen Kosten des Stromsystems zu zahlen sind, und die Kriterien für deren Umlage auf die Endverbraucher in einer Weise fest, die der Definition des energieintensiven Betriebs in den in Abs. 1 genannten Erlassen Rechnung trägt und die in Abs. 2 genannten Bedingungen beachtet …“
14
Zur Durchführung von Art. 39 des Gesetzesdekrets Nr. 83/2012 wurde das Decreto ministeriale – Definizione delle imprese a forte consumo di energia (Ministerialerlass – Definition der energieintensiven Betriebe) vom 5. April 2013 (GURI Nr. 91 vom 18. April 2013) erlassen.
15
Art. 3 dieses Ministerialerlasses sieht vor, dass mit der Neufestlegung der allgemeinen Kosten des Stromsystems nach der Aufstellung der in Art. 39 Abs. 3 des Gesetzesdekrets Nr. 83/2012 genannten ministeriellen Leitlinien ein System von Vergünstigungen für energieintensive Betriebe eingeführt werden soll. Abs. 2 dieses Art. 3 bestimmt, dass „die allgemeinen Kosten des Stromsystems … gegebenenfalls auch durch Bezugnahme auf die durch die Codes des ATECO (nationales System zur Klassifizierung der wirtschaftlichen Tätigkeiten) bezeichneten Tätigkeitsbereiche in der Weise neu festgelegt [werden], dass sie nach Maßgabe des Stromverbrauchs degressiv sind“.
16
Die Leitlinien des Ministers für wirtschaftliche Entwicklung vom 24. Juli 2013 wurden zur Durchführung von Art. 39 Abs. 3 des Gesetzesdekrets Nr. 83/2012 und Art. 3 des genannten Ministerialerlasses aufgestellt. In diesen Leitlinien wird u. a. der Strom- und Gasbehörde (die zur Behörde für Strom, Gas und Wassersysteme geworden ist) aufgegeben, die zur Deckung der allgemeinen Kosten des Stromsystems bestimmten Beträge neu festzulegen und dabei die Gewährung der im genannten Art. 3 vorgesehenen Vergünstigungen auf energieverschlingende Betriebe (energieintensive Betriebe) des verarbeitenden Gewerbes zu beschränken.
17
Diese Leitlinien wurden durch drei Entscheidungen der Strom- und Gasbehörde vom Oktober 2013 umgesetzt, die die Gewährung dieser Vergünstigungen tatsächlich ausschließlich auf Betriebe des verarbeitenden Gewerbes beschränkt haben.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
18
Die Stiftung ist ein wissenschaftliches Institut zur Krankenhausunterbringung und Pflege, das u. a. im Bereich der Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen tätig ist. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts kann sie als „Betriebseinheit“ im Sinne von Art. 11 der Richtlinie 2003/96 eingestuft werden.
19
Im Jahr 2014 erhob die Stiftung beim Tribunale amministrativo regionale della Lombardia (Regionales Verwaltungsgericht Lombardei, Italien) Klage auf Aufhebung der Rechtsakte, mit denen die zuständigen Behörden ihr die Anwendung der Vergünstigungsregelung hinsichtlich der zur Deckung der allgemeinen Kosten des Stromsystems zu zahlenden Beträge verweigert hatten. Dieses Gericht hielt die Klage der Stiftung aus mit dem Zeitpunkt der Klageerhebung zusammenhängenden Gründen für unzulässig.
20
Der Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) stellte im Berufungsverfahren fest, dass die Klage der Stiftung zulässig sei. Er prüfte die Rechtssache, die u. a. das Unionsrecht betreffende Fragen aufwirft, daher inhaltlich.
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Da das vorlegende Gericht der Ansicht ist, dass es die Fragen in Bezug auf die Art. 107 und 108 AEUV, die sich im Ausgangsverfahren stellen, ohne Befragung des Gerichtshofs beantworten kann, betrifft sein Vorabentscheidungsersuchen insbesondere die Auslegung von Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2003/96.
