EuGH: Bedingungen für die Erteilung einer Zulassung für die Eröffnung und den Betrieb eines Steuerlagers durch einen zugelassenen Lagerinhaber
– Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Grundsatz ne bis in idem – Verhältnismäßigkeit
EuGH, Urteil vom 14.9.2023 – C-820/21; „Vinal“ AD gegen Direktor na Agentsia „Mitnitsi“
ECLI:EU:C:2023:667
Volltext BB-Online BB-ONLINE BBL2023-2390-1
Tenor
Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118/EG des Rates vom 16. Dezember 2008 über das allgemeine Verbrauchsteuersystem und zur Aufhebung der Richtlinie 92/12/EWG in Verbindung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung, die bei einer Zuwiderhandlung gegen die Verbrauchsteuerregelung, die nach dieser Regelung als schwer gilt, kumulativ zu einem wegen desselben Sachverhalts bereits verhängten Bußgeld den Entzug der Zulassung für den Betrieb eines Steuerlagers vorsieht, dann nicht entgegensteht, wenn dieser Entzug u. a. in Anbetracht seiner Endgültigkeit keine Maßnahme darstellt, die außer Verhältnis zur Schwere der Zuwiderhandlung steht.
Sollten diese beiden Sanktionen strafrechtlichen Charakter haben, ist Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er einer solchen nationalen Regelung nicht entgegensteht, sofern folgende Voraussetzungen vorliegen:
– Die Möglichkeit einer Kumulierung dieser beiden Sanktionen ist gesetzlich vorgesehen;
– die nationale Regelung ermöglicht es nicht, denselben Sachverhalt aufgrund desselben Verstoßes oder zur Verfolgung desselben Ziels zu verfolgen und zu ahn-den, sondern sieht nur die Möglichkeit einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen aufgrund unterschiedlicher Regelungen vor;
– mit diesen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen werden komplementäre Ziele verfolgt, die gegebenenfalls unterschiedliche Aspekte desselben rechtswidrigen Verhaltens betreffen;
– es gibt klare und präzise Regeln, anhand deren sich vorhersehen lässt, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen in Frage kommt, und die eine Koordinierung zwischen den verschiedenen Behörden ermöglichen; die beiden Verfahren wurden in hinreichend koordinierter Weise und in einem engen zeitlichen Zusammenhang geführt; die gegebenenfalls im Rahmen des chronologisch zuerst geführten Verfahrens verhängte Sanktion wurde bei der Bestimmung der zweiten Sanktion berücksichtigt, so dass die Belastungen, die sich aus einer solchen Kumulierung für die Betroffenen ergeben, auf das zwingend Erforderliche beschränkt bleiben und die Gesamtheit der verhängten Sanktionen der Schwere der begangenen Straftaten entspricht.
Aus den Gründen
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Grundsatzes der Gleichbehandlung sowie von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118/EG des Rates vom 16. Dezember 2008 über das allgemeine Verbrauchsteuersystem und zur Aufhebung der Richtlinie 92/12/EWG (ABl. 2009, L 9, S. 12).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der „Vinal“ AD, einer zugelassenen Lagerinhaberin, und dem Direktor na Agentsia „Mitnitsi“ (Direktor der Zollagentur, Bulgarien) über eine Entscheidung, mit der dieser die Zulassung für den Betrieb eines Steuerlagers im Sinne der Richtlinie 2008/118 wegen einer schweren Zuwiderhandlung gegen die Verbrauchsteuerregelung, die auch zu einem Bußgeld führte, entzog.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2008/118
3 Die Erwägungsgründe 10, 15 und 16 der Richtlinie 2008/118 lauteten:
„(10) Da sich die Verfahren für die Erhebung und die Erstattung der [Verbrauchs]teuer auf das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts auswirken, sollten sie sich nach nicht diskriminierenden Kriterien richten. …
(15) Da in Herstellungs- und Lagerstätten Kontrollen durchgeführt werden müssen, um die Einziehung der Steuern sicherzustellen, sollte zur Erleichterung solcher Kontrollen ein System behördlich zugelassener Lager unterhalten werden.
(16) Es sollten auch die Verpflichtungen festgelegt werden, die zugelassene Lagerinhaber und Wirtschaftsbeteiligte zu erfüllen haben, denen keine Zulassung zum Betrieb eines Steuerlagers erteilt wurde.“
4 In Art. 4 der Richtlinie 2008/118 hieß es:
„Im Sinne dieser Richtlinie und ihrer Durchführungsbestimmungen gelten folgende Definitionen:
1. Ein ‚zugelassener Lagerinhaber‘ ist eine natürliche oder juristische Person, die von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats ermächtigt wurde, in Ausübung ihres Berufs im Rahmen eines Verfahrens der Steueraussetzung verbrauchsteuerpflichtige Waren in einem Steuerlager herzustellen, zu verarbeiten, zu lagern, zu empfangen oder zu versenden. …
11. Ein ‚Steuerlager‘ ist jeder Ort, an dem unter bestimmten von den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, in dem sich das Steuerlager befindet, festgelegten Voraussetzungen verbrauchsteuerpflichtige Waren im Rahmen eines Verfahrens der Steueraussetzung vom zugelassenen Lagerinhaber in Ausübung seines Berufs hergestellt, verarbeitet, gelagert, empfangen oder versandt werden.“
5 Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie sah vor, dass der Verbrauchsteueranspruch zum Zeitpunkt und im Mitgliedstaat der Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr entsteht.
6 In Art. 8 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie hieß es:
„Steuerschuldner eines entstandenen Verbrauchssteueranspruchs ist:
a) im Zusammenhang mit der Entnahme verbrauchsteuerpflichtiger Waren aus dem Verfahren der Steueraussetzung nach Artikel 7 Absatz 2 Buchstabe a:
i) der zugelassene Lagerinhaber, der registrierte Empfänger oder jede andere Person, die die verbrauchsteuerpflichtigen Waren aus dem Verfahren der Steueraussetzung entnimmt oder in deren Namen die Waren aus diesem Verfahren entnommen werden, und – im Falle der unrechtmäßigen Entnahme aus dem Steuerlager – jede Person, die an dieser Entnahme beteiligt war; …“
7 Art. 15 der Richtlinie lautete:
(1) Jeder Mitgliedstaat erlässt die Vorschriften für die Herstellung, die Verarbeitung und die Lagerung verbrauchsteuerpflichtiger Waren vorbehaltlich der Bestimmungen dieser Richtlinie.
(2) Die Herstellung, die Verarbeitung und die Lagerung verbrauchsteuerpflichtiger und noch nicht versteuerter Waren erfolgen in einem Steuerlager.“
8 In Art. 16 der Richtlinie 2008/118 hieß es:
„(1) Die Eröffnung und der Betrieb eines Steuerlagers durch einen zugelassenen Lagerinhaber bedürfen der Zulassung durch die zuständigen Behörden des Mitgliedstaates, in dem das Steuerlager belegen ist.
Die Zulassung unterliegt den Bedingungen, die die Behörden zur Vorbeugung von Steuerhinterziehung oder -missbrauch festlegen können.
(2) Der zugelassene Lagerinhaber ist verpflichtet:
a) erforderlichenfalls eine Sicherheit zur Abdeckung der mit der Herstellung, der Verarbeitung und der Lagerung der verbrauchsteuerpflichtigen Waren verbundenen Risiken zu leisten;
b) den von dem Mitgliedstaat, in dessen Gebiet sich das Steuerlager befindet, vorgeschriebenen Verpflichtungen nachzukommen;
c) eine nach Lagern getrennte Buchhaltung über die Bestände und Warenbewegungen verbrauchsteuerpflichtiger Waren zu führen;
d) alle in einem Verfahren der Steueraussetzung beförderten verbrauchsteuerpflichtigen Waren nach Beendigung der Beförderung in sein Steuerlager zu verbringen und in seinen Büchern zu erfassen, sofern Artikel 17 Absatz 2 keine Anwendung findet;
e) alle Maßnahmen zur Kontrolle oder zur amtlichen Bestandsaufnahme zu dulden. …“
9 Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie (EU) 2020/262 des Rates vom 19. Dezember 2019 zur Festlegung des allgemeinen Verbrauchsteuersystems (ABl. 2020, L 58, S. 4), mit der die Richtlinie 2008/118 mit Wirkung vom 13. Februar 2023 aufgehoben wurde, enthält Bestimmungen, die mit denen von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 übereinstimmen.
Empfehlung 2000/789/EG
10 Art. 2 Abs. 1 der Empfehlung 2000/789/EG der Kommission vom 29. November 2000 über Leitlinien für die Zulassung von Lagerinhabern gemäß Richtlinie 92/12/EWG des Rates in Bezug auf verbrauchsteuerpflichtige Waren (ABl. 2000, L 314, S. 29) lautet:
„Obwohl die Mitgliedstaaten bei der Erteilung der Zulassungen für die in Artikel 1 genannten Personen strenge Kriterien anlegen sollten, muss auch ein Ausgleich zwischen den Erfordernissen der Handelserleichterung und denen einer wirksamen Kontrolle hergestellt werden.“
11 In Art. 7 der Empfehlung heißt es:
„(1) Eine Zulassung sollte im Prinzip nur bei Vorliegen ernsthafter Gründe und nach sorgfältiger Prüfung der Verhältnisse des Lagerinhabers durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten für nichtig erklärt oder entzogen werden.
(2) Eine Zulassung kann z. B. in folgenden Fällen für nichtig erklärt oder entzogen werden:
– Nichterfüllung der mit der Zulassung verbundenen Pflichten;
– unzureichende Deckung der verlangten Sicherheitsleistung;
– wiederholter Verstoß gegen die geltenden Rechtsvorschriften;
– Verwicklung in Straftaten;
– Steuerumgehung und -hinterziehung.“
Bulgarisches Recht
12 Art. 3 Abs. 1 Nr. 1 des Zakon za aktsizite i danachnite skladove (Gesetz über Verbrauchsteuern und Steuerlager) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: ZADS) bestimmt, dass zugelassene Lagerinhaber und nach diesem Gesetz registrierte Personen Steuerpflichtige im Sinne dieses Gesetzes sind.
13 Art. 4 Nr. 18 ZADS lautet:
„‚Schwer‘ ist eine Zuwiderhandlung, für die ein bestandskräftiger Bußgeldbescheid vorliegt, mit dem eine finanzielle Sanktion von mehr als 15 000 [bulgarischen Lewa (BGN) (etwa 7 600 Euro] verhängt wird.“
14 Art. 47 Abs. 1 ZADS bestimmt:
„Zugelassene Lagerinhaber können Personen sein, die …
(5) keine schwere oder wiederholte Zuwiderhandlung im Sinne dieses Gesetzes begangen haben, hiervon ausgenommen sind die Fälle, in denen das Verwaltungsstrafverfahren mit einer Vereinbarung beendet wurde.“
15 Art. 53 Abs. 1 bis 4 ZADS sieht vor:
„(1) Die Zulassung für den Betrieb eines Steuerlagers erlischt: …
3. bei Entzug der Zulassung; …
(2) Die Zulassung für den Betrieb eines Steuerlagers wird entzogen, wenn
1. der zugelassene Steuerlagerinhaber die Voraussetzungen des Art. 47 nicht mehr erfüllt; …
(3) Die Zulassung wird durch Entscheidung des Direktors der Zollagentur entzogen, die ab ihrem Erlass vorläufig vollstreckbar ist, sofern das Gericht nichts anderes anordnet.
(4) Die Entscheidung nach Abs. 3 ist nach den Bestimmungen des Administrativnoprotsesualen kodeks [(Verwaltungsprozessordnung)] anfechtbar.“
16 Art. 107h Abs. 1 ZADS lautet:
„Vor Erlass des Bußgeldbescheids und spätestens 30 Tage nach Vorlage des Rechtsakts, mit dem eine Zuwiderhandlung im Sinne dieses Gesetzes festgestellt wird, können die Verwaltungsstrafbehörde und der Zuwiderhandelnde eine Vereinbarung schließen, mit der das Verwaltungsstrafverfahren beendet wird, es sei denn, die zur Last gelegte Handlung stellt eine Straftat dar.“
17 Art. 112 Abs. 1 ZADS bestimmt:
„Eine Person, die verbrauchsteuerpflichtig ist, aber keine Verbrauchsteuer entrichtet, wird mit einem Bußgeld in doppelter Höhe der nicht entrichteten Verbrauchsteuer belegt; das Bußgeld darf nicht niedriger als 500 BGN sein.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
18 Vinal ist eine Gesellschaft mit Sitz in Bulgarien. Sie verfügt über eine Zulassung für den Betrieb eines Steuerlagers, auf deren Grundlage sie verbrauchsteuerpflichtige alkoholische Waren herstellen, lagern, empfangen und versenden darf.
19 2017 wurde sie einer Steuerprüfung unterzogen.
20 Am 22. Dezember 2017 erließ die bulgarische Zollverwaltung einen Steuerprüfungsbescheid über 4 261,89 BGN (etwa 2 180 Euro) für den Zeitraum vom 1. Januar 2012 bis zum 3. Mai 2017. Er wurde nicht angefochten und am 5. Januar 2018 bestandskräftig.