22
Das vorlegende Gericht fragt sich, ob die Vergünstigungen im Zusammenhang mit den allgemeinen Kosten des Stromsystems in den Anwendungsbereich dieses Art. 17 Abs. 1 fallen, der Steuerermäßigungen betrifft. Es führt insoweit aus, dass diese Kosten dazu bestimmt sind, im Allgemeininteresse liegende Ziele zu finanzieren, wie die Förderung der erneuerbaren Energiequellen (Bestandteil A3) und der Energieeffizienz (Bestandteil UC7), die Kosten der nuklearen Sicherheit und die territorialen Ausgleichszahlungen (Bestandteile A2 und MCT), die besonderen Tarifregelungen für die nationale Eisenbahngesellschaft (Bestandteil A4), die Ausgleichszahlungen für kleine Unternehmen des Stromsektors (Bestandteil UC4), die Unterstützung für Forschung im Bereich des Stromsektors (Bestandteil A5) sowie die Deckung des „Strombonus“ (Bestandteil As) und der Vergünstigungen für energieintensive Betriebe (Bestandteil Ae). Nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts werden die allgemeinen Kosten des Stromsystems den Stromverbrauchern aufgebürdet und durch Ausweisung auf der Stromrechnung auf diese, einschließlich der Unternehmen, umgelegt.
23
Soweit die Vergünstigungen im Zusammenhang mit den allgemeinen Kosten des Stromsystems als Steuerermäßigungen anzusehen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2003/96 den Mitgliedstaaten, die nach dieser Bestimmung solche Ermäßigungen einführen, erlaubt, diese nur bestimmten energieverschlingenden Betrieben, die in von den nationalen Behörden bestimmten Bereichen tätig sind, zu gewähren, um im Allgemeininteresse liegende Ziele zu verfolgen.
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Unter diesen Umständen hat der Consiglio di Stato (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Fällt eine nationale Regelung (wie die im Ausgangsverfahren relevante), die zum einen eine Definition des Begriffs „energieintensiver Betrieb“ enthält, die mit der Definition in der Richtlinie 2003/96 im Einklang steht, und zum anderen dieser Art von Betrieben Anreize in Form von Zahlungen zur Deckung der allgemeinen Kosten des Stromsystems (und nicht Anreize im Zusammenhang mit der Besteuerung von Energieerzeugnissen und elektrischem Strom als solchen) vorbehält, in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie?
2. Stehen das Unionsrecht und insbesondere die Art. 11 und 17 der Richtlinie 2003/96 gesetzlichen und administrativen Regelungen (wie den im vorliegenden Beschluss beschriebenen Regelungen des italienischen Rechts) entgegen, die zum einen die Einführung eines Systems von Vergünstigungen im Zusammenhang mit dem Verbrauch von Energieerzeugnissen (Strom) durch „energieintensive“ Betriebe im Sinne des genannten Art. 17 vorsehen und zum anderen die Möglichkeit, in den Genuss dieser Vergünstigungen zu gelangen, energieintensiven Betrieben vorbehalten, die im verarbeitenden Gewerbe tätig sind, und in anderen produzierenden Gewerben tätige Betriebe davon ausschließen?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
25
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2003/96 dahin auszulegen ist, dass energieintensiven Betrieben im Sinne dieser Bestimmung durch das nationale Recht gewährte Vergünstigungen bei Beträgen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die zur Deckung der allgemeinen Kosten des Stromsystems zu zahlen sind, unter den Begriff „Steuerermäßigungen“ fallen.
26
Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, ob die zur Deckung der allgemeinen Kosten des Stromsystems zu zahlenden Beträge steuerlichen Charakter haben und insbesondere indirekte Steuern im Sinne von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2003/96 darstellen.
27
Zum einen unterwirft nämlich Art. 17 Abs. 1 dieser Richtlinie die Anwendung von Steuerermäßigungen für den Verbrauch von Energieerzeugnissen und von elektrischem Strom der Einhaltung der in dieser Richtlinie vorgeschriebenen gemeinschaftlichen Mindeststeuerbeträge. Zum anderen definiert Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2003/96 den Begriff „Steuerbetrag“ im Sinne dieser Richtlinie als die Gesamtheit der als indirekte Steuern erhobenen Abgaben.