21 Außerdem erließ die bulgarische Zollverwaltung für den Zeitraum vom 3. bis zum 10. Mai 2017 einen Bescheid, mit dem eine verwaltungsrechtliche Zuwiderhandlung dieser Gesellschaft gegen die Verpflichtung zur Zahlung der entstandenen Verbrauchsteuerschuld festgestellt wurde.
22 Sie verhängte daher am 24. Januar 2018 gemäß Art. 112 Abs. 1 ZADS gegen Vinal ein Bußgeld in doppelter Höhe der nicht entrichteten Verbrauchsteuer, d. h. in Höhe von 248 978 BGN (etwa 128 000 Euro).
23 Dieses Bußgeld wurde mit nunmehr rechtskräftigem Urteil vom 16. Januar 2020 bestätigt.
24 Aufgrund dieses rechtskräftigen Urteils entzog der Direktor der Zollagentur am 11. Februar 2020 Vinal die ihr erteilte Zulassung für den Betrieb eines Steuerlagers.
25 Dagegen klagte Vinal beim Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht Sofia, Bulgarien).
26 Diesem Gericht stellt sich die Frage, ob die einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht und insbesondere mit der Richtlinie 2008/118 vereinbar sind.
27 Vor diesem Hintergrund hat der Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht Sofia) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Wie ist Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 in dem Teil auszulegen, in dem vorgesehen ist, dass die Zulassung für die Eröffnung und den Betrieb eines Steuerlagers den Bedingungen unterliegt, die die Behörden zur Vorbeugung von Steuerhinterziehung oder -missbrauch festlegen können, und wie haben diese Bedingungen inhaltlich auszusehen, damit die Ziele der Vorbeugung von Steuerhinterziehung oder -missbrauch verwirklicht werden können?
2. Wie ist das Verbot der Diskriminierung im Sinne des zehnten Erwägungsgrundes der Richtlinie 2008/118 auszulegen?
3. Wie sind die angeführten Bestimmungen auszulegen und sind sie dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie jener von Art. 53 Abs. 1 Nr. 3 in Verbindung mit Art. 47 Abs. 1 Nr. 5 ZADS nicht entgegenstehen, wenn diese Regelung den zwingenden Entzug der Zulassung für die Zukunft, der fristlos und zeitlich unbegrenzt erfolgt, neben einer für dieselbe Tat bereits verhängten Sanktion vorsieht?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten und zur dritten Frage
28 Mit seiner ersten und seiner dritten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die bei einer Zuwiderhandlung gegen die Verbrauchsteuerregelung, die nach dieser Regelung als schwer gilt, kumulativ zu einem wegen desselben Sachverhalts bereits verhängten Bußgeld den Entzug der Zulassung für den Betrieb eines Steuerlagers vorsieht.
29 Gemäß Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 erlässt jeder Mitgliedstaat die Vorschriften für die Herstellung, die Verarbeitung und die Lagerung verbrauchsteuerpflichtiger Waren vorbehaltlich der Bestimmungen der Richtlinie. Nach Art. 15 Abs. 2 der Richtlinie erfolgen die Herstellung, die Verarbeitung und die Lagerung verbrauchsteuerpflichtiger und noch nicht versteuerter Waren in einem Steuerlager.
30 In Bezug auf die Regelung für die Zulassung eines solchen Steuerlagers stellt Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 in seinem ersten Unterabsatz klar, dass die Eröffnung und der Betrieb eines Steuerlagers durch einen zugelassenen Lagerinhaber der Zulassung durch die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats bedürfen, in dem das Steuerlager belegen ist, und in seinem zweiten Unterabsatz, dass diese Zulassung „den Bedingungen [unterliegt], die die Behörden zur Vorbeugung von Steuerhinterziehung oder -missbrauch festlegen können“.
31 Des Weiteren ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass im Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/118 die Vorbeugung von Steuerhinterziehung und -missbrauch generell ein gemeinsames Ziel sowohl des Unionsrechts als auch des Rechts der Mitgliedstaaten ist. Denn zum einen haben die Mitgliedstaaten ein legitimes Interesse daran, geeignete Maßnahmen zum Schutz ihrer finanziellen Interessen zu ergreifen, und zum anderen ist die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen ein mit dieser Richtlinie verfolgtes Ziel, wie die Erwägungsgründe 15 und 16 sowie Art. 16 dieser Richtlinie bestätigen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. Januar 2022, MONO, C-326/20, EU:C:2022:7, Rn. 28 und 32 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 23. März 2023, Dual Prod, C-412/21, EU:C:2023:234, Rn. 25).
32 Hier geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass Vinal das Bußgeld auferlegt und ihr die Zulassung für den Betrieb eines Steuerlagers entzogen wurde, weil sie eine Zuwiderhandlung gegen die Verbrauchsteuerregelung begangen hatte, die nach den nationalen Regelungen als schwer gilt. Das Verbot, eine solche Zuwiderhandlung zu begehen, entspricht naturgemäß einer der Bedingungen, die die Behörden festlegen können, um Steuerhinterziehung oder -missbrauch im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 vorzubeugen.
33 Ferner ergibt sich weder aus dem Wortlaut noch aus dem Zweck von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 noch aus den anderen Bestimmungen der Richtlinie, dass ein solches Sanktionssystem mit der Richtlinie unvereinbar wäre.
34 Allerdings ist es auch ständige Rechtsprechung, dass die Mitgliedstaaten in Ermangelung einer Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Union auf dem Gebiet der Sanktionen bei Nichtbeachtung der Voraussetzungen, die eine nach dem Unionsrecht geschaffene Regelung vorsieht, zwar die ihnen sachgerecht erscheinenden Sanktionen wählen können, bei der Ausübung ihrer Befugnisse aber das Unionsrecht und seine allgemeinen Grundsätze beachten müssen, zu denen u. a. der Grundsatz ne bis in idem, der in Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankert ist, und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gehören (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. Januar 2022, MONO, C-326/20, EU:C:2022:7, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 24. Februar 2022, Agenzia delle dogane e dei monopoli und Ministero dell’Economia e delle Finanze, C-452/20, EU:C:2022:111, Rn. 36).
35 Auch wenn das vorlegende Gericht seine Frage formal auf die Auslegung von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 beschränkt hat, hindert dies den Gerichtshof nicht daran, ihm alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die für die Entscheidung der bei ihm anhängigen Rechtssache von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob es bei seiner Fragestellung darauf Bezug genommen hat. Der Gerichtshof hat insoweit aus dem gesamten von dem nationalen Gericht vorgelegten Material, insbesondere aus der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Februar 2022, Agenzia delle dogane e dei monopoli und Ministero dell’Economia e delle Finanze, C-452/20, EU:C:2022:111, Rn. 19).