28
Die italienische Regierung ist der Ansicht, dass die zur Deckung der allgemeinen Kosten des Stromsystems zu zahlenden Beträge nicht steuerlicher sondern tariflicher Natur seien, da sie über die Bestandteile des Stromtarifs gedeckt würden.
29
Die Qualifizierung einer Steuer, Abgabe oder Gebühr ist jedoch nach Unionsrecht vom Gerichtshof nach den objektiven Merkmalen der Steuer unabhängig von ihrer Qualifizierung im nationalen Recht vorzunehmen (vgl. Urteile vom 12. Dezember 2006, Test Claimants in the FII Group Litigation, C-446/04, EU:C:2006:774, Rn. 107, sowie vom 24. Juni 2010, P. Ferrero e C. und General Beverage Europe, C-338/08 und C-339/08, EU:C:2010:364, Rn. 25).
30
Somit sind die objektiven Merkmale der Beträge zu prüfen, die zur Deckung der allgemeinen Kosten des Stromsystems zu zahlen sind.
31
Erstens ist darauf hinzuweisen, dass die zur Deckung der allgemeinen Kosten des Stromsystems zu zahlenden Beträge, wie sich aus dem Vorlagebeschluss ergibt, durch das italienische Recht, insbesondere in Art. 39 Abs. 3 des Gesetzesdekrets Nr. 83/2012, vorgesehen sind.
32
Um die zur Deckung der allgemeinen Kosten des Stromsystems zu zahlenden Beträge als Steuern zu qualifizieren, muss außerdem eine Verpflichtung zur Zahlung dieser Beträge bestehen und der Zahlungspflichtige muss bei Nichteinhaltung dieser Verpflichtung von den zuständigen Behörden verfolgt werden, wobei bei einer indirekten Steuer die rechtlich zu diesen Zahlungen verpflichtete Person nicht notwendig der Endverbraucher ist, auf den diese Beträge abgewälzt wurden (vgl. entsprechend in Bezug auf die Mehrwertsteuer Urteil vom 14. Januar 2016, Kommission/Belgien, C-163/14, EU:C:2016:4, Rn. 44).
33
Dies scheint bei den zur Deckung der allgemeinen Kosten des Stromsystems zu zahlenden Beträgen der Fall zu sein. Im Licht der Erklärungen der italienischen Regierung scheint es nämlich so zu sein, dass die Einrichtungen, die die Dienste des Stromnetzes nutzen, rechtlich zur Zahlung dieser Beträge an die Ausgleichskasse für den Stromsektor verpflichtet sind. Es ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts, das Vorliegen einer solchen Verpflichtung sowie das Bestehen einer Kontrolle der Einhaltung dieser Verpflichtung durch die zuständigen Behörden zu bestätigen.
34
Zweitens sind die zur Deckung der allgemeinen Kosten des Stromsystems zu zahlenden Beträge, wie sich ebenfalls aus dem Vorlagebeschluss ergibt, nicht notwendig dazu bestimmt, die Kosten der Erzeugung und Verteilung des Stroms zu finanzieren, sondern dazu, im Allgemeininteresse liegende Ziele zu finanzieren, und zwar nach den auf der Grundlage der Leitlinien des Ministers für wirtschaftliche Entwicklung vom 24. Juli 2013 und der Entscheidungen der Strom- und Gasbehörde vom Oktober 2013 von den staatlichen Behörden im Rahmen des nationalen Stromsystems festgelegten Umlegungskriterien. Zu diesen Zielen gehören die Förderung der erneuerbaren Energiequellen und der Energieeffizienz, die nukleare Sicherheit und die territorialen Ausgleichszahlungen, die besonderen Tarifregelungen für die nationale Eisenbahngesellschaft, die Ausgleichszahlungen für kleine Unternehmen des Stromsektors, die Unterstützung für Forschung im Bereich des Stromsektors sowie die Deckung des „Strombonus“ und der Vergünstigungen für energieintensive Betriebe.