Zum Grundsatz ne bis in idem
36 Zur Anwendung von Art. 50 der Charta auf das Ausgangsverfahren ist darauf hinzuweisen, dass der Anwendungsbereich der Charta, was das Handeln der Mitgliedstaaten betrifft, in ihrem Art. 51 Abs. 1 definiert ist. Danach gilt sie für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union; diese Bestimmung bestätigt die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach der die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden (Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C-585/18, C-624/18 und C-625/18, EU:C:2019:982, Rn. 78 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
37 Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass mit den beiden im Ausgangsverfahren fraglichen Maßnahmen eine Zuwiderhandlung gegen nationale Vorschriften geahndet wird, die Teil der Verbrauchsteuerregelung sind, mit denen die Richtlinie 2008/118 umgesetzt wird.
38 Folglich führt ein Mitgliedstaat, wenn er solche Maßnahmen erlässt, diese Richtlinie und damit das Recht der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durch. Er muss daher die Bestimmungen der Charta beachten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. März 2023, Dual Prod, C-412/21, EU:C:2023:234, Rn. 26).
39 Art. 50 der Charta bestimmt, dass „[n]iemand … wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der [Europäischen] Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden [darf]“.
40 Der Grundsatz ne bis in idem, der in dieser Bestimmung Ausdruck findet, verbietet eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die strafrechtlicher Natur im Sinne dieses Artikels sind, gegenüber derselben Person wegen derselben Tat (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C-117/20, EU:C:2022:202, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).
41 Die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem setzt zweierlei voraus, nämlich zum einen, dass es eine frühere endgültige Entscheidung gibt (Voraussetzung „bis“), und zum anderen, dass bei der früheren Entscheidung und bei den späteren Verfolgungsmaßnahmen oder Entscheidungen auf denselben Sachverhalt abgestellt wird (Voraussetzung „idem“) (Urteile vom 22. März 2022, bpost, C-117/20, EU:C:2022:202, Rn. 28, und vom 23. März 2023, Dual Prod, C-412/21, EU:C:2023:234, Rn. 51).
42 Was die Voraussetzung „idem“ betrifft, so erfordert diese eine identische und nicht nur ähnliche materielle Tat. Die Identität der materiellen Tat ist als die Gesamtheit der konkreten Umstände zu verstehen, die sich aus Ereignissen ergeben, bei denen es sich im Wesentlichen um dieselben handelt, da dieselbe Person gehandelt hat und sie zeitlich sowie räumlich unlösbar miteinander verbunden sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. März 2022, bpost, C-117/20, EU:C:2022:202, Rn. 36 und 37).
43 Vorliegend geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die im Ausgangsverfahren fraglichen Maßnahmen gegenüber ein und derselben juristischen Person, nämlich Vinal, ergangen sind, und zwar wegen desselben Sachverhalts.
44 Was die Voraussetzung „bis“ anbelangt, ist es für die Annahme, dass eine gerichtliche Entscheidung über den einem zweiten Verfahren unterliegenden Sachverhalt endgültig entschieden hat, nicht nur erforderlich, dass diese Entscheidung rechtskräftig geworden ist, sondern auch, dass sie nach einer Prüfung in der Sache ergangen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. März 2022, bpost, C-117/20, EU:C:2022:202, Rn. 29).
45 Vorliegend scheint sich aus den Angaben des vorlegenden Gerichts zu ergeben, dass dies der Fall ist, da die Entscheidung über den Entzug der Zulassung für den Betrieb des Steuerlagers ergangen ist, nachdem die auf eine Prüfung in der Sache hin ergangene Entscheidung, mit der das Bußgeld verhängt wurde, rechtskräftig geworden war.
46 In diesem Kontext ist für die Feststellung der Anwendbarkeit von Art. 50 der Charta zu bestimmen, ob die im Ausgangsverfahren fraglichen Maßnahmen, nämlich die Verhängung des Bußgelds gemäß Art. 112 Abs. 1 ZADS und der Entzug der Zulassung für den Betrieb eines Steuerlagers nach Art. 53 Abs. 2 Nr. 1 in Verbindung mit Art. 47 ZADS, als „Sanktionen strafrechtlicher Natur“ im Sinne der Charta eingeordnet werden können.
47 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind für die Frage, ob Sanktionen für die Zwecke der Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem als strafrechtlich eingestuft werden können, drei Kriterien maßgebend, und zwar erstens die rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht, zweitens die Art der Zuwiderhandlung und drittens der Schweregrad der dem Betroffenen drohenden Sanktion (Urteile vom 23. März 2023, Dual Prod, C-412/21, EU:C:2023:234, Rn. 27, und vom 4. Mai 2023, MV – 98, C-97/21, EU:C:2023:371, Rn. 38).
48 Vorliegend geht in Bezug auf das erste Kriterium aus den Angaben des vorlegenden Gerichts hervor, dass die im Ausgangsverfahren fraglichen Maßnahmen nach bulgarischem Recht als Verwaltungssanktionen angesehen werden.
49 Die Anwendung von Art. 50 der Charta erstreckt sich jedoch unabhängig von der Einstufung strafrechtlicher Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen nach innerstaatlichem Recht auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die nach den beiden anderen in Rn. 47 des vorliegenden Urteils angeführten Kriterien strafrechtlicher Natur sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. März 2023, Dual Prod, C-412/21, EU:C:2023:234, Rn. 29, und vom 4. Mai 2023, MV – 98, C-97/21, EU:C:2023:371, Rn. 41).
50 Das zweite Kriterium, das sich auf die Art der Zuwiderhandlung bezieht, erfordert die Prüfung, ob mit der fraglichen Maßnahme eine repressive Zielsetzung verfolgt wird, ohne dass der bloße Umstand, dass mit ihr auch eine präventive Zielsetzung verfolgt wird, ihr ihre Einstufung als strafrechtliche Sanktion nehmen kann. Es liegt nämlich in der Natur strafrechtlicher Sanktionen, dass sie sowohl auf die Repression als auch auf die Prävention rechtswidriger Verhaltensweisen abzielen. Dagegen ist eine Maßnahme, die nur den durch die Zuwiderhandlung entstandenen Schaden ersetzen soll, nicht strafrechtlicher Natur (Urteile vom 22. Juni 2021, Latvijas Republikas Saeima [Strafpunkte], C-439/19, EU:C:2021:504, Rn. 89, vom 23. März 2023, Dual Prod, C-412/21, EU:C:2023:234, Rn. 30, und vom 4. Mai 2023, MV – 98, C-97/21, EU:C:2023:371, Rn. 42).
51 Vorliegend scheinen das Bußgeld und die Entscheidung, die Zulassung für den Betrieb eines Steuerlagers zu entziehen, beide Ziele sowohl der Abschreckung als auch der Repression von Zuwiderhandlungen gegen die Verbrauchsteuerregelung zu verfolgen, und sind nicht dazu bestimmt, den durch diese Zuwiderhandlungen verursachten Schaden zu ersetzen.