35
In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Umstand, dass die zur Deckung der allgemeinen Kosten des Stromsystems zu zahlenden Beträge nicht in den allgemeinen nationalen Haushalt fließen, sondern, wie die italienische Regierung ausführt, auf die Verwaltungskonten der Ausgleichskasse für den Stromsektor eingezahlt werden, um bestimmten Kategorien von Betreibern für bestimmte Verwendungen zugewiesen zu werden, als solcher nicht ausschließen kann, dass diese Beträge in den Bereich der Besteuerung fallen (vgl. entsprechend Urteil vom 15. April 2010, CIBA, C-96/08, EU:C:2010:185, Rn. 23).
36
Was drittens insbesondere indirekte Steuern angeht, ist darauf hinzuweisen, dass solche Steuern typischerweise auf den Endverbraucher der gelieferten Ware oder erbrachten Dienstleistung abgewälzt werden, indem sie in den Betrag einbezogen werden, der auf der an ihn gerichteten Rechnung ausgewiesen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Januar 2016, Kommission/Belgien, C-163/14, EU:C:2016:4, Rn. 39).
37
Das vorlegende Gericht führt insoweit aus, dass die allgemeinen Kosten des Stromsystems den Stromverbrauchern aufgebürdet und durch Ausweisung auf der Stromrechnung auf diese, einschließlich der Unternehmen, umgelegt würden. Dies wird in Art. 39 Abs. 3 des Gesetzesdekrets Nr. 83/2012 bestätigt, wonach die zur Deckung dieser Kosten zu zahlenden Beträge auf die Endverbraucher abgewälzt werden.
38
Außerdem scheinen diese Beträge mit dem Stromverbrauch zusammenzuhängen, denn nach Art. 3 Abs. 2 des Ministerialerlasses vom 5. April 2013 sind die allgemeinen Kosten des Stromsystems nach Maßgabe des Stromverbrauchs degressiv.
39
Aus diesen Gründen sind die zur Deckung dieser Kosten zu zahlenden Beträge nicht mit der Steuer vergleichbar, um die es in der Rechtssache ging, in der das Urteil vom 4. Juni 2015, Kernkraftwerke Lippe-Ems (C-5/14, EU:C:2015:354), ergangen ist, in dem der Gerichtshof ausgeführt hat, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass diese Steuer im Sinne von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2003/96 zum Zeitpunkt der Überführung in den freien Verkehr direkt oder indirekt anhand der Menge an elektrischem Strom berechnet wird. Der Gerichtshof hat diese Schlussfolgerung auf die Feststellungen in den Rn. 62 und 63 dieses Urteils gestützt, wonach diese Steuer u. a. auf die Menge des für die Stromerzeugung verwendeten Kernbrennstoffs berechnet wird und diese Menge nicht unmittelbar die Menge des erzeugten elektrischen Stroms bedingt, so dass diese Steuer erhoben werden könnte, ohne dass notwendigerweise überhaupt elektrischer Strom erzeugt und damit verbraucht wird.
40
Angesichts der vorstehenden Erwägungen und vorbehaltlich einer Überprüfung der diesen Erwägungen zugrunde liegenden tatsächlichen Umstände und nationalen Rechtsvorschriften durch das vorlegende Gericht ist festzustellen, dass die zur Deckung der allgemeinen Kosten des Stromsystems zu zahlenden Beträge indirekte Steuern im Sinne von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2003/96 darstellen.
41
Im Übrigen sind, wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt hat, insoweit, als die zur Deckung der allgemeinen Kosten des Stromsystems zu zahlenden Beträge indirekte Steuern darstellen, die durch das Unionsrecht für Erzeugnisse wie Strom – die, wie sich aus Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 ergibt, dem durch diese Richtlinie geschaffenen allgemeinen Verbrauchsteuersystem unterliegen – vorgeschriebenen Bedingungen zu beachten.
42
Insbesondere können auf Strom gemäß Art. 1 Abs. 2 dieser Richtlinie andere indirekte Steuern als die durch diese Richtlinie eingeführte Verbrauchsteuer erhoben werden, sofern diese Steuern zum einen eine oder mehrere besondere Zielsetzungen verfolgen und zum anderen in Bezug auf die Bestimmung der Bemessungsgrundlage, die Berechnung der Steuer, die Entstehung des Steueranspruchs und die steuerliche Überwachung mit den Vorschriften für die Verbrauchsteuer oder die Mehrwertsteuer vereinbar sind, wobei die Bestimmungen über die Steuerbefreiungen ausgenommen sind.