52 Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass die Entscheidung, die Zulassung für den Betrieb eines Steuerlagers zu entziehen, wie sie in Art. 53 Abs. 2 ZADS vorgesehen ist, speziell zu dem durch die Richtlinie 2008/118 eingeführten Verfahren der Beförderung verbrauchsteuerpflichtiger Waren unter Steueraussetzung gehören, in dem die zugelassenen Lagerinhaber eine zentrale Rolle spielen (vgl. entsprechend Urteil vom 2. Juni 2016, Kapnoviomichania Karelia, C-81/15, EU:C:2016:398, Rn. 31). Aus der Vorlageentscheidung geht nämlich hervor, dass eine solche Entscheidung nur auf Wirtschaftsteilnehmer Anwendung finden soll, die zugelassene Lagerinhaber für verbrauchsteuerpflichtige Waren im Sinne dieser Richtlinie sind, indem ihnen die sich aus einer solchen Zulassung ergebenden Vorteile genommen werden (vgl. entsprechend Urteil vom 23. März 2023, Dual Prod, C-412/21, EU:C:2023:234, Rn. 32).
53 Daher richtet sich eine Entscheidung, die Zulassung für den Betrieb eines Steuerlagers zu entziehen, nicht generell gegen die Allgemeinheit, sondern gegen eine bestimmte Kategorie von Adressaten, die, weil sie eine speziell durch das Unionsrecht geregelte Tätigkeit ausüben, verpflichtet sind, die Voraussetzungen für die Erteilung einer von den Mitgliedstaaten erteilten Zulassung zu erfüllen, die ihnen bestimmte Vorrechte verleiht. Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob Vinal durch eine solche Entscheidung von der Ausübung dieser Vorrechte ausgeschlossen wird, weil die zuständige Verwaltungsbehörde der Ansicht war, dass die Voraussetzungen für die Erteilung dieser Zulassung nicht mehr erfüllt sind, was dafür spräche, dass mit dieser Entscheidung keine repressive Zielsetzung verfolgt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. März 2023, Dual Prod, C-412/21, EU:C:2023:234, Rn. 33).
54 Dagegen geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten nicht hervor, dass das Vinal auferlegte Bußgeld nur gegen Wirtschaftsteilnehmer verhängt werden könnte, die zugelassene Lagerinhaber für verbrauchsteuerpflichtige Waren sind, so dass die vorstehenden Erwägungen in den Rn. 52 und 53 des vorliegenden Urteils nicht auf Vinal übertragbar wären.
55 Zum dritten Kriterium, dem Schweregrad der drohenden Sanktion, ist festzustellen, dass dieser Schweregrad nach Maßgabe der in den einschlägigen Bestimmungen vorgesehenen Höchststrafe beurteilt wird (Urteil vom 4. Mai 2023, MV – 98, C-97/21, EU:C:2023:371, Rn. 46).
56 Was vorliegend zum einen das Bußgeld betrifft, so zeugt der Umstand, dass es nicht weniger als 500 BGN (etwa 250 Euro) betragen darf, es systematisch der doppelten Höhe des nicht entrichteten Betrags entspricht und in der im Ausgangsverfahren fraglichen Regelung kein Höchstbetrag vorgesehen ist, so dass hier ein Bußgeld in Höhe von umgerechnet etwa 128 000 Euro verhängt wurde, vom schwerwiegenden Charakter dieser Sanktion (vgl. entsprechend Urteil vom 4. Mai 2023, MV – 98, C-97/21, EU:C:2023:371, Rn. 48), was für ihre Einstufung als strafrechtliche Sanktion ausreichen könnte.
57 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass bei einer Geldbuße in Höhe von 30 % des Betrags der geschuldeten Mehrwertsteuer, die neben dieser Steuer zu zahlen war, davon ausgegangen werden konnte, dass sie einen hohen Schweregrad aufweist, der geeignet ist, die Einschätzung zu stützen, dass eine solche Sanktion strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 50 der Charta ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. März 2018, Menci, C-524/15, EU:C:2018:197, Rn. 33).
58 Zum anderen hat der Entzug der Zulassung für den Betrieb eines Steuerlagers zwar nur zur Folge, dem betroffenen zugelassenen Lagerinhaber die mit dem Steuerlagerverfahren verbundenen Vorrechte zu entziehen, und hindert diesen nicht daran, weiterhin wirtschaftliche Tätigkeiten auszuüben, die keine solche Zulassung erfordern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. März 2023, Dual Prod, C-412/21, EU:C:2023:234, Rn. 37). Die Folgen eines solchen Entzugs bleiben für ihn aber insbesondere deshalb schwerwiegend, weil die Wirkungen dieser Maßnahme zeitlich nicht beschränkt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Mai 2023, MV – 98, C-97/21, EU:C:2023:371, Rn. 47).
59 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die beiden im Ausgangsverfahren fraglichen Maßnahmen strafrechtliche Sanktionen darstellen können, was jedoch vom vorlegenden Gericht auf der Grundlage der vorstehenden Ausführungen zu prüfen ist.
60 Ist dies der Fall, führt ihre Kumulierung daher zu einer Einschränkung des in Art. 50 der Charta garantierten Grundrechts.
61 Sollte das vorlegende Gericht nach Prüfung der oben genannten Voraussetzungen der Auffassung sein, dass die Kumulierung der beiden im Ausgangsverfahren fraglichen Maßnahmen das in Art. 50 der Charta verankerte Grundrecht einschränkt, obliegt es ihm daher, festzustellen, ob diese Einschränkung gleichwohl auf der Grundlage von Art. 52 Abs. 1 der Charta als gerechtfertigt angesehen werden könnte (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. März 2022, bpost, C-117/20, EU:C:2022:202, Rn. 40, und vom 23. März 2023, Dual Prod, C-412/21, EU:C:2023:234, Rn. 58 und 59).
62 Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 1 der Charta muss jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 2 der Charta dürfen Einschränkungen dieser Rechte und Freiheiten unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.
63 Vorliegend ist, was erstens die in Art. 52 Abs. 1 Satz 1 der Charta genannten Voraussetzungen betrifft, zum einen festzustellen, dass das Erfordernis, wonach die Möglichkeit der Kumulierung von Sanktionen gesetzlich vorgesehen sein muss, erfüllt erscheint, da das ZADS u. a. für den Fall einer als schwerwiegend angesehenen Zuwiderhandlung gegen die Verbrauchsteuerregelung ausdrücklich die kumulative Anwendung der beiden im Ausgangsverfahren fraglichen Maßnahmen vorsieht.