43
Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu überprüfen, ob die zur Deckung der allgemeinen Kosten des Stromsystems zu zahlenden Beträge diese Bedingungen erfüllen.
44
Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2003/96 dahin auszulegen ist, dass energieintensiven Betrieben im Sinne dieser Bestimmung durch das nationale Recht gewährte Vergünstigungen bei Beträgen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die zur Deckung der allgemeinen Kosten des Stromsystems zu zahlen sind, unter den Begriff „Steuerermäßigungen“ fallen, vorbehaltlich einer Überprüfung der tatsächlichen Umstände und nationalen Rechtsvorschriften, auf denen diese Antwort des Gerichtshofs beruht, durch das vorlegende Gericht.
Zur zweiten Frage
45
Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2003/96 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die Steuerermäßigungen für den Verbrauch von elektrischem Strom lediglich für diejenigen energieintensiven Betriebe im Sinne dieser Bestimmung vorsieht, die dem verarbeitenden Gewerbe angehören.
46
Hierzu ergibt sich aus dem Vorlagebeschluss, dass sogenannten „energieverschlingenden“ Betrieben nach der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung lediglich dann die Vergünstigungen hinsichtlich der zur Deckung der allgemeinen Kosten des Stromsystems zu zahlenden Beträge gewährt werden, wenn sie dem verarbeitenden Gewerbe angehören.
47
Gemäß Art. 17 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2003/96 können die Mitgliedstaaten für energieintensive Betriebe für den Verbrauch von elektrischem Strom Steuerermäßigungen anwenden, sofern die in dieser Richtlinie vorgeschriebenen Mindeststeuerbeträge der Union im Durchschnitt für alle Betriebe eingehalten werden.
48
In dieser Bestimmung wird ferner der Begriff „energieintensiver Betrieb“ definiert und im Rahmen dieser Definition klargestellt, dass die Mitgliedstaaten enger gefasste Begriffe anwenden können, einschließlich verkaufswert-, prozess- und sektorbezogener Definitionen.
49
Für die Zwecke dieser Bestimmung steht es den Mitgliedstaaten demnach frei, die Gewährung von Steuerermäßigungen für energieintensive Betriebe auf die Betriebe eines oder mehrerer Industriesektoren zu beschränken. Diese Bestimmung steht daher einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht entgegen, die Vergünstigungen hinsichtlich der zur Deckung der allgemeinen Kosten des Stromsystems zu zahlenden Beträge dem verarbeitenden Gewerbe vorbehält.
50
Diese Auslegung wird durch die Prüfung der mit der Richtlinie 2003/96 verfolgten Ziele untermauert. Aus den Erwägungsgründen 9 und 11 dieser Richtlinie ergibt sich nämlich, dass diese den Mitgliedstaaten einen gewissen Spielraum für die Festlegung und die Durchführung von auf den jeweiligen nationalen Kontext abgestimmten politischen Maßnahmen einräumen will und dass es Sache des einzelnen Mitgliedstaats ist, zu entscheiden, durch welche Maßnahmen er diese Richtlinie umsetzen will.
51
Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass der Umstand, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die die Gewährung einer Steuerermäßigung auf einen Industriesektor beschränkt, Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2003/96 nicht zuwiderläuft, wie sich aus Art. 26 Abs. 2 dieser Richtlinie ergibt, die Frage unberührt lässt, ob diese Regelung eine staatliche Beihilfe darstellt. Wie das vorlegende Gericht ausdrücklich erklärt hat, ist diese Frage jedoch nicht Gegenstand des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens.
52
Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2003/96 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die Steuerermäßigungen für den Verbrauch von elektrischem Strom lediglich für diejenigen energieintensiven Betriebe im Sinne dieser Bestimmung vorsieht, die dem verarbeitenden Gewerbe angehören.
Kosten
53
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.