64 Zum anderen ergibt sich aus der Rechtsprechung außerdem, dass diese Möglichkeit, Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen zu kumulieren, den Wesensgehalt von Art. 50 der Charta nur wahrt, sofern die nationale Regelung es nicht ermöglicht, denselben Sachverhalt aufgrund desselben Verstoßes oder zur Verfolgung desselben Ziels zu verfolgen und zu ahnden, sondern nur die Möglichkeit einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen aufgrund unterschiedlicher Regelungen vorsieht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. März 2022, bpost, C-117/20, EU:C:2022:202, Rn. 43, und vom 23. März 2023, Dual Prod, C-412/21, EU:C:2023:234, Rn. 63).
65 Diese Voraussetzung scheint hier erfüllt zu sein, da die beiden im Ausgangsverfahren fraglichen Maßnahmen nicht denselben Anwendungsbereich haben. Denn der Entzug einer Betriebszulassung betrifft nur einige der Verstöße, für die ein Bußgeld verhängt wurde, und jede der Maßnahmen verfolgt ihre eigenen Ziele.
66 Was zweitens die in Art. 52 Abs. 1 Satz 2 der Charta genannten Voraussetzungen betrifft, darunter die, dass ein Sanktionssystem dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen entsprechen muss, geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass das im Ausgangsverfahren fragliche System tatsächlich einem solchen Ziel entspricht. Denn es soll nicht nur das ordnungsgemäße Funktionieren des besonderen Verfahrens der Steueraussetzung gewährleisten, das auf einem hohen Maß an Vertrauen zwischen der Verwaltung und den Wirtschaftsbeteiligten beruht, sondern auch ganz allgemein u. a. der Bekämpfung der Steuerhinterziehung dienen, was im Übrigen einem mit der Richtlinie 2008/118 verfolgten Ziel entspricht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Juni 2017, Kommission/Portugal, C-126/15, EU:C:2017:504, Rn. 59).
67 In Anbetracht der Bedeutung, die das Unionsrecht dieser dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung beimisst, kann eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur gerechtfertigt sein, wenn zur Erreichung des betreffenden Ziels mit diesen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen komplementäre Zwecke verfolgt werden, die gegebenenfalls verschiedene Aspekte desselben rechtswidrigen Verhaltens betreffen (vgl. entsprechend Urteile vom 20. März 2018, Menci, C-524/15, EU:C:2018:197, Rn. 44, vom 20. März 2018, Garlsson Real Estate u. a., C-537/16, EU:C:2018:193, Rn. 46, vom 20. März 2018, Di Puma und Zecca, C-596/16 und C-597/16, EU:C:2018:192, Rn. 42, und vom 22. März 2022, Nordzucker u. a., C-151/20, EU:C:2022:203, Rn. 52).
68 Dies ist bei der im Ausgangsverfahren fraglichen Regelung grundsätzlich der Fall. Es erscheint nämlich legitim, dass ein Mitgliedstaat zum einen von der Nichtzahlung der Verbrauchsteuern abschrecken und sie ahnden möchte, indem er die Verhängung eines ausreichend hohen Bußgelds vorsieht, und zum anderen von schweren Verstößen gegen die Regelungen dieses Systems abschrecken und sie ahnden möchte, indem er eine zusätzliche Sanktion verhängt, wie sie der Entzug der Betriebszulassung des zugelassenen Lagerinhabers, der diese Verstöße begangen hat, sein könnte (vgl. entsprechend Urteil vom 20. März 2018, Menci, C-524/15, EU:C:2018:197, Rn. 45). Wie sich u. a. aus den Erklärungen der bulgarischen Regierung ergibt, spiegelt diese zweite Maßnahme den Verlust des Vertrauens der Zollverwaltung in die Einhaltung der den Betrieb eines Steuerlagers im Sinne der Richtlinie 2008/118 regelnden Vorschriften und ihren Willen wider, der Wiederholungsgefahr vorzubeugen.
69 Zur Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ist schließlich festzustellen, dass nach diesem Grundsatz die in der nationalen Regelung vorgesehene Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen nicht die Grenzen dessen überschreiten darf, was zur Erreichung der mit dieser Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist; stehen mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl, ist die am wenigsten belastende zu wählen, und die durch sie bedingten Nachteile müssen in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen (Urteile vom 22. März 2022, bpost, C-117/20, EU:C:2022:202, Rn. 48, vom 23. März 2023, Dual Prod, C-412/21, EU:C:2023:234, Rn. 66, und vom 4. Mai 2023, MV – 98, C-97/21, EU:C:2023:371, Rn. 56).
70 Zum einen ist in Bezug auf die Angemessenheit einer solchen Kumulierung darauf hinzuweisen, dass eine Sanktion nur dann eine wirklich abschreckende Wirkung gewährleistet, wenn den Zuwiderhandelnden die wirtschaftlichen Vorteile aus Verstößen gegen die Verbrauchsteuerregelung wirksam entzogen werden und die Sanktionen so beschaffen sind, dass ein der Schwere des Verstoßes angemessenes Ergebnis erzielt werden kann, um wirksam von weiteren Verstößen dieser Art abzuschrecken (vgl. entsprechend Urteil vom 24. Februar 2022, Agenzia delle dogane e dei monopoli und Ministero dell’Economia e delle Finanze, C-452/20, EU:C:2022:111, Rn. 44).
71 Dies scheint bei einem System wie dem im Ausgangsverfahren fraglichen der Fall zu sein, das dem Betroffenen einen Betrag in doppelter Höhe der nicht entrichteten Verbrauchsteuer sowie die mit dem Steuerlager verbundenen Vorteile des Verfahrens der Steueraussetzung entzieht.
72 Des Weiteren ermöglicht ein solches System, die wirtschaftlichen Erwägungen, die zugelassene Lagerinhaber dazu veranlassen könnten, die Verbrauchsteuerregelung nicht einzuhalten, stark zu relativieren oder sogar hinfällig zu machen (vgl. entsprechend Urteil vom 24. Februar 2022, Agenzia delle dogane e dei monopoli und Ministero dell’Economia e delle Finanze, C-452/20, EU:C:2022:111, Rn. 45).
73 Damit scheint dieses System so gestaltet zu sein, dass es zum einen den wirtschaftlichen Vorteil aus dem Verstoß aufhebt und zum anderen die zugelassenen Lagerinhaber dazu anhält, die Verbrauchsteuerregelung zu beachten (vgl. entsprechend Urteil vom 24. Februar 2022, Agenzia delle dogane e dei monopoli und Ministero dell’Economia e delle Finanze, C-452/20, EU:C:2022:111, Rn. 46), aber auch die Wiederholungsgefahr begrenzt, die bei schweren Verstößen als größer angesehen werden kann.
74 Eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche scheint somit geeignet, das legitime Ziel der Bekämpfung von Steuerhinterziehungen und etwaigen Missbräuchen zu erreichen (vgl. entsprechend Urteil vom 24. Februar 2022, Agenzia delle dogane e dei monopoli und Ministero dell’Economia e delle Finanze, C-452/20, EU:C:2022:111, Rn. 47).
75 Zum anderen ist hinsichtlich der zwingenden Erforderlichkeit einer solchen Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen konkret zu prüfen, ob es klare und präzise Regeln gibt, anhand deren die Steuerpflichtigen vorhersehen können, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen in Frage kommt, und die eine Koordinierung zwischen den verschiedenen Behörden sicherstellen; weiter ist zu prüfen, ob die beiden Verfahren in hinreichend koordinierter Weise und in einem engen zeitlichen Zusammenhang geführt wurden und ob die gegebenenfalls im Rahmen des chronologisch zuerst geführten Verfahrens verhängte Sanktion bei der Bestimmung der zweiten Sanktion berücksichtigt wurde, so dass die Belastungen, die sich aus einer solchen Kumulierung für die Betroffenen ergeben, auf das zwingend Erforderliche beschränkt bleiben und die Gesamtheit der verhängten Sanktionen der Schwere der begangenen Straftaten entspricht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. März 2022, bpost, C-117/20, EU:C:2022:202, Rn. 51, und vom 23. März 2023, Dual Prod, C-412/21, EU:C:2023:234, Rn. 67).
76 Hinzuweisen ist ferner darauf, dass das Erfordernis, dass die Behörde die erste Sanktion bei der Bestimmung der zweiten Sanktion berücksichtigt, ausnahmslos für alle kumulativ verhängten Sanktionen gilt, also sowohl für die Kumulierung gleichartiger Sanktionen als auch für die Kumulierung verschiedenartiger Sanktionen, wie etwa die Kumulierung von Geldbußen und Sanktionen, mit denen das Recht zur Ausübung bestimmter beruflicher Tätigkeiten eingeschränkt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Mai 2022, BV, C-570/20, EU:C:2022:348, Rn. 50).
77 Hier scheint aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervorzugehen, dass die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung klar und deutlich bestimmt, unter welchen Umständen bei einem Verstoß gegen die Verbrauchsteuerregelung sowohl ein Bußgeld verhängt als auch die Zulassung für den Betrieb eines Steuerlagers entzogen werden kann; dies zu beurteilen ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts. Im Übrigen scheint sich aus den Akten nicht zu ergeben, dass diese beiden Maßnahmen von verschiedenen Behörden erlassen wurden, deren Koordinierung sicherzustellen wäre.
78 Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht allerdings auch hervor, dass die Zollverwaltung gesetzlich verpflichtet ist, die Zulassung für den Betrieb eines Steuerlagers zu entziehen, wenn, wie im vorliegenden Fall, gegen den zugelassenen Lagerinhaber eine endgültige Entscheidung ergangen ist, mit der ihm ein Bußgeld von mehr als 15 000 BGN (etwa 7 600 Euro) auferlegt wurde, wobei dieser Betrag, wie in Rn. 56 des vorliegenden Urteils ausgeführt, automatisch auf die doppelte Höhe der nicht entrichteten Verbrauchsteuer festgesetzt wird.
79 Daraus folgt vorbehaltlich einer Prüfung durch das vorlegende Gericht, dass eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche weder zu erlauben scheint, dass die Schwere der ersten Sanktion bei der Bestimmung der zweiten Sanktion berücksichtigt wird, noch, dass eine Behörde beurteilt, ob die Kumulierung dieser beiden Sanktionen in jedem Einzelfall auf das zwingend Erforderliche beschränkt ist.
80 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass Art. 50 der Charta, wenn das Bußgeld und die Entscheidung, die Zulassung für den Betrieb eines Steuerlagers zu entziehen, als strafrechtliche Sanktionen anzusehen sind, einer Anwendung der Entscheidung, mit der Vinal die Zulassung für den Betrieb ihres Steuerlagers entzogen wurde und deren Rechtmäßigkeit vor dem vorlegenden Gericht bestritten wird, entgegenstehen kann, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.
Zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
81 Selbst wenn das Bußgeld oder die Entscheidung, die Zulassung für den Betrieb eines Steuerlagers zu entziehen, für die Zwecke der Anwendung von Art. 50 der Charta keine strafrechtliche Sanktion darstellen sollte und dieser Artikel somit in keinem Fall der Kumulierung dieser beiden Maßnahmen entgegenstehen könnte, müsste diese Entscheidung über den Entzug, die Gegenstand des beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreits ist, noch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts wahren.
82 Dieser Grundsatz verpflichtet die Mitgliedstaaten, sich solcher Mittel zu bedienen, die es zwar erlauben, das vom innerstaatlichen Recht verfolgte Ziel wirksam zu erreichen, die aber nicht über das erforderliche Maß hinausgehen und die Ziele und Grundsätze des einschlägigen Unionsrechts möglichst wenig beeinträchtigen. Der Gerichtshof stellt insoweit in seiner Rechtsprechung klar, dass, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist und die dadurch bedingten Nachteile in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen müssen (Urteile vom 13. November 1990, Fedesa u. a., C-331/88, EU:C:1990:391, Rn. 13, und vom 23. März 2023, Dual Prod, C-412/21, EU:C:2023:234, Rn. 71).
83 Bei der Beurteilung insbesondere der Frage, ob eine Sanktion mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist, sind u. a. die Art und die Schwere des Verstoßes zu berücksichtigen, der mit dieser Sanktion geahndet werden soll (vgl. entsprechend Urteil vom 20. Juni 2013, Rodopi-M 91, C-259/12, EU:C:2013:414, Rn. 38).
84 Insoweit geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die Zollverwaltung die Zulassung für den Betrieb eines Steuerlagers entzieht, wenn der zugelassene Lagerinhaber die in der nationalen Regelung vorgesehenen Voraussetzungen für die Erteilung der Betriebszulassung nicht eingehalten hat, und dass dies u. a. dann der Fall ist, wenn dieser Lagerinhaber – wie hier – eine Zuwiderhandlung begangen hat, die nach nationalem Recht als „schwer“ eingestuft und bestandskräftig mit einem Bußgeld sanktioniert wurde.
85 Eine Zuwiderhandlung gegen die Verbrauchsteuerregelung wird gemäß Art. 4 Nr. 18 ZADS als „schwer“ eingestuft, wenn sie zu einem Bußgeld von mehr als 15 000 BGN (etwa 7 600 Euro) geführt hat.
86 Da gemäß Art. 112 Abs. 1 ZADS die im Ausgangsverfahren fragliche Geldbuße stets auf die doppelte Höhe der nicht entrichteten Verbrauchsteuer festgesetzt wird, scheint sich daraus zu ergeben, dass ein Verstoß gegen die Verbrauchsteuerregelung im nationalen Recht als „schwer“ gilt und damit automatisch zum Entzug der Betriebszulassung führt, wenn dieser Verstoß, der zu dem Bußgeld geführt hat, einen nicht entrichteten Verbrauchsteuerbetrag von mehr als 7 500 BGN (ca. 3 800 Euro) betrifft, was eine Steuerhinterziehung von gewisser Schwere kennzeichnet.
87 Allerdings sind auch die möglichen Auswirkungen einer Maßnahme wie der im Ausgangsverfahren fraglichen auf das legitime Recht des zugelassenen Lagerinhabers, eine wirtschaftliche Tätigkeit auszuüben, zu berücksichtigen (vgl. entsprechend Urteil vom 24. Februar 2022, Agenzia delle dogane e dei monopoli und Ministero dell’Economia e delle Finanze, C-452/20, EU:C:2022:111, Rn. 48).
88 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass, wie in Rn. 58 des vorliegenden Urteils ausgeführt, die Folgen, die der Entzug der Betriebszulassung für die wirtschaftlichen Tätigkeiten des zugelassenen Lagerinhabers hat, schwerwiegend erscheinen, weil ein solcher Entzug zeitlich nicht beschränkt ist.
89 Vor allem geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten auch hervor, dass die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung es dem Betroffenen nicht ermöglicht, zu einem späteren Zeitpunkt eine neue Betriebszulassung zu erhalten.
90 Die bulgarische Regierung macht insoweit geltend, dass dieses Verbot durch die Notwendigkeit gerechtfertigt sei, die Wiederholungsgefahr auszuschließen. Zwar erscheint es nicht ungerechtfertigt, dass einem zugelassenen Lagerinhaber, der beispielsweise an einer groß angelegten Steuerhinterziehung beteiligt war, die mit dem Steuerlager verbundenen Vorteile des Verfahrens der Steueraussetzung dauerhaft entzogen werden. Bei weniger schweren Verstößen ist dies jedoch nicht zwangsläufig der Fall.
91 Daraus folgt, dass es, auch wenn der Entzug der mit dem Steuerlager verbundenen Vorteile des Verfahrens der Steueraussetzung eine Maßnahme zu sein scheint, die in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere einer Zuwiderhandlung wie der in Art. 53 Abs. 2 Nr. 1 ZADS genannten steht, dennoch Sache des vorlegenden Gerichts ist, zu bestimmen, ob auch ein endgültiger Ausschluss von den Vorteilen eines solchen Verfahrens eine in Anbetracht der Schwere dieser Zuwiderhandlung verhältnismäßige Maßnahme ist.
92 Nach alledem ist auf die erste und die dritte Frage, die zusammen geprüft wurden, zu antworten, dass Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 in Verbindung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung, die bei einer Zuwiderhandlung gegen die Verbrauchsteuerregelung, die nach dieser Regelung als schwer gilt, kumulativ zu einem wegen desselben Sachverhalts bereits verhängten Bußgeld den Entzug der Zulassung für den Betrieb eines Steuerlagers vorsieht, dann nicht entgegensteht, wenn dieser Entzug u. a. in Anbetracht seiner Endgültigkeit keine Maßnahme darstellt, die außer Verhältnis zur Schwere der Zuwiderhandlung steht.
93 Des Weiteren ist in dem Fall, dass diese beiden Sanktionen strafrechtlichen Charakter haben, Art. 50 der Charta dahin auszulegen, dass er einer solchen nationalen Regelung nicht entgegensteht, sofern folgende Voraussetzungen vorliegen:
– Die Möglichkeit einer Kumulierung dieser beiden Sanktionen ist gesetzlich vorgesehen;
– die nationale Regelung ermöglicht es nicht, denselben Sachverhalt aufgrund desselben Verstoßes oder zur Verfolgung desselben Ziels zu verfolgen und zu ahnden, sondern sieht nur die Möglichkeit einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen aufgrund unterschiedlicher Regelungen vor;
– mit diesen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen werden komplementäre Ziele verfolgt, die gegebenenfalls unterschiedliche Aspekte desselben rechtswidrigen Verhaltens betreffen;
– es gibt klare und präzise Regeln, anhand deren sich vorhersehen lässt, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen in Frage kommt, und die eine Koordinierung zwischen den verschiedenen Behörden ermöglichen; die beiden Verfahren wurden in hinreichend koordinierter Weise und in einem engen zeitlichen Zusammenhang geführt; die gegebenenfalls im Rahmen des chronologisch zuerst geführten Verfahrens verhängte Sanktion wurde bei der Bestimmung der zweiten Sanktion berücksichtigt, so dass die Belastungen, die sich aus einer solchen Kumulierung für die Betroffenen ergeben, auf das zwingend Erforderliche beschränkt bleiben und die Gesamtheit der verhängten Sanktionen der Schwere der begangenen Straftaten entspricht.
Zur zweiten Frage
94 Mit seiner zweiten Frage ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof darum, den Grundsatz der Nichtdiskriminierung im Sinne des zehnten Erwägungsgrundes der Richtlinie 2008/118 auszulegen.
95 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass sich nach diesem Erwägungsgrund die Verfahren für die Erhebung und die Erstattung der Steuer, da sie sich auf das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts auswirken, nach nicht diskriminierenden Kriterien richten sollten.
96 Der Vorlageentscheidung und den dem Gerichtshof vorliegenden Akten lässt sich jedoch nicht entnehmen, dass der Ausgangsrechtsstreit die Modalitäten der Erhebung und Erstattung von Verbrauchsteuern betrifft.
97 Aus dieser Entscheidung und den Akten geht auch nicht hervor, dass die bulgarische Zollverwaltung Vinal anders behandelt hätte als andere Wirtschaftsbeteiligte in einer vergleichbaren Situation.
98 Das nationale Gericht muss in der Vorlageentscheidung selbst den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen des Ausgangsverfahrens darlegen und die erforderlichen Erläuterungen zu den Gründen für die Wahl der Vorschriften des Unionsrechts, um deren Auslegung es ersucht, sowie zu dem Zusammenhang geben, den es zwischen diesen Vorschriften und der auf den bei ihm anhängigen Rechtsstreit anzuwendenden nationalen Regelung herstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Juni 2020, C. F. [Steuerprüfung], C-430/19, EU:C:2020:429, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).
99 Folglich genügt die Vorlageentscheidung in Bezug auf die zweite Frage offensichtlich nicht den Anforderungen von Art. 94 Buchst. c der Verfahrensordnung des Gerichtshofs, so dass diese Frage als unzulässig zurückzuweisen ist.
Kosten
100 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.